Die RNA-Welt-Hypothese besagt, dass den heutigen Lebensformen eine Welt vorausging, deren Leben auf Ribonukleinsäuren (RNA) als universellen Bausteinen zur Informationsspeicherung und zur Katalyse chemischer Reaktionen basierte. Im Rahmen dieser Hypothese wird angenommen, dass freie oder zellgebundene RNA im Rahmen der Evolution vom chemisch stabileren Informationsspeichermedium Desoxyribonukleinsäure (DNA) und von den funktionell flexibleren Proteinen abgelöst beziehungsweise um diese ergänzt wurde.

Als ein Hinweis auf die Existenz der RNA-Welt werden Ribozyme (katalytisch aktive RNA) angesehen, die als chemische (auch: molekulare) Fossilien evolutionäre Überbleibsel aus dieser Anfangszeit darstellen könnten (ähnlich Lebenden Fossilien); ein Beispiel dafür ist die ribosomale RNA (rRNA). Einen weiteren Hinweis gibt die Reihenfolge der Biosynthese-Pfade. Die Desoxyribonukleotide, aus denen die DNA zusammengebaut wird, werden in der Zelle aus Ribonukleotiden, den Bausteinen der RNA, erzeugt, indem die 2'-Hydroxygruppe entfernt wird. Die Zelle muss also erst in der Lage sein, RNA aufzubauen, bevor sie DNA herstellen kann.

Die vier Ribonukleotide können unter bestimmten Umweltbedingungen spontan entstehen. Die RNA-Welt-Hypothese ist somit ein Bindeglied zwischen den Hypothesen der chemischen Evolution, welche die Entstehung organischer Moleküle aus anorganischen Verbindungen erklären, und der Kooperation mehrerer RNAs, die eine biologische Selektion in Gang bringen, sowie der heutigen biologischen Evolution auf Basis eines DNA-Genoms. Das Aufkommen zellulärer Lebensformen steht möglicherweise nicht am Ende dieses Prozesses, denn zelluläre Organismen auf RNA-Basis (Ribozyten) könnten bereits in der RNA-Welt entstanden sein.

Konzept

Das Konzept einer postulierten RNA-Welt basiert auf zwei grundlegenden Eigenschaften der RNA. Zum einen dient sie wie die DNA als Medium zur Speicherung von Erbinformationen. Andererseits sind RNA wie auch Proteine in der Lage, chemische Reaktionen zu katalysieren.

Entstehung

Wenngleich RNA ein sehr komplexes Molekül ist, welches aus Ribonukleotid-Einheiten besteht, die wiederum Kondensationsprodukte der Ribose, einer Nukleinbase und Phosphat sind, gilt ihre abiotische Entstehung in der Ursuppe als möglich. Zwar ist eine direkte Kondensation katalytisch sehr aufwändig und daher unwahrscheinlich für eine abiotische Entstehung, jedoch konnte 2009 experimentell gezeigt werden, dass aus den einfachen Molekülen Cyanamid, Cyanoacetylen, Glycolaldehyd, Glyceraldehyd und Phosphat, welche mögliche Bestandteile der Ursuppe waren, in wenigen Reaktionsschritten Pyrimidinribonukleotide gebildet werden können. Interessanterweise ist Phosphat in dieser Reaktion nicht nur als Ausgangsstoff (Edukt) bei der Veresterung des Nukleosids zum Nukleotid von Bedeutung. Vielmehr scheint die Anwesenheit von Phosphat selektiv gleich mehrere Teilschritte der Reaktion zu steuern, indem es z. B. als pH-Puffer und Katalysator mit nukleophilen Eigenschaften fungiert. Dadurch wird die kombinatorische Vielfalt unterdrückt, so dass kaum unerwünschte Nebenprodukte auftreten.

Die komplexeren Purinnukleoside konnten 2016 mit kleinen Molekülen, wie sie heute noch auf Kometen zu finden sind, über den Formamidopyrimidin(FaPy)-Reaktionspfad hergestellt werden. Zuletzt wurde gezeigt, wie die Pyrimidine und Purine auch zusammen unter den gleichen, plausiblen Bedingungen entstehen können.

Informationsspeicherung

Auf Grund ihrer chemischen und physikalischen Eigenschaften wird die RNA für das ältere Speichermedium für Erbinformationen gehalten als die DNA. So kann beispielsweise der RNA-Baustein Ribose im Gegensatz zur Desoxyribose der DNA leicht durch eine Aldolkondensation gebildet werden. Wie die DNA ist auch die RNA in der Lage, sich zu doppelsträngigen Makromolekülen zusammenzulagern. Für eine Langzeitspeicherung von Informationen jedoch ist die RNA der DNA unterlegen, da RNA fehleranfällig und somit energieintensiv ist.

Katalyse

Mit der Entdeckung, dass die ribosomale RNA des Wimpertierchens Tetrahymena sich selbst spleißen kann, wurde 1982 erstmals der Nachweis katalytischer Eigenschaften von Ribonukleinsäuren (Ribozyme) erbracht. Im Prinzip kann fast jede Nukleinsäure unter geeigneten Bedingungen in eine katalytische Sequenz evolvieren. Insbesondere für die DNA ist dies unter Laborbedingungen gelungen (so genannte Desoxyribozyme, auch DNAzyme). In der Natur wurde dies aber noch nicht beobachtet. Dagegen konnten (neben künstlich erzeugten Ribozymen) natürliche RNA-Moleküle gefunden werden, die wichtige Bestandteile des Zellstoffwechsels, einschließlich ihrer eigenen Bausteine, produzieren und sogar solche, die zur identischen Vervielfältigung (Replikation) befähigt sind.

Im Rahmen der RNA-Welt-Hypothese wird angenommen, dass Ribozyme, die zur Übersetzung ihrer Erbinformation durch Synthese von Proteinen (Translation) befähigt waren, den Siegeszug der Proteine als Funktionsträger einleiteten. Proteine sind der RNA bezüglich ihrer katalytischen Fähigkeiten und der Katalysegeschwindigkeit überlegen. Diese Annahme wurde durch die Entdeckung gestützt, dass die wichtigen katalytischen Zentren der Ribosomen von RNA und nicht, wie vorher angenommen, von Proteinen gestellt werden.

RNA-Netzwerke

Im März 2022 berichteten Ryo Mizuuchi et al. davon, dass sich eine einzelne RNA-Spezies (vgl. Spiegelmans Monster) zu einem komplexen Replikationssystem entwickelt kann. In ihrem Fall entstand ein Netzwerk, das fünf RNA-Typen mit verschiedenen Interaktionen umfasste, was die Plausibilität eines evolutionären Übergangsszenarios, wie es für die RNA-Welt-Hypothese benötigt wird, unterstützt.

Zelluläre RNA

Für die Entwicklung der RNA-Welt unter den Bedingungen der Darwinschen Evolution wird eine Kompartimentierung als wichtige Voraussetzung angesehen. Es wird angenommen, dass sich diese ersten von einer Zellmembran umgebenen RNA-basierten hypothetischen Lebensformen, die Ribozyten, rasch weiterentwickelten und elementare Zellfunktionen, wie den Stofftransport durch die Zellmembran und die Zellform steuern konnten.

Zwei Zeitalter der RNA-Welt

Moderne Ribosomen (die Protein-Fabriken der Zelle) sind aus ribosomaler RNA (rRNA) und Proteinen (rProtein) aufgebaut. Die Proteine scheinen hierbei nur eine Hilfsfunktion zu haben, welche die Übersetzung der Messenger-RNA (mRNA) in ein Protein schneller und/oder sicherer machen, im Prinzip reicht die rRNA als Ribozym für diesen Vorgang aus. Die RNA-Welt kann danach in zwei Zeitalter unterteilt werden: Eine frühe Phase ohne Ribosomen (Primordiale RNA-Welt, mit kurzen Peptidketten abiotischen Ursprungs aus der Ursuppe), und eine spätere mit Protein-Biosynthese durch Ribosomen (RNP-Welt, Ribonukleoprotein). Dazwischen fällt die Entstehung und Evolution des genetischen Codes. Als die Organismen auf die so erzeugten Proteine angewiesen waren, musste die Evolution des genetischen Codes (weitestgehend) abgeschlossen sein, da eine Änderung des Codes eine Änderung und mögliche Funktionsunfähigkeit fast aller erzeugten Proteine bedeutet. Heute werden daher auch nur noch sehr geringe natürliche Abweichungen des genetischen Codes beobachtet.

Alanin-Welt-Hypothese

Es gibt mehrere Szenarien, wie die kanonischen Aminosäuren für die Proteinbiosynthese in der RNA-Welt gewählt wurden. Die „Alanin-Welt“-Hypothese stellt die kanonische Aminosäure Alanin in den Mittelpunkt der sogenannten Proteinwelt. Als Sekundärstrukturen von Proteinen herrschen die α-Helix und das β-Faltblatt vor. Die am häufigsten als Monomere ausgewählten Aminosäuren für die ribosomale Synthese der Polypeptidketten können als chemische Derivate des Alanins aufgefasst werden. Sie eignen sich am besten für den Aufbau von α-Helices und β-Faltblätter in Proteinen. Die Alanin-Welt-Hypothese wird praktisch bestätigt durch Alaninscanning, da bei dieser Methode Aminosäuren durch Punktmutationen zu Ala ausgetauscht werden, während die Sekundärstruktur noch intakt bleibt. Auch in der klassischen Röntgenkristallographie kommt dieses Prinzip zur Geltung, da häufig das Polyalanin-Grundgerüst-Modell verwendet wird um dreidimensionale Strukturen von Proteinen zu bestimmen.

In Transmembranproteinen bestehen die membrandurchspannenden Anteile, die als Transmembrandomäne das Protein in der Lipid-Doppelschicht einer Biomembran verankern, soweit bekannt ganz überwiegend aus diesen Sekundärstrukturen.

Prä-RNA-Welt

Da die RNA ein bereits sehr komplexes Molekül ist, wurden sowohl alternative als auch ergänzende Hypothesen zur Entwicklung des Lebens auf der Erde entwickelt. Dazu gehört insbesondere eine mögliche Rolle von Proteinoiden, Peptid-Nukleinsäuren (PNA), Threose-Nukleinsäuren (TNA) und Glycerol-Nukleinsäuren (GNA). Da sie chemisch einfacher gebaut sind, werden diese entweder als mögliche Vorgänger der RNA angesehen, oder es wird eine chemische Koevolution angenommen. Für Peptid-Nukleinsäuren konnte nachgewiesen werden, dass sie sich selbst replizieren und als Vorlage der RNA dienen können. Eine Entstehung von Peptid-Nukleinsäuren in der Ursuppe gilt als möglich. Auch die in der Ursuppe vermuteten polycyclischen aromatischen Kohlenwasserstoffe (PAHs) werden als mögliche Vorgänger der RNA angesehen.

Folgende Hypothesen wurden diskutiert, die andere Nukeinsäure-Welten (Xeno-Nukleinsäuren, XNA) als Vorgänger einer RNA-Welt vorschlagen:

Alternativhypothesen

Nicht alle der vorgeschlagenen alternativen Hypothesen schließen sich gegenseitig und die RNA-Welt-Hypothese aus, vielmehr könnten diese Szenarien meist auch gemeinsam bei der Entstehung moderner Zellen beteiligt gewesen sein. Eine Auswahl:

Eisen-Schwefel-Welt

Die von Günter Wächtershäuser vorgeschlagene Eisen-Schwefel-Welt-Theorie nimmt an, dass sich einfache Stoffwechselprozesse bereits vor den Nukleinsäuren als genetischem Material entwickelten, und dass diese Energie erzeugenden Zyklen die Produktion der genetischen Information, also von Genen, katalysierten.

Proteinhypothese

Sidney W. Fox schlug vor, dass Proteinoide, durch Kondensationsreaktionen abiotisch entstandene, proteinähnliche Aminosäureketten, eine Vorstufe von Lebewesen im Sinne einer Abiogenese darstellen könnten, in dem sie ebenfalls Mikrosphären und später eine Speicherstruktur der genetischen Information erzeugten.

RNA-Peptid-Koevolution

Die RNA-Welt-Hypothese im strengen Sinn geht davon aus, dass zunächst nur Ribozyme katalytische Fähigkeiten entfalteten, und Peptide oder gar die längerkettigen Proteine keine oder nur eine marginale Rolle gespielt haben. Erst in dem Umfang, in dem die Biosynthese von Aminosäureketten (an den Ribosomen) aufkam, nahmen auch die so erzeugten Peptide ihre enzymatische Funktion auf und aus der RNA-Welt wurde eine RNP-Welt (Ribonukleoprotein-Welt).

Im Gegensatz dazu geht die Hypothese der RNA-Peptid-Koevolution davon aus, dass es ausgehend von abiotisch entstandenen primordialen Oligopeptiden (kurze Aminosäureketten) zu einer chemischen Koevolution der Peptide und der RNA und ihrer katalytischen Fähigkeiten kam. Allerdings zeigen die verschiedenen Ursuppen-Experimente, dass kurze Peptidketten (Oligopeptide) bereits in der Anfangszeit der Chemischen Evolution entstehen konnten. Die Theorie setzt also die gleichzeitige Entstehung und Entwicklung zweier komplexer Moleküle (Peptid als Enzym und RNA als Träger der Erbinformation) voraus. Sie beschreibt somit eine 'von Anfang an' existierende RNP-Welt: Das heutige duale System, in dem Nukleinsäuren benötigt werden, um Proteine herzustellen, und Moleküle auf Proteinbasis umgekehrt die Nukleinsäuren verketten, hätte es also immer schon gegeben, lediglich eine Effizienzsteigerung und Zunahme der jeweiligen Kettenlängen wäre zu verzeichnen. Die Annahme wird unter anderem dadurch unterstützt, dass es offenbar eine ganze Reihe evolutionär sehr alter Protein-RNA-Komplexe gibt, unter anderem die Ribosomen und die Telomerasen. Die Hypothese könnte die schnelle Evolution der Genauigkeit der RNA-Replikation erklären, da die Proteine wie in rezenten Ribosomen als Katalysatoren wirken.

Lipid-Hypothese

Ein im März 2015 von der John-Sutherland-Gruppe abgeschlossenes Forschungsprojekt stellte fest, dass ein Netzwerk von Reaktionen beginnend mit Cyanwasserstoff und Schwefelwasserstoff in fließendem Wasser, das durch UV-Licht bestrahlt wird, die chemischen Komponenten von Proteinen und Lipiden zusammen mit RNA produzieren könnte. In diesem Szenario entstand zuerst (mit Hilfe der Lipide) eine Protozelle, die dann durch Aufnahme geeigneter Moleküle einen Stoffwechsel entwickelte.

RNA-DNA-Koexistenz

Einer neuen Überlegung von Jianfeng Xu, John Sutherland und Kollegen (2020) könnte es auch schon sehr früh eine Koexistenz von RNA und DNA gegeben haben. In diesem Zusammenhang wurde auch eine damalige Bildung von replikationsfähigen RNA-DNA-Cimären (RDNA) vorgeschlagen.

Geschichte

In seinem Buch „The Genetic Code“ stellte 1967 Carl Woese die Hypothese eines auf RNA basierenden einfachen Lebens vor. Auch Leslie Orgel beschrieb 1968 die RNA als eine wichtige Stufe in der Evolution. Der Begriff der „RNA-Welt“ wurde erstmals 1986 von Walter Gilbert gebraucht und hat sich seitdem etabliert.

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Videos

Einzelnachweise

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    2. Lost In Translation vom 24. Juni 2015 3:18
    3. A Brilliant New Update For The RNA World Hypothesis vom 17. September 2013 11:28
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