Michael Sharpe (M.A., M.R.C.P., M.R.C.Psych.) ist ein britischer Mediziner und Professor für psychologische Medizin an der Oxford University. Zuvor war er bereits Professor an der University of Edinburgh. Seine Forschung konzentriert sich auf die Integration von körperlicher und psychischer Gesundheitsversorgung im Sinne einer ganzheitlichen Medizin.

Als einer der Hauptverantwortlichen der umstrittenen PACE-Studie geriet Sharpe in die Kritik, die Ergebnisse der Studie zugunsten eines Nutzens der kognitiven Verhaltenstherapie und der abgestuften Aktivierungstherapie (Graded Exercise Therapy) zur Behandlung des Chronischen Fatigue-Syndroms (ME/CFS) manipuliert bzw. verfälschend dargestellt und dadurch zur Etablierung kontraproduktiver Therapieverfahren für die Erkrankung beigetragen zu haben.

Karriere

Michael Sharpe studierte experimentelle Psychologie am Corpus Christi College Oxford und Medizin am Corpus Christi College Cambridge. Er wurde in Oxford in Psychiatrie ausgebildet und wurde klinischer Tutor in der Universitätsabteilung. Von 1997 bis 2011 war Sharpe Professor für psychologische Medizin an der University of Edinburgh. Seine Posten in Oxford trat er im September 2011 an.

Sharpe ist Fellow des Saint Cross College in Oxford und Honorarprofessor an der University of Edinburgh. Er ist Honorary Consultant in Psychological Medicine und Trust Lead in Psychological Medicine am Oxford University Hospitals NHS Foundation Trust und Berater des Oxford Health NHS Foundation Trust. Zudem ist Sharpe President-Elect der Academy of Consultation-Liaison Psychiatry und Vizepräsident der European Association of Psychosomatic Medicine. 2009 wurde er vom Royal College of Psychiatrists als „Psychiatric Academic of the Year“ und 2014 als „Psychiater of the Year“ ausgezeichnet. Für die Jahre 2022 bis 2023 wurde Sharpe zum Präsidenten der European Association of Psychosomatic Medicine gewählt.

Kontroverse um PACE-Studie

Sharpe war einer der drei Hauptverantwortlichen der PACE-Studie (PACE Trial) und Mitglied des PACE Trial Steering Committee und der PACE Trial Management Group. Die PACE-Studie war eine zwischen 2006 und 2011 durchgeführte klinische Studie, die den therapeutischen Nutzen von kognitiver Verhaltenstherapie, abgestufter Aktivierungstherapie (Graded Exercise Therapy) und adaptivem Pacing (Energiemanagement durch Schonung) mit fachärztlicher Versorgung bei Patienten mit Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS) verglich. Die Autoren der Studie kamen dabei zu dem Ergebnis, dass sowohl die kognitive Verhaltenstherapie als auch die abgestufte Aktivierungstherapie mäßig wirksame Behandlungen für ME/CFS seien und gaben an, dass beide Behandlungsformen bei über 20 Prozent der Betroffenen zu einer vollständigen Remission der Erkrankung führten.

Die Studie wurde nach Erscheinen in The Lancet sowohl von internationalen Experten als auch von Betroffenenverbänden kritisch rezipiert. Ein wesentlicher Kritikpunkt war dabei die Verwendung der von Sharpe selbst mitentwickelten Oxford-Kriterien zur Diagnose von ME/CFS, welche im Gegensatz zu den damals bereits veröffentlichten Kanadischen Konsenskriterien diagnostisch sehr weit gefasst waren und zentrale Merkmale des Krankheitsbildes (u. a. die Verschlechterung der Symptomatik nach körperlicher oder geistiger Anstrengung) außer Acht ließen. Aus diesem Grund sehen es Kritiker als wahrscheinlich an, dass ein Teil der zugelassenen Studienprobanden nicht von ME/CFS, sondern von anderen Krankheitsbildern betroffen war. Zudem wichen Sharpe und seine Mitautoren von den in ihrem Protokoll angegebenen Methoden im Verlauf der Studie ab, ohne diese Änderungen bzw. deren Auswirkungen auf die berichteten Ergebnisse hinreichend zu erläutern.

Aufgrund von Widersprüchen in der Analyse der PACE-Studie reichte der Psychologe James Coyne einen Antrag auf Zugang zu den Rohdaten der Studie ein, welcher vom King’s College London zurückgewiesen wurde. Auch weigerten sich Sharpe und seine Kollegen, die Daten der Studie für eine unabhängige erneute Analyse zu teilen, aufgrund von Bedenken, dass „Patienten durch die Veröffentlichung ihrer Daten persönlich identifiziert werden könnten“. Ein offener Brief an The Lancet, welcher von über 100 prominenten ME/CFS-Experten unterzeichnet wurde, forderte „eine unabhängige Neuanalyse der Studiendaten auf individueller Ebene mit angemessenen Sensitivitätsanalysen“. Die Herausgabe der anonymisierten Rohdaten wurde schließlich 2016 durch ein gerichtliches Urteil erwirkt; eine Berufung der Studienautoren wurde vom Gericht abgewiesen.

Unabhängige Reanalysen durch internationale Experten zeigten, dass die PACE-Autoren die ursprünglichen Maßstäbe zur Beurteilung des gesundheitlichen Fortschritts im Verlauf der Studie zugunsten eines Nutzens von kognitiver Verhaltenstherapie und gestufter Aktivierungstherapie stark gelockert hatten. Die manipulierten Beurteilungsmaßstäbe bewirkten dabei einen ausgedehnten Normalbereich, was zur Folge hatte, dass Patienten statistisch als genesen galten, obwohl sie sich gegen Ende der Studie in einem körperlichen Zustand befanden, der vergleichbar war mit Patienten, die unter kongestiver Herzinsuffizienz litten. Selbst eine objektive Zustandsverschlechterung wurde dadurch als Behandlungserfolg gewertet. Die tatsächlichen Erfolgsraten bei Anwendung von kognitiver Verhaltenstherapie und gestufter Aktivierungstherapie waren – anders als von Sharpe und seinen Mitautoren angegeben – statistisch nicht signifikant.

Trotz der umfassenden methodischen Mängel und der nachweislichen Manipulation wurde die PACE-Studie nie von The Lancet zurückgezogen. Die Studie beeinflusste weltweit offizielle Behandlungsempfehlungen zu ME/CFS. Vor allem einflussreiche Psychiatrieverbände in Großbritannien haben trotz umfassender gegenteiliger Belege daran festgehalten, dass ME/CFS keine organische Erkrankung, sondern eine funktionelle, somatoforme Störung sei, die mit Psychotherapie und Aktivierungsstrategien erfolgreich behandelt werden könne.

In einer Debatte des britischen Parlaments im Jahr 2018 wurde die PACE-Studie als „einer der größten Medizinskandale des 21. Jahrhunderts“ bezeichnet.

Sharpe selbst distanzierte sich nie von der Studie. In einem Interview von 2019 bezeichnete er die Kritik an seiner Arbeit als „Diskreditierungskampagne“ und gab an, dass er sich mittlerweile aus der ME/CFS-Forschung zurückgezogen habe.

Veröffentlichungen (Auswahl)

Einzelnachweise

  1. Michael Sharpe, Chris Naylor: Integration of mental and physical health care: from aspiration to practice. In: The Lancet. Psychiatry. Band 3, Nr. 4, April 2016, ISSN 2215-0374, S. 312–313, doi:10.1016/S2215-0366(16)00062-6, PMID 26965021.
  2. 1 2 3 Michael Sharpe. Abgerufen am 2. Februar 2023 (englisch).
  3. 1 2 P. D. White, K. A. Goldsmith, A. L. Johnson, L. Potts, R. Walwyn, J. C. DeCesare, H. L. Baber, M. Burgess, L. V. Clark, D. L. Cox, J. Bavinton, B. J. Angus, G. Murphy, M. Murphy, H. O’Dowd, D. Wilks, P. McCrone, T. Chalder, M. Sharpe: Comparison of adaptive pacing therapy, cognitive behaviour therapy, graded exercise therapy, and specialist medical care for chronic fatigue syndrome (PACE): a randomised trial. In: The Lancet. Band 377, Nr. 9768, 5. März 2011, ISSN 0140-6736, S. 823–836, doi:10.1016/S0140-6736(11)60096-2, PMID 21334061.
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  5. 1 2 TRIAL BY ERROR: The Troubling Case of the PACE Chronic Fatigue Syndrome Study. Abgerufen am 2. Februar 2023 (amerikanisches Englisch).
  6. 1 2 Carolyn E. Wilshire, Tom Kindlon: Response: Sharpe, Goldsmith and Chalder fail to restore confidence in the PACE trial findings. In: BMC psychology. Band 7, Nr. 1, 26. März 2019, ISSN 2050-7283, S. 19, doi:10.1186/s40359-019-0296-x, PMID 30914065, PMC 6434781 (freier Volltext).
  7. Professor Michael Sharpe is named as Psychiatrist of the Year — Department of Psychiatry. Abgerufen am 2. Februar 2023.
  8. Board and Administration – EAPM – EAPM. Abgerufen am 2. Februar 2023.
  9. Peter D. White, Michael C. Sharpe, Trudie Chalder, Julia C. DeCesare, Rebecca Walwyn, the PACE trial group: Protocol for the PACE trial: A randomised controlled trial of adaptive pacing, cognitive behaviour therapy, and graded exercise as supplements to standardised specialist medical care versus standardised specialist medical care alone for patients with the chronic fatigue syndrome/myalgic encephalomyelitis or encephalopathy. In: BMC Neurology. Band 7, Nr. 1, 8. März 2007, ISSN 1471-2377, S. 6, doi:10.1186/1471-2377-7-6, PMID 17397525, PMC 2147058 (freier Volltext).
  10. PD White, KA Goldsmith, AL Johnson, L Potts, R Walwyn, JC DeCesare, HL Baber, M Burgess, LV Clark, DL Cox, J Bavinton, BJ Angus, G Murphy, M Murphy, H O’Dowd, D Wilks, P McCrone, T Chalder, M Sharpe: Comparison of adaptive pacing therapy, cognitive behaviour therapy, graded exercise therapy, and specialist medical care for chronic fatigue syndrome (PACE): a randomised trial. In: The Lancet. Band 377, Nr. 9768, 5. März 2011, ISSN 0140-6736, S. 823–836, doi:10.1016/S0140-6736(11)60096-2 (sciencedirect.com [abgerufen am 2. Februar 2023]).
  11. 1 2 3 Chris Grigorovsky: The controversy surrounding the ‘unreliable’ ME PACE trial. In: Health Europa. 8. Mai 2018, abgerufen am 2. Februar 2023 (britisches Englisch).
  12. 1 2 3 4 5 Die PACE-Studie - ein Skandal. In: ME/CFS Freiburg. Abgerufen am 2. Februar 2023.
  13. Peter D White, Trudie Chalder, Michael Sharpe, Brian J Angus, Hannah L Baber, Jessica Bavinton, Mary Burgess, Lucy V Clark, Diane L Cox, Julia C DeCesare, Kimberley A Goldsmith, Anthony L Johnson, Paul McCrone, Gabrielle Murphy, Maurice Murphy, Hazel O’Dowd, Laura Potts, Rebacca Walwyn, David Wilks: Response to the editorial by Dr Geraghty. In: Journal of Health Psychology. Band 22, Nr. 9, August 2017, ISSN 1359-1053, S. 1113–1117, doi:10.1177/1359105316688953.
  14. 1 2 3 Trial By Error: Open Letter to The Lancet, version 3.0. Abgerufen am 2. Februar 2023 (amerikanisches Englisch).
  15. #MEAction: Tribunal orders release of PACE data. 16. August 2016, abgerufen am 2. Februar 2023 (amerikanisches Englisch).
  16. 1 2 3 4 Sibylle Reith: ME/CFS erkennen und verstehen: Was wir wissen - und was wir nicht wissen über das Chronische Erschöpfungs-Syndrom. tredition, 2018, ISBN 978-3-7469-0167-1 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche [abgerufen am 2. Februar 2023]).
  17. 1 2 Carolyn Wilshire, Tom Kindlon, Alem Matthees, Simon McGrath: Can patients with chronic fatigue syndrome really recover after graded exercise or cognitive behavioural therapy? A critical commentary and preliminary re-analysis of the PACE trial. In: Fatigue: Biomedicine, Health & Behavior. Band 5, Nr. 1, 2. Januar 2017, ISSN 2164-1846, S. 43–56, doi:10.1080/21641846.2017.1259724.
  18. Hope 4 ME & Fibro Northern Ireland: The PACE Trial: 'One of the Greatest Scandals of the 21st Century'. Abgerufen am 2. Februar 2023 (englisch).
  19. Sick and tired: Online activists are silencing us, scientists say. In: Reuters. (reuters.com [abgerufen am 3. Februar 2023]).
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