Das mythische oder mythologische Präsens (lat. praesens mythicum, analog zu praesens historicum) ist eine häufig gebrauchte Sprachform zur Verdeutlichung der Zeitlosigkeit des Beschriebenen sowie der aufgeklärten Distanz zum mythisch-religiösen Gegenstand.

Definition

Wenn ein Sprecher bzw. Autor klarmachen will, dass er oder sie das beschriebene oder geschilderte Vergangene oder Zukünftige nicht als ein übliches, wahres, faktisches Ereignis in der realen Geschichte oder als gesicherte, wissenschaftliche Prognose betrachtet, sondern als eine fiktive, „mythische“, religiöse Erzählung, die nicht in einer tatsächlichen Vergangenheit oder gesicherten Zukunft anzusiedeln ist, sondern allenfalls in einer imaginären, zeitlosen oder überzeitlichen Sinn- oder Bedeutungssphäre, dann wird das Praesens mythicum verwendet. Ein naiv Gläubiger, der daran glaubt, dass das, wovon er spricht, wahrhaftig in der Vergangenheit geschehen ist oder in der Zukunft geschehen wird, benutzt eine Vergangenheitsform oder eine Zukunftsform, denn er spricht aus seiner Sicht über ein faktisches, historisches Ereignis und eine verbürgte Zukunft, sei diese heilsgeschichtlich und/oder apokalyptisch. Ein aufgeklärter Mensch, insbesondere ein Wissenschaftler verwendet dagegen das mythische oder mythologische Präsens, um seine Distanz zum Gegenstand deutlich zu machen, der nicht als Faktum, sondern als „Narrativ“, als Glaubenshoffnung betrachtet wird. Eine mögliche dritte Kategorie von Sprechern mag, mit Absicht oder nicht, der Verwechselbarkeit von mythischer mit faktischer Vergangenheit Vorschub leisten, oder auch von versprochener, erwünschter mit gesetzlich notwendiger bzw. wissenschaftlich wahrscheinlicher Zukunft.

Beispiele

In folgendem Satz wird Sinn und Verwendung von Wort und Begriff „mythisches Präsens“ in wissenschaftlichem Kontext deutlich: „Und während Iwasiów einigermaßen unkonkret auf historische Figuren verweist, verwendet Kłosińska (...) nachgerade ein mythisches Präsens, das ihre Beschreibung aus der zeitlichen Ordnung hebt und zu einer allgemeingültigen Tatsache macht.“ In literarisch-journalistischem Rahmen werden Wort und Begriff hier gebraucht: '„Wo spielt <Für eine bessere Welt>, das chorische Epos des Dramatikers Roland Schimmelpfennig, der sich mit seinem neuen Stück ein weiteres Mal als realistischer Phantast erweist? Überall, nirgends: an den Orten und Nicht-Orten heutiger Kriege. Im globalen Utopia ... Den beunruhigenden Zauber macht die geographische und zeitliche Unbestimmbarkeit aus, die alles in ein mythisches Präsens aufhebt.“ (Neue Zürcher Zeitung)' In beiden Fällen geht es weniger um die Betonung aufgeklärt-wissenschaftlicher Distanz, sondern um die überzeitliche Gültigkeit bzw. Wahrheit einer Aussage, wie sie auch in Dichtung, Mythos oder in einem religiösen Diskurs enthalten sein kann. Beide Male wird aber die Abgrenzung von historischer Faktizität zum Ausdruck gebracht. Es folgen Zitate, die exemplarisch die Versprachlichung einer Glaubenshaltung im Unterschied zu skeptisch-kritischer Distanz zeigen.

Beispiele für die naiv-gläubige Einstellung und den entsprechenden Gebrauch der Vergangenheits- und der Zukunftsform, die Faktizität und Gewissheit suggeriert, finden sich etwa beim „Biblischen Hörfunk“, aber auch z. B. bei Wikipedia: „Der Herr Jesus Christus wurde von der Jungfrau Maria geboren. Die Jungfrauengeburt war absolut notwendig, damit er ohne Sünde geboren werden konnte. (...) Er ist der einzige sündlose Mensch, der je gelebt hat.“ „Satan wird für tausend Jahre gefesselt werden und Christus wird zum ersten Mal wiederkommen, um während dieses Millenniums gemeinsam mit den Heiligen zu herrschen. Erst danach wird die zweite Wiederkehr Christi stattfinden (...)“. Der folgende Text über die Kyffhäuser-Sage ist dagegen ein Beispiel für die aufgeklärt-kritische Haltung etwa eines vergleichenden Religionswissenschaftlers: „In unserem kulturellen Raum geht die Geschichte so: Jesus Christus wird als Sohn Gottes geboren und sühnt mit seinem Martyrium die Sünden aller Menschen. Er nimmt mit seinem Tod und seiner Auferstehung den Tod aller und ihre Auferstehung im jüngsten Gericht vorweg. Er kommt wieder, keine Frage. Auch der jüdische Tanach und das Alte Testament prophezeien einen Messias. (...)“

Eine weitere, beispielhafte Gegenüberstellung: Auf einer gläubigen Website heißt es: „Brüder im Islam, die Nachtreise wurde durch den Qur´ân, den Hadîth und die Übereinstimmung der Muslime bestätigt, sodass es Pflicht ist, daran zu glauben. Die Nachtreise des Propheten Muhammad ... fand im wachen Zustand sowie mit Körper und Seele statt; und dies ist für ALLÂH nicht schwierig, denn gewiss, Er ist allmächtig. ...“ In einem, aus wissenschaftlich-distanzierter Sicht geschriebenen Wikipedia-Artikel wird dagegen das Präsens mythicum gebraucht: „Die Himmelfahrt Mohammeds (...) ist eine Legende, die auf der Sure 17,1 des Korans beruht (...) Die Reise findet auf dem Reittier al-Burāq statt, der Aufstieg in den Himmel von Jerusalem aus erfolgt über die Leiter. (...) Der islamischen Tradition zufolge (...) soll der Erzengel Gabriel mit seinem Finger ein Loch in den Stein gebohrt haben, an dem al-Burāq festgebunden wurde. (...)“

Relevanz

Es gibt zahlreiche Texte über Mythen und religiöse Glaubensinhalte, auch z. B. auf Wikipedia, wo das mythische Präsens nicht verwendet wird, sondern eine Vergangenheits- oder eine Zukunftsform, die dem Leser Tatsächlichkeit und Wahrheit suggeriert, was, unkommentiert, zumindest in einem aufgeklärten, wissenschaftlichen Rahmen nicht angemessen scheint. Dies zu beachten, gibt Aufschluss über Grundhaltung und Absichten der Sprecherin oder des Autors zum Thema.

Siehe auch

Anmerkungen

  1. Seiler, Nina: Privatisierte Weiblichkeit, Genealogien und Einbettungsstrategien feministischer Kritik im postsozialistischen Polen, 2018, transcript Verlag, Bielefeld (anerkannte Promotion), S. 228
  2. https://www.theatertexte.de/nav/2/2/3/werk?verlag_id=s._fischer_verlag&wid=8477522&ebex3=3 und https://www.dtver.de/de/theater/index/authorproductlist/page/1/product_id/9495/author_id/1144; visum 29.9.2023
  3. https://bbn1.bbnradio.org/german/christliche-ressourcen/was-die-bibel-lehrt/was-die-bibel-lehrt-suende/; visum 29.9.2023
  4. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kyffhaeuser-sage-das-ist-das-letzte-kapitel-von-der-geschichte-der-welt-15166555.html; visum 29.9.2023
  5. https://www.islaminstuttgart.de/freitagsansprachen/106-die-nachtreise-al-%C2%B4isr%C3%A2%C2%B4; visum 29.9.2023
  6. Natürlich gibt es auch andere Formen, kritische Distanz zu verdeutlichen. In einem solchen Kontext ist dann selbstverständlich auch der Gebrauch einer Vergangenheits- oder Zukunftsform unproblematisch. Beispiele: "Die Legende berichtet, Mohammed sei von Mekka nach Jerusalem entrückt worden und vom Felsen auf dem Tempelberg in den Himmel aufgestiegen." (https://www.spiegel.de/geschichte/aufstieg-zum-himmel-a-5d7d0959-0002-0001-0000-000065469600; visum 30.9.2023) "Weltweit gedenken Muslime der nächtlichen Himmelsreise des Propheten Mohammed (...), wo er gemäß der Überlieferung Abraham, Moses und Jesus traf. (...) Der Mohammed-Biograph Ibn Ishaq schreibt, dass Mohammeds Himmelsreise mit Hilfe des geflügelten Pferdes Buraq möglich wurde (...). Auf seinem Rücken soll Mohammed nach Jerusalem geritten sein, wo er vom Tempelberg aus in den Himmel aufstieg. (https://www.br.de/interkulturell/interkultureller-kalender-himmelfahrt-des-propheten-mohammed-lailat-al-miraj100.html; visum 30.9.2023)
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