Marcel Mauss (* 10. Mai 1872 in Épinal; † 10. Februar 1950 in Paris) war ein französischer Soziologe, Ethnologe und Religionswissenschaftler.

Biographie

Marcel Mauss stammte aus einer jüdischen Familie, die eine kleine Seidenstickermanufaktur in den Vogesen betrieb. Sein Vater war Gerson Mauss, seine Mutter die einer Rabbinerfamilie entstammende Rosine Mauss, geborene Durkheim. Vierzehn Jahre lang war sein Onkel Émile Durkheim sein Mentor. Obwohl religiös geprägt, praktizierte Mauss ab etwa 1890 wie sein Onkel die Religion kaum mehr.

Nach dem Schulbesuch am Lyzeum von Épinal studierte er ab 1890 an der Universität Bordeaux, wo sein Onkel Émile Durkheim lehrte. Besonders prägte ihn dessen bahnbrechender Kurs über Les origines de la Religion 1894/1895. 1895 wurde er Stipendiat an der École pratique des hautes études. 1876, im Todesjahr seines Vaters, lernte er Henri Hubert kennen, mit dem er in der Folgezeit eng zusammenarbeitete.

Mauss lehrte seit 1901 an der École pratique des hautes études im Fachbereich Religionswissenschaften die „Religionen unzivilisierter Völker“ (wobei er die Bezeichnung „unzivilisiert“ ablehnte). Zusammen mit Durkheim begründete er die Zeitschrift L’Année Sociologique und 1925, zusammen mit Paul Rivet (1876–1958) und Lucien Lévy-Bruhl, das Institut d’Ethnologie in Paris. 1931 erhielt er den Lehrstuhl für Soziologie am Collège de France; die Bewerbung dafür hatte er, zum Ärger seines Onkels, 1908 noch abgelehnt. 1940 musste er den Lehrstuhl wegen seiner jüdischen Herkunft räumen.

Politisch war Mauss eng mit der sozialistischen Partei Section française de l’Internationale ouvrière verbunden, gründete die Zeitschriften Mouvement Socialiste und L’Humanité und veröffentlichte entsprechende reformsozialistische Artikel. Sein politisches Vorbild war Jean Jaurès. 1934 heiratete er seine Sekretärin. Während der deutschen Besatzungszeit drängte man ihn aus seiner Position. Er selbst blieb zwar unbehelligt, aber engste Kollegen (wie zum Beispiel Maurice Halbwachs) wurden umgebracht.

Nach dem Krieg lebte er sozial isoliert, hinzu traten persönliche Probleme.

„Essai sur le don“ („Die Gabe“)

Anders als Durkheim war Mauss stark empirisch orientiert. Er versuchte, soziale Phänomene in ihrer Totalität zu sehen und zu verstehen. Der Austausch in archaischen Gesellschaften, den er in seinem Essai sur le don (zuerst 1923/24; deutsch unter dem Titel „Die Gabe“) darstellt, ist nach seiner Auffassung eine umfassende gesellschaftliche Tätigkeit. Sie stellt ein „soziales Totalphänomen“ dar, das gleichzeitig ökonomische, juristische, moralische, ästhetische, religiöse, mythologische und sozio-morphologische Dimensionen umfasst und weit über das Menschenbild des rationalen Homo oeconomicus und seiner Wirtschaft hinausgeht.

Im Mittelpunkt seiner Erforschung der Gabe steht die Frage, warum man Gaben erwidern muss. Die Antwort liegt darin begründet, dass sich in der Gabe Person und Sachen mischen, man beim Geben einen Teil von sich gibt und im Nehmen der Gabe insofern eine Fremderfahrung des Anderen macht. Mauss untersucht diese Vermischung von Person und Sache nicht nur in fremden Kulturen, sondern auch in unterschiedlichen europäischen Rechtssystemen (bei den Römern oder Germanen), um schließlich von den fremden und alten Kulturen auf die gegenwärtigen Gesellschaften überzuleiten und dort die moralischen Folgerungen aus den Praktiken der Gabe auszuloten.

Der Essai sur le don war die erste grundlegende vergleichende ethnographische Arbeit über die Gabe. Als systematische und vergleichende Studie analysiert sie das System des Geschenkaustauschs und deutet seine Funktion im Bezugsrahmen der gesellschaftlichen Ordnung. Mauss stellt das moralische, psycho-ökonomische Prinzip der Gabe in seinem Zwangscharakter und seiner Schuldverursachung heraus und bringt die Gabe mit dem zweideutigen englischen gift zusammen. Damit kann er die Prinzipien von Arbeit, Dienstleistung, Sozialstaat und Wohlfahrt analysieren. Mauss prägte hierfür den Begriff der „Schenkökonomie

Schüler und Freunde, Nachwirken

Charakteristisch für die Arbeitsweise von Mauss war die enge Zusammenarbeit mit Kollegen. Einer seiner Schüler war Jean Rouch. Freunde waren Robert Hertz, Henri Hubert, Maurice Leenhardt, Schüler waren unter anderem die Gründer des Collège de Sociologie, Michel Leiris und Roger Caillois, aber auch Louis Dumont, André Leroi-Gourhan, Claude Lévi-Strauss und Henri Lévy-Bruhl. Sein Buch Die Gabe übte darüber hinaus Wirkungen auf das Denken von Jacques Derrida, Paul Ricœur, Marcel Hénaff, Maurice Godelier, Marshall Sahlins, Pierre Bourdieu und Jean Baudrillard aus und ist ein Standardwerk für Anthropologen, Soziologen, Kulturwissenschaftler und Ethnologen.

In einem Interview im Jahr 1934 beklagte Mauss, dass es in Frankreich kaum Nachwuchs in seinem Fach gab:

„Die Generation von Männern, die heute 40 bis 60 Jahre alt wären, wurden vom Krieg dezimiert. Fast deren ganze Generation wurde ausgelöscht. Mehr als 150 der ca. 800 neu eingeschriebenen Studenten der L’École Normal wurden getötet. Von den acht Männern, die bei mir studierten, kamen nur zwei lebendig durch den Krieg. Ich war 41, als der Krieg vor 20 Jahren begann. Ich habe viereinhalb Jahre an der Front gedient, praktisch ohne Unterbrechung. Halbwachs, Fauconnet, wir alle waren im Krieg.“

Ausgehend von Untersuchungen über Magie und Opfer entwickelte Mauss eine eigene Religionstheorie. So glaubte er anhand von Studien über die „Eskimos“ (Inuit) ein allgemeingültiges Gesetz gefunden zu haben. In der Folgezeit hatten seine religionstheoretischen Bemühungen jedoch nur eine begrenzte Nachwirkung, besonders in Deutschland wurden sie kaum rezipiert. Dies lag zum einen daran, dass die Masse von Mauss’ Beiträgen in den L’Année Sociologique erschienen, die in Deutschland schwer verfügbar waren. Zum anderen lag es nicht zuletzt am Tod seiner besten Schüler und Freunde während und kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Er selbst bezeichnete dies als „Zusammenbruch“. Außerdem erlangte in der deutschen Religionswissenschaft Rudolf Otto mit seinem 1917 erschienenen Werk Das Heilige einen übermächtigen Einfluss. Auch gegen das Magiemodell von James George Frazer konnte sich der Religionsbegriff von Mauss nicht durchsetzen.

Werke

(Digitalisate bei Les classiques des sciences sociales)

Französische Ausgaben

  • Œuvres. Présentation par Victor Karady. Minuit, Paris 1968–1969:
    • I. La fonction sociale du sacré. Minuit, Paris 1968.
    • II. Représentations collectives et diversité des civilisations. Minuit, Paris 1968.
    • III. Cohésion sociale et division de la sociologie. Minuit, Paris 1969.
  • Sociologie et anthropologie. Recueil de textes, préface de Claude Lévi-Strauss. 1950.
  • Écrits politiques. Textes réunis et présentés par Marcel Fournier. Fayard, Paris 1997.
  • Essai sur le don. Forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques. In: L’Année Sociologique. Band 1, 1923/1924, S. 30–186 (Digitalisat).
  • Manuel d’ethnographie (= Petite Bibliothèque Payot. Band 102). 2. Auflage, Paris 1967.

Deutschsprachige Ausgaben

  • Die Gabe. Die Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Vorwort von Edward E. Evans-Pritchard. Übers. Eva Moldenhauer. Suhrkamp, Frankfurt 1968 u. ö., zuletzt 2011.
  • Soziologie und Anthropologie. 2 Bände. 2. Auflage. Frankfurt am Main 1999, ISBN 978-3-596-27431-4, ISBN 978-3-596-27432-1.
  • Schriften zur Religionssoziologie. Hrsg., Einl., Nachw. Stephan Moebius, Frithjof Nungesser, Christian Papilloud. Übers. Eva Moldenhauer. Suhrkamp, Berlin 2012, ISBN 978-3-518-29632-5.
  • Handbuch der Ethnographie. Übers. Lars Dinkel, Andreas Haarmann. Hrsg. Iris Därmann, Kirsten Mahlke. Fink, München 2013, ISBN 978-3-7705-4013-6.
  • Schriften zum Geld. Hrsg. Hans Peter Hahn, Mario Schmidt, Emmanuel Seitz. Übers. Eva Moldenhauer. Suhrkamp, Berlin 2015.
  • Die Nation oder der Sinn fürs Soziale (= Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie. Band 25). Übers. Christine Pries. Hrsg. Michael Fournier, Jean Terrier. Campus, Frankfurt 2017.

Literatur

  • Alain Caillé: Anthropologie der Gabe (= Theorie und Gesellschaft. Band 65). Aus dem Französischen übersetzt, herausgegeben und eingeleitet von Frank Adloff und Christian Papilloud. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3-593-38642-3.
  • Marcel Fournier: Marcel Mauss. Fayard, Paris 1994, ISBN 2-213-59317-5 (französisch).
  • Maurice Godelier: Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte. Aus dem Französischen übersetzt von Martin Pfeiffer. Beck, München 1999, ISBN 3-406-45267-1.
  • Marcel Hénaff: Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-518-58518-4.
  • René König: Marcel Mauss 1872–1950. In: René König: Emile Durkheim zur Diskussion. Jenseits von Dogmatismus und Skepsis. Hanser, München u. a. 1978, ISBN 3-446-12513-2, S. 257–292.
  • Hans Leo Krämer: Die Durkheimianer Marcel Mauss (1872–1950) und Maurice Halbwachs (1877–1945). In: Dirk Kaesler (Hrsg.): Klassiker der Soziologie. Band 1: Von Auguste Comte bis Norbert Elias. Original-Ausgabe, 2., durchgesehene Auflage. C. H. Beck, München 2000, ISBN 3-406-42088-5, S. 252–277.
  • Claude Lévi-Strauss: Einleitung in das Werk von Marcel Mauss. In: Marcel Mauss: Soziologie und Anthropologie. Band 1: Theorie der Magie. Soziale Morphologie. Aus dem Französischen von Henning Ritter. 2. Auflage. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-596-27431-1, S. 7–41.
  • Stephan Moebius, Christian Papilloud (Hrsg.): Gift – Marcel Mauss’ Kulturtheorie der Gabe. VS – Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2006, ISBN 3-531-14731-5.
  • Stephan Moebius: Marcel Mauss (= Klassiker der Wissenssoziologie. Band 2). UVK-Verlags-Gesellschaft, Konstanz 2006, ISBN 3-89669-546-0.
  • Heinz Mürmel: Das Magieverständnis von Marcel Mauss. 1985 (Leipzig, Universität, Dissertation A, 1985).
  • Heinz Mürmel: Marcel Mauss (1872–1950). In: Axel Michaels (Hrsg.): Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade. C. H. Beck, München 1997, ISBN 3-406-42813-4, S. 211–221, 391–392.

Einzelnachweise

  1. Marcel Mauss: Die Gabe. Die Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1990, S. 11 f.
  2. Stephen O. Murray, Marcel Mauss: A 1934 Interview with Marcel Mauss. In: American Ethnologist. Band 16, Nr. 1, 1989, ISSN 0094-0496, S. 163–168, JSTOR:644797.
  3. Heinz Mürmel: Marcel Mauss (1872–1950). In: Axel Michaels (Hrsg.): Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade. 3. Auflage, C. H. Beck, München 2010, S. 219, Anm. 25 („Vgl. Mauss par lui-méme, 211“).
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