Die Pariser Verurteilungen zahlreicher Thesen des Averroismus und Aristotelismus durch den Bischof von Paris Étienne Tempier am 10. Dezember 1270 und 7. März 1277 als Reaktion auf „das Eindringen der arabischen Philosophie an der Sorbonne“ markieren einen Höhepunkt in der Auseinandersetzung der augustinisch-monastischen Theologie mit diesen philosophischen Strömungen des Hochmittelalters.

Vorgeschichte an der Pariser Universität

Verurteilung von 1270

Étienne Tempier verurteilte am 10. Dezember 1270 dreizehn Thesen, ohne die Namen derer zu erwähnen, die diese Lehren verbreiteten.

Folgende sind die Irrlehren, die von Herrn Stephan, dem Bischof von Paris, zusammen mit allen, die sie wissentlich lehren oder behaupten sollten, verurteilt und exkommuniziert worden sind im Jahre des Herrn 1270, am Mittwoch nach dem Feste des hl. Nikolaus im Winter.
  1. Dass der Intellekt aller Menschen ein und derselbe ist an Zahl.
  2. Dass Folgendes falsch oder uneigentlich (gesagt) ist: Ein Mensch versteht.
  3. Dass der Wille des Menschen aus Zwang will oder wählt.
  4. Dass alles, was hier auf Erden geschieht, dem Zwang von Himmelskörpern unterliegt.
  5. Dass die Welt ewig ist.
  6. Dass es niemals einen ersten Menschen gegeben hat.
  7. Dass die Seele … vergehe, wenn der Körper vergeht.
  8. Dass die nach dem Tode abgetrennte Seele nicht unter körperlichem Feuer leidet.
  9. Dass der freie Wille ein passives, nicht aktives Vermögen ist und dass er durch Zwang von dem, was er erstrebt, bewegt wird.
  10. Dass Gott nicht Einzeldinge erkennt.
  11. Dass Gott nicht von sich anderes erkennt.
  12. Dass menschliche Handlungen nicht durch göttliche Vorsehung geleitet werden.
  13. Dass Gott nicht Unsterblichkeit oder Unvergänglichkeit einer sterblichen oder vergänglichen Sache geben kann.
Sie sagen nämlich, dies sei wahr gemäß der Philosophie, aber nicht gemäß dem katholischen Glauben, als ob diese zwei gegensätzliche Wahrheiten seien und als ob gegen die Wahrheit der Hl. Schrift Wahrheit in Sätzen verdammter Heiden sei, von denen geschrieben steht: ‚Ich will zunichte machen die Weisheit der Weisen’ (1 Kor 1, 19), weil die wahre Weisheit die falsche Weisheit zunichte macht. Dass doch solche (Philosophen) den Rat des Weisen beachten, der da spricht: ‚Nur wer imstande ist, antworte deinem Mitmenschen, wenn nicht, leg die Hand auf den Mund’ (Sir 5, 12). Damit also unvorsichtige Reden nicht Einfältige in Irrtum ziehen, verbieten wir nach gemeinsamem Rat von Doktoren der Hl. Schrift wie anderer kluger Männer solches und ähnliches und verurteilen es ganz und gar; wir exkommunizieren alle jene, die die genannten Irrlehren oder irgendeine von ihnen als Dogma verkünden oder sich irgendwie vornehmen, sie zu verteidigen oder zu behaupten, ebenso auch deren Hörer, wenn sie sich nicht binnen sieben Tagen dem Kanzler der Universität entdecken wollen (…).

Verurteilung von 1277

Am 23. November 1276 hatte der Inquisitor Simon du Val die ehemaligen Lehrer der Artistenfakultät zu Paris (Siger von Brabant, Gosvin von La Chapelle und Bernier von Nivelles) vor sein Tribunal geladen. Am 18. Januar 1277 wurde Tempier von Papst Johannes XXI. aufgefordert, Gerüchten über neuerliche Irrlehren an der Universität Paris nachzugehen. Tempier rief eine Theologenkommission zusammen, der auch Heinrich von Gent angehörte.

Am 7. März 1277 veröffentlichte Tempier einen Syllabus von 219 Thesen, die an der Artistenfakultät diskutiert wurden. Sie betreffen philosophische und theologische Themen wie den Wissenschaftscharakter der Theologie, die Erkennbarkeit Gottes, das göttliche Wissen, die Allmacht Gottes, den Willen Gottes, die Freiheit des menschlichen Willens, die Unsterblichkeit der Seele, die Eucharistie, die Morallehre, die Angelologie und die Kosmologie.

Prolog des Dekrets

Es wird die Lehre der 219 Thesen unter die Strafe der Exkommunikation gestellt und die doppelte Wahrheit verurteilt: Sie sagen nämlich, diese Irrlehren seien wahr im Sinne der Philosophie, aber nicht im Sinne des katholischen Glaubens, als gebe es zwei gleichsam entgegengesetzte Wahrheiten.

Außerdem werden ein dreibändiges Werk De amore über die höfische Liebe, ein Buch über Geomantie sowie Schriften über Nekromantie, Gebräuche von Zauberern, Teufelsanbetungen und seelengefährdende Beschwörungen verboten.

Anpassungen nach 1277

  • Die beiden Verurteilungen von 1270 und 1277 wurden mit derjenigen Verurteilung des Pariser Bischofs Wilhelm von Auvergne von 1241 sowie derjenigen des Erzbischofs von Canterbury Robert Kilwardby von 1277 zu der Sammlung „Collectio errorum in Anglia et Parisius condemnatorum“ zusammengefasst.
  • Unter den 219 Thesen sind auch einige Lehrstücke des Thomas von Aquin. Um dessen Verurteilung zu verhindern, stellte Gottfried von Fontaines 1296 im Rahmen einer Quaestio quodlibetalis die Frage, ob der Nachfolger Tempiers eine Sünde begehe, wenn er dessen Syllabus aufgrund seiner Mängel nicht korrigiere. Nach der Heiligsprechung von Thomas von Aquin 1323 korrigierte der Pariser Bischof Etienne Bourret 1325 die Irrtumsliste.

Auswirkungen

  • Doppelte Wahrheit: Der Verurteilungstext von 1277 überliefert, was per kirchlichem Dekret nicht gedacht werden sollte. Die Philosophie befreite sich in Folge zunehmend, unter anderem mit Wilhelm von Ockham, vom Einfluss der Theologie.
  • Der französische Physiker und Wissenschaftshistoriker Pierre Duhem betrachtete die Verurteilungen als Geburtsdatum der modernen Wissenschaft, weil die aristotelische Physik mit ihrem Horror vacui zurückgewiesen und damit Raum für die moderne Naturwissenschaft geschaffen wurde.
  • Die Verurteilungen in Paris wurden vom Philosophiehistoriker Steenberghen als „wahrer Angelpunkt der Geistesgeschichte dieser Epoche“ und von Gilson als epochales „landmark“ (Grenzzeichen) bezeichnet.

Literatur

Anmerkungen

  1. Gotthard Strohmaier: Avicenna. Beck, München 1999, ISBN 3-406-41946-1, S. 145 f.
  2. 1 2 Peter Grabher: Die Pariser Verurteilung von 1277. Kontext und Bedeutung des Konflikts um den radikalen Aristotelismus (Memento des Originals vom 14. April 2010 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.. Diplomarbeit, Wien 2005. Seite 74
  3. Peter Grabher: Die Pariser Verurteilung von 1277 auf Seite 76
  4. Peter Grabher: Die Pariser Verurteilung von 1277 auf Seite 83: Die 219 Thesen des Pariser Syllabus
  5. Ne igitur incauta locutio simplices pertrahat in errorem, nos, tam doctorum sacrae scripturae, quam aliorum prudentium virorum communicato consilio districte talia et similia fieri prohibemus, et ea totaliter condempnamus, excommunicantes omnes illos qui dictos errores vel aliquem ex illis dogmatizaverint, aut deffendere seu sustinere praesumpserint quoquomodo, necnon et auditores, nisi infra VII dies nobis vel cancellario Parisiensi duxerint revelandum, nichilominus processuri contra eos pro qualitate culpae ad poenas alias, prout ius dictaverit, infligendas.
  6. Dicunt enim ea esse vera secundum philosophiam, sed non secundum fidem catholicam, quasi sint duae contrariae veritates
  7. Librum etiam „De amore“ sive „De Deo amoris“ qui sic incipit: „cogit me multum, etc, et sic terminatur: cave igitur, Galtere, amoris exercere mandata, etc“; vergleiche dazu De amore in der Online-Bibliothek Bibliotheca Augustana und: W. Maurice Sprague: Andreas Capellanus. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 26, Bautz, Nordhausen 2006, ISBN 3-88309-354-8, Sp. 31–42.
  8. item librum geomantiae qui sic incipit: Aestimaverunt Indi, etc. et sic terminatur: ratiocinare ergo super eum, et invenies, etc
  9. item libros, rotulos seu quaternos nigromanticos aut continentes experimenta sortilegiorum, invocationes demonum, sive coniurationes in periculum animarum
  10. Peter Grabher: Die Pariser Verurteilung von 1277 auf Seite 97
  11. Peter Grabher: Die Pariser Verurteilung von 1277 auf Seite 86
  12. Steenberghen, zitiert nach Josef Pieper: Scholastik. dtv, München 1978, S. 116
  13. Gilson: History of Christian Philosophy in the Middle Ages. 1955, zitiert nach Josef Pieper: Scholastik. dtv, München 1978, S. 116
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