Als neubabylonisches Gesetzesfragment wird die keilschriftliche Inschrift einer Tontafel bezeichnet, die sich heute im British Museum (Inventarnummer BrM 82-7-14,988) befindet und vor allem bei der Erforschung altorientalischen Rechts eine Rolle spielt. Der akkadische Text ist auf beiden Seiten der Tontafel in je drei Kolumnen niedergeschrieben und besteht seinem Inhalt nach aus Rechtssätzen. Deshalb wird das neubabylonische Gesetzesfragment häufig als einziger neubabylonischer Vertreter zu den altorientalischen Rechtssammlungen gezählt, unterscheidet sich von den anderen Texten dieser Gattung, wie etwa dem Codex Ḫammurapi, jedoch in der Einleitungsformel der Rechtssätze. So werden im neubabylonischen Gesetzesfragment die Rechtssätze durch amēlu ša („Ein Mann, der …“) anstelle des sonst üblichen šumma … (wenn …) eingeleitet. Eine genaue Datierung des Textes ist nicht möglich, allerdings wird aufgrund paläographischer und linguistischer Beobachtungen davon ausgegangen, dass der Text spätestens im 6. Jahrhundert v. Chr. entstanden ist, wahrscheinlich als Schülerabschrift.

Inhaltlich beschäftigen sich die Rechtssätze mit Feldrechten (§§ 1–7) sowie mit dem Ehe- und Erbrecht (§§ 8–15). Zwischen diesen beiden Sinnabschnitten steht der Vermerk „dīnšu ul qati ul šaṭir“ (Seine Bestimmung ist nicht abgeschlossen und nicht geschrieben). Da beim Vergleich mit grob zeitgleichen Rechtsurkunden deutlich wird, dass der Text zumindest damals gültiges Recht wiedergibt, wurde der juristische Charakter des Textes kontrovers diskutiert. So hielt Mariano San Nicolò das neubabylonische Gesetzesfragment etwa für den Teil eines neubabylonischen Gesetzbuches, während andere es für den Entwurf eines solchen hielten. Inzwischen hat sich jedoch die Ansicht, dass es sich um einen Übungstext eines Schülers handelt, der eventuell einer heute nicht mehr bekannten Rechtssammlung entnommen wurde, weitgehend durchgesetzt.

Literatur

  • Joachim Oelsner: Erwägungen zu Aufbau, Charakter und Datierung des sog. „Neubabylonischen Gesetzesfragments“. In: Altorientalische Forschungen. Band 24, Nr. 2, 1997, S. 219–225.

Einzelnachweise

  1. Richard Haase: Einführung in das Studium keilschriftlicher Rechtsquellen. Harrassowitz, Wiesbaden 1965, S. 35.
  2. Marian San Nicolò: Beiträge zur Rechtsgeschichte im Bereiche der keilschriftlichen Rechtsquellen (= Instituttet for Sammenlignende Kulturforskning. Serie A: Forelesninger. 13). Aschehoug u. a., Oslo u. a. 1931, S. 85, datiert das Fragment in die Zeit Nabonids; Herbert Petschow: Das neubabylonische Gesetzesfragment. Bemerkungen zu Stellvertretung, Eviktion und Vertragsauflösung und Familien- und Erbrecht im neubabylonischen Recht. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Romanistische Abteilung. Band 76, 1959, S. 37–96, hier S. 40, und Burkhart Kienast: Die Altorientalischen Codices zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In: Hans-Joachim Gehrke: Rechtskodifizierung und soziale Normen im interkulturellen Vergleich (= ScriptOralia. 66 = ScriptOralia. Reihe A: Altertumswissenschaftliche Reihe. 15). Gunter Narr, Tübingen 1994, ISBN 3-8233-4556-7, S. 13–26, hier S. 20, sprechen allgemein vom 7. oder 6. Jahrhundert v. Chr.
  3. 1 2 Hans Neumann: Recht im Antiken Mesopotamien. In: Ulrich Manthe (Hrsg.): Die Rechtskulturen der Antike. Vom Alten Orient bis zum Römischen Reich. C. H. Beck, München 2003, ISBN 3-406-50915-0, S. 55–122, hier S. 101.
  4. Marian San Nicolò: Beiträge zur Rechtsgeschichte im Bereiche der keilschriftlichen Rechtsquellen (= Instituttet for Sammenlignende Kulturforskning. Serie A: Forelesninger. 13). Aschehoug u. a., Oslo u. a. 1931, S. 85.
  5. Bruno Meissner: Ein Entwurf zu einem neubabylonischen Gesetzbuch. In: Sitzungsberichte der Preussischen Akademie der Wissenschaften. Jahrgang 1918, Halbband 1, ZDB-ID 211663-7, S. 280–297, hier S. 281, 296-297.
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