Mit Pharmakos (φαρμακός pharmakós) wurde im antiken Griechenland ein menschliches Opfer bezeichnet, das für Reinigungsrituale vorgesehen war.

Quellenlage und Begriff

Die Bezeichnung pharmakós für das Menschenopfer, das im ganzen griechischen Raum einheitliche Merkmale aufweist, ist bereits bei einigen Autoren des 6. bis 4. vorchristlichen Jahrhunderts belegt, darunter Hipponax aus Kolophon, Aristophanes, Lysias und Demosthenes. Ihre Äußerungen geben zwar nur indirekt Aufschluss über das Ritual, doch ihre Verwendung des Ausdrucks und Anspielungen auf bestimmte Handlungen scheinen eine lebendige und gemeinverständliche Begrifflichkeit vorauszusetzen. Mehrere spätere Autoren wie Kallimachos, Strabon und Plutarch liefern direkte Beschreibungen des Rituals, die mit denen in lateinischen Quellen – Vergil (Aeneis III.57), Ovid und Petronius – übereinstimmen. Durch spätere Grammatiker, Lexikographen und Scholiasten (Servius, Suda-Lexikon, Johannes Tzetzes und andere) sind auch einige Ursprungslegenden bekannt.

Unklar ist, ob das Wort phármakon die geschlechtsneutrale Form von pharmakós ist. Der Terminus phármakon wurde von den Griechen sowohl in der Bedeutung von „Gift“ als auch in der Bedeutung von „Heilmittel“ verwendet. Einige spätere Quellen wie zum Beispiel die Suda und Herodian verwenden auch das Wort katharma (κάθαρμα, „Abfall“, „[unbrauchbare] Reste des Opfers“) mit der gleichen Bedeutung wie pharmakós. Ein häufiges Synonym für pharmakós war perípsema (περίψημα, „Unrat“, „Dreck“).

In der griechischen Übersetzung des Alten Testaments der Septuaginta und im Neuen Testament wird das Wort pharmakós (manchmal phármakos) mit der Bedeutung von „Magier“ verwendet.

Vorkommen des Rituals

Von diesem Ritual wird für viele griechische Städte und Kolonien des Mittelmeerraums berichtet. Es wurde ausgeführt, um die Stadt zu läutern, wenn Seuchen, Hungersnot, Krieg oder sonstige Krisen und Gefahren befürchtet wurden oder eingetreten waren. In manchen Städten, wie Abdera, sei die Opferung jährlich an einem bestimmten Tag durchgeführt worden. Für Athen und andere Städte Ioniens ist eine Verbindung mit den Thargelion-Feiern vermutet worden. Im Allgemeinen wird aber angenommen, dass die Opferung des pharmakós – zumindest in ihrer ursprünglichen Form – nicht Teil des offiziellen religiösen Kalenders war.

In allen Städten sei als pharmakós ein Mann (einige Quellen sprechen für Athen von zwei Männern oder von einem Mann und einer Frau) aus den Armen, Sklaven oder Fremden ausgewählt oder – wie in Abdera – gekauft worden. Für den Sprung von den Klippen von Leukas wurde einer der zum Tode verurteilten Gefangenen ausgewählt. Der pharmakós sei entweder wegen seiner besonderen Hässlichkeit – so in Kolophon – oder zufällig ausgewählt und auf Kosten der Stadt reichlich beköstigt worden – in Marseille ein Jahr lang. Für die Opferung sei der Mann mit pflanzlichen Ornamenten behangen, in einer Prozession oder Verfolgung durch die Stadt geführt bzw. gejagt, mit Ruten gepeitscht, mit Schmährufen beschimpft und von den Stadtbewohnern unter Verwünschungen aus der Stadt geführt worden. In Abdera, in Athen und in anderen ionischen Städten sei der Mann anschließend mit Steinen beworfen und verjagt oder gesteinigt worden. In Marseille und Leukas sei er von einer Felsklippe ins Meer gestürzt worden. In Kolophon wurde das Opfer wahrscheinlich verbrannt und die Asche ins Meer gestreut.

Ein pharmakós-Ritual war wahrscheinlich auch die in Rhodos jährlich vollstreckte Hinrichtung eines Verurteilten. Porphyrios berichtet, dass der Verurteilte während der Kronia-Feierlichkeiten über ein bestimmtes Tor aus der Stadt geführt wurde und dass man ihm Wein zu trinken gab, bevor man ihn tötete. Porphyrios zufolge war diese Hinrichtung ursprünglich das jährliche Menschenopfer für Kronos.

Alle Quellen berichten von der Teilnahme aller Stadtbewohner an der Opferung, auch dort, wo dies – wie in Athen – unwahrscheinlich scheint.

Einige Autoren betonen, dass viele Quellen von einer Aussendung und nicht von einer Tötung des pharmakós sprechen und dass das Ritual keine Tötung eines Menschen beinhaltet habe. Dagegen sehen andere das Hauptmerkmal des pharmakós-Rituals in der einmütigen Ausübung der Gewalt seitens der Stadtgemeinschaft. Sie weisen auch darauf hin, dass in den Berichten die Tötung oft absichtlich verschleiert wird. Jedenfalls ist davon auszugehen, dass das Verjagen eines bereits schwer verletzten Menschen in unbewohntes Gebiet auf seinen Tod hinausläuft, zumal seine Aufnahme durch andere Gemeinschaften äußerst unwahrscheinlich erscheint.

Die Opferung von pharmakós genannten Opfern wurde bis in die letzten vorchristlichen Jahrhunderte in ritualisierter Form praktiziert.

Anthropologische Forschungsansätze

Louis-Jules Gernet hat darauf hingewiesen, dass Merkmale des pharmakós auch bei einigen mythologischen Personen zu finden sind: So bei Dolon, der in der Ilias als „dreckig“ und schnell beim Laufen und von Euripides als „armer Teufel“ beschrieben wird, und bei Thersites. Basierend auf einem Attribut – estolisménos, gerüstet, bewaffnet, geschmückt – mit dem im Suda-Lexikon der pharmakós beschrieben wird, hat Gernet auch die Vermutung, der pharmakós könnte eine Maske gewesen sein, aufgestellt. Er selbst weist aber darauf hin, dass weitere Anhaltspunkte für diese Vermutung nicht auszumachen sind.

Henri Jeanmaire hat hervorgehoben, dass die Dokumente, in denen die opferkultischen Praktiken des pharmakós und des Menschenopfers im Allgemeinen direkt erwähnt werden, hauptsächlich von frühchristlichen Autoren stammen, die die heidnischen Kultformen damit verurteilen wollten. Diese Zeugnisse berufen sich aber auf lokalgeschichtliche Werke von griechischen Philosophen und deren Zuverlässigkeit könne nicht angezweifelt werden.

Jean-Pierre Vernant hat in seiner Analyse des König Ödipus in der Figur des pharmakós das Motiv der Königsopferung erkannt, wie es auch in der Opferung des Narrenkönigs vorkommt. Der Narrenkönig habe alle Merkmale des Königs – nur umgekehrt: er verkörpert die Krisenzeit des Karnevals, in dem alle gesellschaftlichen Werte umgedreht erscheinen, und die kathartische Wiederherstellung der Ordnung durch seine feierliche Tötung.

Die Cambridge Ritualists haben das pharmakós-Ritual mit dem Tod- und Wiederentstehungsmotiv des Wechsels der Jahreszeiten in Verbindung gebracht.

Walter Burkert hält die Erklärungsversuche nach dem Muster der Cambridge Ritualists für Spekulationen, die einen „ebenso einfachen wie erschreckenden Charakter dieses Dramas“ verdunkeln. Er hebt den kollektiven Charakter der Opferung hervor und bringt dieselbe in Verbindung mit anderen Nachrichten über mythisierte, nicht ritualisierte oder gar politische Formen des Menschenopfers oder der Ausstoßung, die in den antiken Quellen in großer Menge vorliegen.

René Girard hat die pharmakós-Rituale in der Aufstellung des Rahmens seiner Theorie des Sündenbocks extensiv thematisiert.

Literatur

  • Walter Burkert: Griechische Religion der klassischen und archaischen Epoche (= Die Religionen der Menschheit. Band 15). W. Kohlhammer, Stuttgart 1977.
  • Louis-Jules Gernet, J.-P. Vernant (Hg.): Anthropologie de la Grèce Antique. Flammarion, Paris 1999
  • René Girard: Das Heilige und die Gewalt. Fischer, Frankfurt a. M. 1994
  • René Girard: Das Ende der Gewalt. Herder, Freiburg 1983
  • René Girard: Ausstossung und Verfolgung. Fischer, Frankfurt a. M. 1992
  • Irene Huber: Rituale der Seuchen- und Schadensabwehr im vorderen Orient und Griechenland. Franz Steiner Verlag, Stuttgart, 2005
  • Dennis D. Hughes: Human Sacrifice in Ancient Greece. Routledge, London/New York 1991
  • Henri Jeanmaire: Dionysos. Histoire du culte de Bacchus. Payot, Paris 1951
  • Jean-Pierre Vernant: Ambiguïté et renversement; Sur la structure énigmatique d'OEdipe-Roi, in: J.-P. Vernant / P. Vidal Naquet, Mythe et tragédie en Grèce ancienne. Éd. La Découverte, Paris 2004.

Anmerkungen

  1. Weitere Quellen und genauere Angaben bieten Burkert S. 139–141, Huber S. 115–126 und Hughes S. 139–164.
  2. Burkert S. 140: Der Ruf: „Werde du unser Unrat (perípsema)“ begleitete die Opferung an Poseidon eines Jünglings an den Klippen von Leukas.
  3. De abstinentia 2.53, nach Hughes S. 123.
  4. Hughes S. 139ff u. 189. Hughes verweist auf Widersprüche in den älteren Texten und auf mangelnde Quellenangaben in den späteren Lexikographen und Scholiasten. Er vertritt die Auffassung, dass die Historizität jeglicher Form von Menschenopfer für die griechische Antike nicht positiv zu beweisen sei. Zur gleichen Folgerung kommt Huber (2005).
  5. So Burkert S. 141.
  6. So berichtet beispielsweise Strabon, dass man in Leukas das hinuntergestürzte Opfer wieder aufzufrischen versuchte; siehe Burkert S. 141.
  7. Burkert S. 140.
  8. Für Burkert wie auch für J.-P. Vernant ist die Institution des ostrakismòs, des „Scherbengerichts“, die demokratische Rationalisierung einer dem Menschenopfer ähnlichen Tradition.
  9. Die mimetische Theorie von René Girard.
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