Unter Röntgenstil versteht man in der paläolithischen, mesolithischen und neolithischen Felsbildkunst und Plastik die Darstellung gravierter oder gemalter Tiere, seltener Menschen in einer Art technischen Schnittzeichnung mit inneren Organen wie Herz, Lunge, Leber, Nieren, Magen, Därmen und After, insbesondere aber von Knochen. Der Grund für diese Darstellungsweise, die weltweit in mehreren zeitlich und räumlich weit entfernten Kulturen auftritt, ist umstritten.

Verbreitung

Der Stil ist vor allem in „Jäger und Sammler“-Kulturen über die ganze Welt verbreitet und findet sich in seinen ältesten Formen in den mesolithischen Felsbildern Skandinaviens, besonders jedoch bei den Aborigines in Australien, neolithisch in der Linienbandkeramischen Kultur (5800–4500 v. Chr.), in China und der Inneren Mongolei sowie in der Kunst der Indianer Nordamerikas, in Sibirien, West-Neuguinea, Neuirland, Indien und Malaysia, in Südfrankreich und Nordspanien. Die zeitliche Einordnung und Datierung ist dabei wie stets im Falle von Felsbildern, außerordentlich schwierig.

  • Bekannt ist der Röntgenstil aber vor allem durch die Felskunst und die Rindenbilder der Aborigines Australiens, in der sich große, mehrfarbige Röntgendarstellungen von Kängurus, Emus, Schildkröten und Fischen finden. Sie stammen vorwiegend aus dem westlichen Arnhem-Land und sind in den letzten drei Jahrtausenden vor dem Hintergrund einer noch paläolithischen Kultur entstanden. Die Darstellungen sind bis zweieinhalb Meter groß und polychrom. Es gibt Bilder, in denen lediglich Skelett und Körperumriss wiedergegeben sind, das gesamte innere Organsystem jedoch durch eine Lebenslinie symbolisiert wird, die als gerade Linie vom Maul des Tieres bis zu einem Punkt verläuft, der Herz oder Magen ist. Bei den Rindenbildern ist der Röntgenstil sogar die häufigste Darstellungsform.
  • In Osttimor gibt es zum Beispiel Fischbilder im Röntgenstil in der Höhle von Lene Hara.
  • In Skandinavien finden sich Röntgendarstellungen gelegentlich, die ältesten Beispiele als Ritzungen auf Knochen. Bekannt ist vor allem die Darstellung eines Elchs mit seinen inneren Organen in Buskerud, Norwegen (4500–3000 v. Chr.), die als Wiedergeburtritus gedeutet wird.
  • Bei den Linienbandkeramikern wurde im Röntgenstil sogar auf tönernen Menschenfiguren Skelette angedeutet, etwa Schulterknochen, Wirbelsäule und Rippen und auf der Fußsohle eines Beines die Fußknochen.
  • In der Felskunst Chinas sind Tiere samt ihren Knochen dargestellt, in der Inneren Mongolei findet sich sogar eine zwei- bis dreitausend Jahre alte Tierdarstellung in Wulata, bei der die Form des Tieres ausschließlich durch seine Knochen wiedergegeben ist.
  • In Afrika finden sich keine eindeutigen Belege für den Röntgenstil.
  • In der frankokantabrischen Höhlenkunst ist er ebenfalls nicht vertreten.

Erklärungsversuche

Es gibt dazu drei allerdings spekulative Erklärungen:

  1. Die eingezeichneten inneren Organe und Knochen sind vor allem als praktische Anleitung zum Zerlegen zu verstehen.
  2. Die Körperstrukturen dienten zur Unterrichtung der Jugend, um sie auf die Jagd vorzubereiten, etwa um die tödlichen Treffpunkte zu kennzeichnen. Vor allem in der frankokantabrischen Höhlenmalerei finden sich auch zahlreiche Tierdarstellungen ohne Röntgenaspekte, die Einschussmerkmale aufweisen oder auf denen sogar Pfeile und Speere eingezeichnet sind. Der Röntgenstil könnte eine Art didaktische Erweiterung gewesen sein.
  3. Jagdmagische Aspekte: Vor allem im Schamanismus der Jäger und Sammler gab es den Glauben, die Beute sei eine Gabe des Herrn oder der Herrin der Tiere. Diesen musste man aber die Knochen des erlegten Wildes wieder zurückgeben, damit sie daraus neue Tiere erschaffen konnten.

Literatur

  • Emmanuel Anati: Felsbilder. Wiege der Kunst und des Geistes. U. Bär Verlag, Zürich 1991, ISBN 3-905137-33-X
  • Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden. 19. Aufl. F.A. Brockhaus GmbH, Mannheim 1994, ISBN 3-7653-1200-2
  • Chen Zhao Fu: China. Prähistorische Felsbilder. U. Bär Verlag, Zürich 1989, ISBN 3-905137-19-4
  • Mircea Eliade: Geschichte der religiösen Ideen. 4. Bde. Herder Verlag, Freiburg 1978, ISBN 3-451-05274-1
  • Mircea Eliade: Schamanismus und schamanische Ekstasetechnik. Suhrkamp, Frankfurt 2001, ISBN 3-518-27726-X
  • Dietrich Evers: Felsbilder – Botschaften der Vorzeit. Urania Verlag, Leipzig 1991, ISBN 3-332-00482-4
  • Mihály Hoppál: Das Buch der Schamanen. Europa und Asien. Econ Ullstein List, München 2002, ISBN 3-550-07557-X
  • David Lewis-Williams: The Mind in the Cave. Consciousness and the Origins of Art. Thames & Hudson Ltd., London 2004, ISBN 0-500-28465-2
  • Klaus E. Müller: Schamanismus. Heiler, Geister, Rituale. 3. Aufl. Beck, München 2006, ISBN 3-406-41872-4
  • Hermann Müller-Karpe: Handbuch der Vorgeschichte. Band I: Altsteinzeit. 2. Aufl. C.H.Beck Verlag, München 1977, ISBN 3-406-02008-9
  • Richard Nile, Christian Clerk: Weltatlas der alten Kulturen: Australien, Neuseeland und der Südpazifik. Geschichte Kunst Lebensformen. Christian Verlag, München 1995, ISBN 3-88472-291-3
  • Louis-René Nougier: Die Welt der Höhlenmenschen. Artemis Verlag, Zürich 1989, ISBN 3-7608-1008-X
  • Denis Vialou: Frühzeit des Menschen. C.H. Beck Verlag, München 1992, ISBN 3-406-36491-8
  • The New Encyclopedia Britannica. 15. Aufl. Encyclopedia Britannica Inc., Chicago 1993, ISBN 0-85229-571-5

Einzelnachweise

  1. Auf dem lebensgroßen Abbild eines Elches auf dem Hof Åskollen bei Drammen in Südnorwegen, gibt die Zeichnung das Innere des Tierkörpers wieder: Herz, Lunge, Leber und Nieren sind schematisch wiedergegeben, aber auch Labmagen, Blättermagen, Pansen, die Därme in Spiralen und der After.
  2. Hoffmann, S. 323; Britannica, Bd. 12, S. 792 f.
  3. Vialou, S. 402, Brockhaus, Bd. 18, S. 549.
  4. Christopher D. Standish, Marcos García-Diez, Sue O’Connor, Nuno Vasco Oliveira: Hand stencil discoveries at Lene Hara Cave hint at Pleistocene age for the earliest painted art in Timor-Leste, Archaeological Research in Asia, 18. März 2020.
  5. Evers, S. 53.
  6. Chen Zhao Fu, S. 191.
  7. Vgl. Striedter.
  8. Hoffmann, S. 323.
  9. Eliade: Geschichte der religiösen Ideen, Bd. 1, S. 19; Müller, S. 17f, 116; Hoppal, S. 45.
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