Neuoffenbarung ist ein theologisch-apologetischer Sammelbegriff für neue, den abgeschlossenen Kanon religiöser Schriften ergänzende religiöse Kundgaben, Verlautbarungen oder Niederschriften, vorrangig innerhalb der Offenbarungsreligionen Christentum, Islam und Judentum.
Er ist weniger anwendbar auf östliche Religionen (Buddhismus, Hinduismus, Shintoismus, Daoismus etc.), da diese entweder keinen abgeschlossenen Kanon religiöser Schriften kennen bzw. eine fortwährende Offenbarung durch „Erleuchtete“ annehmen oder keinen persönlichen Gott – als Ursprung der Offenbarung – kennen.

Charakteristik

Neuoffenbarungen innerhalb der monotheistischen Religionen sind gekennzeichnet durch

  • eine Entstehungszeit innerhalb der letzten 500 Jahre
  • die schriftliche Fixierung
  • die Behauptung, dass die Botschaften direkt göttlichen Ursprungs sind und vom Empfänger nicht verändert wurden
  • das Entstehen einer neuen, eigenständigen religiösen Bewegung, basierend auf der neuen Offenbarung
  • die Auffassung der Botschaften durch die Anhänger als gottgewollte Ergänzung (oder auch gottgewollten Widerspruch) zur bestehenden, traditionellen Offenbarung
  • neue Lehraussagen, die vom orthodoxen Glauben fundamental abweichen
  • die teilweise oder vollständige Unabhängigkeit von der/den traditionellen Ursprungs-Offenbarungsreligionen

Der Empfang der Neuoffenbarung ist in den einzelnen Gruppen recht unterschiedlich beschrieben. Sie werden von auserwählten Menschen empfangen in Form von medialem Schreiben, gedanklich begrifflichen oder bildhaften Eingaben, als Vision, als vernommenes „inneres Wort“, als Audition, nacherzählt, nachgesprochen und dabei tontechnisch aufgezeichnet oder direkt niedergeschrieben. Im Falle der Mormonen wurde dem Empfänger der Ort offenbart, an dem er das Buch Mormon finden würde, samt dem Auftrag, dieses mit Hilfe eines durch einen Engel überlassenen Hilfsmittels ins Englische zu übersetzen. Manche Neuoffenbarungsgruppen sind „mediumistisch“, glauben also an den Kontakt mit einer angenommenen Geisterwelt.

Der Empfänger der Botschaft wird oft als Prophet, Medium oder Inkarnation Gottes angesehen.

Verwandte Begriffe

Privatoffenbarung
Neuoffenbarungen sind, wenngleich nicht immer ganz einfach, von Privatoffenbarungen abzugrenzen (Beispiele siehe dort). Auch bei diesen werden neue Botschaften empfangen und es können sich neue religiöse Gruppen bilden. Diese verlassen jedoch in ihren Lehraussagen nicht den Rahmen ihrer angestammten Religion bzw. Konfession, werden also auch von den Vertretern der traditionellen Religion weiterhin als christlich bzw. islamisch, jüdisch angesehen, wenngleich auch oft mit der abwertenden Bezeichnung Sekte.
Mystik und Prophetie
Parallelen zu Mystik oder Prophetie sind vorhanden, doch zeigen Neuoffenbarungen auch wesensspezifische Eigenschaften. Will ein Mystiker seine subjektiven Erlebnisse in einem außerhalb seiner üblichen Erfahrungswelt liegenden, höheren Existenzraum in die normale menschliche Begrifflichkeit zurückübersetzen, muss er häufig mangels Entsprechungen annähernde, bildhafte Vergleiche heranziehen. Der Empfänger einer Neuoffenbarung wird nicht derart aktiv, er bleibt stattdessen persönlich unbeteiligt, abwartend und registriert nur das Gedankengut, das angeblich direkt seiner Wahrnehmung zugeführt wurde. Nach ihrem eigenen Verständnis schließt dies eine persönliche Interpretation aus.

Beispiele

Neuoffenbarer und religiöse Gruppen

Offenbarer Religiöse Gruppen Hintergrund Größe
Joseph Smith
1805–1844
Mormonen (seit 1830)
Größte Konfession: Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage
Christentum ca. 14 Mio.
Mirza Husayn Ali Nuri, genannt Baha’u’llah
1817–1892
Bahai (seit 1863) Islam ca. 6 Mio.
Jakob Lorber
1800–1864
Lorberbewegung (seit 1924) Christentum unbekannt

Weitere Personen/Gruppen sind aufgelistet unter der Kategorie Neuoffenbarer.

Synkretistische Neuoffenbarungen

siehe auch: Synkretismus

Synkretistische Neuoffenbarungen verbinden Elemente östlicher Religionen und Weisheitslehren sowie von ethnischen Religionen und Esoterik mit klassischen Elementen christlicher, islamischer oder jüdischer Religion.

Liste neuoffenbarter Religionsgemeinschaften

Bewertung durch die traditionellen Religionen

Christentum

Nach der Lehre der meisten Kirchen gilt die göttliche Offenbarung mit der Entstehung des biblischen Kanons in der Zeit nach der Auferstehung Jesu Christi als abgeschlossen. Bezugnehmend auf den Hebräerbrief wird auch die Menschwerdung Gottes in seinem Sohn als unüberbietbare Offenbarung dem Menschen gegenüber definiert, so dass alles nachfolgend durch den Geist offenbarte nur auf Jesus Christus zielen und somit nichts grundlegend „Neues“ mehr darstellen kann.

Offenbarungen, die den Rahmen der christlichen Lehre nicht verlassen, werden als Privatoffenbarung bezeichnet. Privatoffenbarungen im katholischen Bereich können durch die Autorität der Kirche als solche anerkannt werden, gehen jedoch nicht in den Kanon ein. Die protestantischen Kirchen unterscheiden sich in ihrem Umgang mit Neuoffenbarern deutlich untereinander – während bei charismatischen Predigern vor allem in der Dritten Welt der Übergang zwischen Orthodoxie und Neuoffenbarung fließend verläuft, sehen die Kirchen der ersten Welt neuoffenbarerische Bestrebungen äußerst kritisch. Es werden spezielle apologetische Einrichtungen, wie z. B. in Deutschland die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen unterhalten.

Aufgrund des Einflusses der Aufklärung seit dem 18. Jahrhundert, verbunden mit dem Gedanken der Toleranz, sind Verfolgungen der Neuoffenbarer selten. Größere Verfolgungen hatte vor allem das Mormonentum in seiner Frühzeit in den Vereinigten Staaten zu erdulden. Der Gründer, Joseph Smith, kam durch Lynchjustiz zu Tode.

Islam

Für die Mehrheit der Islamischen Welt gilt die Offenbarung mit dem Koran als abgeschlossen. Mohammed gilt als letzter Prophet, als „Siegel der Propheten“.

Neuoffenbarerische Gruppen mit islamischen Hintergrund unterliegen noch heute in ihren Ursprungsländern, wie beispielsweise die Baha'i im Iran, sowie in vielen anderen islamischen Ländern einer Unterdrückung und Verfolgung durch den Staat und die etablierte Religion. Unter anderem werden Anhänger der Ahmadiyya, deren Begründer sich als der von Mohammed vorausgesagte Prophet und Messias sieht, in zahlreichen islamischen Ländern verfolgt. Die Ahmadiyya-Lehre wird unter den orthodoxen Gelehrten als Irrweg angesehen und die Anhänger dieser Lehre als Apostaten betrachtet.

Literatur

  • Patrick Diemling: Neuoffenbarungen. Religionswissenschaftliche Perspektiven auf Texte und Medien des 19. und 20. Jahrhunderts, Dissertation, Potsdam, Universitätsverlag 2012; ISBN 978-3-86956-209-4.
  • Georg Schmid, Georg Otto Schmid (Hrsg.): Kirchen, Sekten, Religionen. Religiöse Gemeinschaften, weltanschauliche Gruppierungen und Psycho-Organisationen im deutschen Sprachraum. Ein Handbuch. Begründet von Oswald Eggenberger. 7. überarbeitete und ergänzte Auflage. Theologischer Verlag Zürich, Zürich 2003, ISBN 3-290-17215-5, S. 207–234: Kapitel Neuoffenbarer.
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