Als Mauerschützenprozesse werden Gerichtsverfahren wegen der tödlichen Schüsse an der Berliner Mauer und des Schießbefehls während der deutschen Teilung (1961 bis 1989) bezeichnet. In den von 1991 bis 2004 vor Landgerichten in Berlin, Neuruppin, Potsdam, Schweinfurt und Schwerin geführten Verfahren waren sowohl ausführende Personen als auch politisch und militärisch Verantwortliche des DDR-Regimes angeklagt.

Legitimation

Die Verfahren gegen die Mauerschützen konnten durchgeführt werden, weil in den Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (BGH) festgestellt wurde, dass Tötungen von Flüchtlingen auch in der DDR strafbar waren. Der BGH erklärte den Rechtfertigungsgrund des Grenzgesetzes der DDR zwar prinzipiell für gültig, aber nur in einer menschenrechtsfreundlichen Auslegung, indem der BGH der Verfassung der DDR den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entnahm. Im Verfahren wegen des Todes von Manfred Weylandt 1994 präzisierte der Bundesgerichtshof, dass die gezielte Tötung von unbewaffneten Flüchtlingen „wegen offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und völkerrechtlich geschützte Menschenrechte“ auch in der DDR Unrecht war und ergänzte in der Politbüro-Entscheidung, falls das Grenzgesetz der DDR einer menschenrechtsfreundlichen Auslegung nicht zugänglich wäre, könnte es den Schusswaffengebrauch an der deutsch-deutschen Grenze erst recht nicht rechtfertigen. Durch diese Renaissance der Radbruchschen Formel wurden mögliche Rechtfertigungsgründe des DDR-Rechts verworfen. Die Verurteilungen hoher DDR-Funktionäre erfolgte als „Täter hinter dem Täter.“ Das Bundesverfassungsgericht sah 1995 in Urteilen keinen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot, ebenso wenig 2001 der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Ein Sonderfall waren die Schüsse auf fahnenflüchtige Soldaten und flüchtige Strafgefangene, da dieses auch in der Bundesrepublik strafbar war. In der juristischen Literatur wurden die Verfahren auf Grund der Rückwirkung überwiegend kritisch gesehen. In der Politik sprach die PDS von der Fortsetzung des Kalten Krieges, Michail Gorbatschow von Hexenjagd, während CDU und SPD die Urteile befürworteten. In Brandenburg löste 2009 die Berufung Volkmar Schöneburgs zum Justizminister eine heftige Auseinandersetzung aus, da er in einem Aufsatz 2002 die Rechtmäßigkeit der Mauerschützenprozesse verneinte.

Verfahren

Die Verfahren basierten wesentlich auf Unterlagen, die von der Zentralen Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter seit ihrer Gründung 1961 gesammelt worden waren.

Insgesamt kam es in Berlin und Potsdam zu 112 Verfahren gegen 246 Personen, die sich als Schützen oder Tatbeteiligte vor Gericht verantworten mussten. Etwa die Hälfte der Angeklagten wurde freigesprochen. 132 Angeklagte wurden wegen ihrer Taten oder Tatbeteiligungen zu Freiheits- oder Bewährungsstrafen verurteilt. Darunter waren 10 Mitglieder der SED-Führung, 42 führende Militärs und 80 ehemalige Grenzsoldaten. Dazu kamen 19 Verfahren mit 31 Angeklagten in Neuruppin, die für 19 Todesschützen mit Bewährungsstrafen endeten. Für den Mord an Walter Kittel wurde der Todesschütze mit der längsten Freiheitsstrafe von 10 Jahren belegt. Der Mörder von Hermann Döbler erhielt eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren. Üblicherweise bekamen die Todesschützen Strafen zwischen 6 und 24 Monaten auf Bewährung, während die Befehlshabenden mit zunehmender Verantwortung höhere Strafen bekamen. Gegen die ausführenden Soldaten an der innerdeutschen Grenze gab es eigene Verfahren an anderen Gerichten.

Angeklagte

Die meisten Angeklagten waren ehemalige Grenzsoldaten und Mannschaftsdienstgrade der Grenztruppen der DDR, die an der Grenze schossen oder den Schützen halfen. Außerdem waren Personen aus der politischen Führung der DDR angeklagt.

Im Juni 1991 wurde die Anklage im ersten Prozess erhoben. Sie richtete sich gegen vier Grenzsoldaten, die an der Erschießung von Chris Gueffroy am 5. Februar 1989 an der Berliner Mauer beteiligt waren. Gueffroy war der letzte Mensch, der bei einem Fluchtversuch an der Mauer erschossen wurde.

Prozess gegen die Staatsführung

Der erste große Prozess begann am 13. November 1992 vor der 27. Kammer des Landgericht Berlins. Verfahren gegen einzelne Angeklagte wurden jedoch abgetrennt. Es waren folgende Personen angeklagt:

Politbüroprozess

1997 endete vor dem Landgericht Berlin unter Vorsitz von Josef Hoch der Prozess gegen Mitglieder des Politbüros der SED. Am 25. August ergingen die Urteile gegen Egon Krenz (sechseinhalb Jahre Freiheitsstrafe), Günter Schabowski und Günther Kleiber (je drei Jahre Freiheitsstrafe). Nachdem das Urteil Anfang 2000 vom Bundesgerichtshof bestätigt worden und die dagegen eingelegte Verfassungsbeschwerde erfolglos geblieben war, traten die drei ihre Haftstrafen an. Die Verfahren gegen die ebenfalls angeklagten Harry Tisch, Kurt Hager, Erich Mückenberger und Horst Dohlus wurden wegen des Todes Tischs oder aus gesundheitlichen Gründen eingestellt. Die Verurteilung von Fritz Streletz, Heinz Keßler und Egon Krenz wurde durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bestätigt.

Kollegium-Prozess

Am 1. März 1994 wurde Anklage wegen Beihilfe zum Totschlag und versuchten Totschlag gegen zehn ehemalige Offiziere der NVA im Generals- oder Admiralsrang erhoben, die Mitglied des Kollegiums des Ministeriums für Nationale Verteidigung der DDR gewesen waren. Die Staatsanwaltschaft stützte sich auf Jahresbefehle über Maßnahmen an der innerdeutschen Grenze, die durch das Kollegium beschlossen worden waren.

Folgende Personen wurden angeklagt:

Die Verfahren gegen sechs der Angeklagten wurden alters- und/oder krankheitsbedingt eingestellt. Goldbach, Handke, Ludwig und Peter wurden verurteilt. Die Strafen reichten von einem Jahr und zehn Monaten auf Bewährung bis hin zu drei Jahren und drei Monaten.

Letzte Prozesse

In einem zweiten Prozess gegen Mitglieder des Politbüros wurden im August 2004 Hans-Joachim Böhme und Siegfried Lorenz vom Landgericht Berlin zu Bewährungsstrafen verurteilt. Das Verfahren gegen den ursprünglich mitangeklagten Herbert Häber trennte das Landgericht am 25. März 2004 ab. Häber wurde am 11. Mai 2004 vom Landgericht Berlin wegen der Anstiftung zum dreifachen Mord schuldig gesprochen, erhielt jedoch keine Strafe, da er sich um eine Lockerung des Grenzregimes bemüht habe.

Der letzte Prozess gegen DDR-Grenzsoldaten ging am 9. November 2004 – genau 15 Jahre nach dem Fall der Mauer – mit einem Schuldspruch zu Ende.

Literatur (Auswahl)

Einzelnachweise

  1. BGH, Urteil vom 3. November 1992, Az. 5 StR 370/92, Volltext = BGHSt 39, 1 - Mauerschützen I.
  2. BGH, Urteil vom 25. März 1993, Az. 5 StR 418/92. Volltext = BGHSt 39, 168 - Mauerschützen II.
  3. 1 2 3 BGH, Urteil vom 20. März 1995, Az. 5 StR 111/94, Volltext = BGHSt 41, 101 - Mauerschützen III.
  4. Gesetz über die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik vom 25. März 1982 GBl. 1982 Teil II S. 197. verfassungen.de, abgerufen am 16. August 2021.
  5. 1 2 BGH, Urteil vom 26. Juli 1994, Az. 5 StR 167/94, Volltext = BGHSt 40, 218 - Mittelbare Täterschaft hoher DDR-Funktionäre.
  6. BGH, Urteil vom 8. November 1999, Az. 5 StR 632/98, Volltext = BGHSt 45, 270 - Mittelbare Täterschaft hoher DDR-Funktionäre.
  7. Horst Dreier: Gustav Radbruch und die Mauerschützen, JZ 1997, S. 421, 428
  8. BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 1996, Az. 2 BvR 1851, 1853, 1875 und 1852/94, BVerfGE 95, 96 - Mauerschützen.
  9. 1 2 EGMR, Urteil vom 22. März 2001 – Beschwerden Nr. 34044/96, 35532/97 u. 44801/98 (Streletz, Keßler u. Krenz ./. Deutschland), Volltext.
  10. 1 2 Herlte, 2009 S. 24 f.
  11. Eberhard Schmidt-Aßmann: Der Rechtsstaat, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (HdStR), Band II, 3. Auflage, Heidelberg 2004, § 26 Rn. 98; Josef Isensee: Rechtsstaat – Vorgabe und Aufgabe der Einung Deutschlands, in: HdStR, Band IX, 2. Auflage, Heidelberg 1997, § 202 Rn. 158.
  12. Uwe Wesel: Das Urteil gegen Egon Krenz und andere ähnelt verblüffend der Rechtsprechung durch die DDR-Justiz, Der Tagesspiegel vom 10. November 1999
  13. Volkmar Schöneburg: Der verlorene Charme des Rechtsstaates. Oder: was brachten die Mauerschützenprozesse?, WeltTrends34, S. 97; dazu Erardo Rautenberg: Mauerschützen wurden zu Recht strafrechtlich verfolgt, Der Tagesspiegel vom 2. November 2009
  14. spiegel.de 18. Dezember 1989: Hochwasser in den Akten. - Ost-Berliner Aufklärer möchten nun die Unterlagen aus der westdeutschen Sammelstelle für DDR-Straftaten haben., Der Spiegel
  15. Taktisch klug und richtig, Der Spiegel 27/1991; Protokolle über Schießbefehl und Republikflucht, Teil II
  16. Bräutigam, S. 971 ff.
  17. Strafjustiz und DDR-Unrecht: Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze, S. 599ff
  18. Bundeszentrale für politische Bildung: Politbüroprozess
  19. Politbüroprozess bei chronikderwende.de (redaktionell betreut vom rbb und der ARD)
  20. Michael Mielke: NVA-Generäle blasen per Attest zum Rückzug. In: Die Welt, 17. August 1995, abgerufen am 11. September 2018
  21. Karl-Wilhelm Fricke: Grenzverletzer sind festzunehmen oder zu vernichten., Webseite der Konrad-Adenauer-Stiftung. Abgerufen am 11. September 2018
  22. DDR-Funktionär Herbert Häber schuldig und trotzdem straflos. In: Berliner Morgenpost. 12. Mai 2004, abgerufen am 25. Mai 2020.
  23. Art. 7 EMRK und die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze | Zu den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte | Kreicker, Helmut | Berliner Wissenschafts-Verlag – Der Verlag für anspruchsvolle wissenschaftliche Fachliteratur. Abgerufen am 23. August 2019.
  24. Weinke, Annette: Rezension zu: G. Mouralis: Une épuration allemande. Abgerufen am 25. Februar 2020.

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