Rudolf von Jhering bzw. Ihering (Aussprache [ˈjeːrɪŋ]; * 22. August 1818 in Aurich; † 17. September 1892 in Göttingen) war ein deutscher Rechtswissenschaftler. Er hatte großen Einfluss auf das deutsche Privatrecht.

Bedeutung erlangte Jhering für die juristische Methodenlehre. Auf ihn geht die wortlautgetreue sogenannte Begriffsjurisprudenz zurück, eine Bezeichnung, die er selbst schöpfte. Später besann er sich um und wandte sich der historischen Auslegungsmethode der Interessenjurisprudenz zu. Im Rahmen seiner Untersuchungen zu den vorvertraglichen Rechtsverhältnissen entwickelte er außerdem die Rechtsfigur der culpa in contrahendo.

Leben

Abstammung, Jugend und Studium

Rudolph (wie er sich bisweilen selbst schrieb) Jhering (alte, aber immer noch gebräuchliche Schreibweise: Ihering) stammte aus einer Juristenfamilie, die seit 1522 in Ostfriesland nachweisbar ist. Sein Urgroßvater Sebastian Eberhard Jhering (1700–1759) wurde 1754 zum Namensgeber des ostfriesischen Ortes Jheringsfehn. Seine Eltern waren Georg Albrecht Jhering aus Aurich (1779–1825) und Anna Maria Schwers (1792–1861) aus Leer.

Jhering studierte in Heidelberg, Göttingen, München und ab 1838 in Berlin, wo er 1842 auch promoviert wurde.

Forschung und Lehre

Nach Professuren in Basel, Rostock, Kiel, Gießen kam er 1868 nach Wien. Dort hielt er seinen berühmten Vortrag „Der Kampf ums Recht“, der in zwei Jahren zwölf Auflagen erlebte und in 26 Sprachen übersetzt wurde. Über das Recht heißt es dort:

„Das Leben des Rechts ist ein Kampf – ein Kampf der Völker, der Staatsmacht, der Klassen und Individuen. In der Tat hat das Recht eine Bedeutung nur als Ausdruck von Konflikten und es stellt die Anstrengungen der Menschheit dar, sich selbst zu zähmen. Aber leider hat das Recht versucht, der Gewalt und dem Unrecht mit Mitteln zu begegnen, die in einer vernünftigen Welt dereinst als ebenso befremdlich wie schändlich gelten werden. Denn das Recht hat niemals wirklich versucht, die Konflikte der Gesellschaft zu lösen, sondern nur sie zu lindern, indem es Regeln niederlegte, nach welchen sie ausgefochten werden sollen.“

1872 nahm er einen Ruf nach Göttingen an. Sein Nachfolger in Wien wurde Adolf Exner. In Göttingen blieb er – Rufe nach Leipzig und Heidelberg ablehnend – bis zu seinem Tode im Jahr 1892.

Auszeichnungen

In Wien verlieh ihm der österreichische Kaiser den erblichen Adel.

In seiner Wirkungsstätte Göttingen erinnern unter anderem eine nach ihm benannte Straße und eine Gedenktafel an seinem Wohnhaus an sein Leben und Wirken. Im Jahr 1894 wurde im 15. Wiener Gemeindebezirk Rudolfsheim-Fünfhaus die Jheringgasse nach ihm benannt.

Familie

Jhering war mehrmals verheiratet. Seine erste Frau war Helene Hofmann († 1848). Nach ihrem Tod heiratete er Ida Frölich (* 16. September 1826; † 3. September 1867), mit der er fünf Kinder hatte. Nach deren Tod heiratete er im Sommer 1869 in Wien die Erzieherin seiner Kinder Luise Wilders (1840–1909). Er hatte folgende Kinder:

⚭ Maria Anna Clara Belzer (* 17. Mai 1846; † 22. August 1906 in Sao Paulo)
⚭ Meta Johanna Buff († 1929) Tochter des Physikers Heinrich Buff und seiner zweiten Frau Johanna Moldenhauer
  • Elise Marie Agathe Helene (* 9. Juli 1852; † 23. Januar 1920) ⚭ 1882 Victor Gabriel Ehrenberg (1851–1929) Professor Dr. iur. Dr. rer. pol. in Göttingen
  • Karl Friedrich August (* 6. Dezember 1853; † 31. Januar 1919)
  • Ernst Albrecht Wilhelm Heinrich (* 4. August 1856; † 1924) ⚭ Emma Hildebrand
  • Rudolf Justus Heinrich Hermann Ludwig (* 5. Januar 1862; † 29. März 1934) ⚭ NN. Hube

Werk

Positionen Jherings

Als besonderer Umstand in der wissenschaftlichen Entwicklung Jherings wird immer wieder seine rechtstheoretische „Bekehrung“ hervorgehoben. Den Begriff der Bekehrung verwendete Hermann Kantorowicz. Franz Wieacker spekulierte auf Jherings Damaskus, während Joachim Rückert auf Jherings Selbsteinschätzung rekurrierte und von „Kontinuität“ sprach. Noch in seinem (unvollendet gebliebenen) Werk „Der Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung“ stellt er gemäß der Historischen Rechtsschule ein durch die Begriffsjurisprudenz (so genannt aber erst ab 1884) geprägtes System vor. Die 1856 von ihm vorgestellte „naturhistorische Methode“ verknüpfte Terminologien aus der Sprache der Naturwissenschaften mit dem Recht, er sprach von „Rechtskörpern“ und „Aggregatzuständen“. Er versuchte die idealistischen Schlagwörter der Rechtsschule – etwa Savignys Volksgeist – so unter Kontrolle zu bekommen, dass sie einem logischen und an Interessen und Verkehrsbedürfnissen orientierten Konzept folgten und nicht an die kritisierte Metaphysik einer „dunklen Werkstätte“ anheimfallen. Hiervon nahm Jhering aber immer mehr (schon im dritten Band dieses Werks) zu Gunsten einer soziologischen Betrachtung des Rechts Abstand, die er (im ebenfalls unvollendet gebliebenen) Werk „Der Zweck im Recht“ näher ausführt. Nach seiner Auffassung dient das Recht dem Schutz der individuellen und gesellschaftlichen Interessen durch deren Koordination und der Minimierung der Gelegenheit für deren Konflikte (vgl. Interessenjurisprudenz). In der Dogmatik des Zivilrechts findet sich seine 1861 getroffene terminologische Unterscheidung zwischen positivem und negativem Interesse noch heute wieder.

Als bis heute bedeutsam gilt auch sein „Anstoß“ vorvertraglicher Haftung, die sogenannte Culpa in contrahendo in demselben Aufsatz. Bahnbrechend war dabei weniger die Trennung nach Schadensersatzkategorien, die ohne diese Terminologie bereits bei Friedrich Carl von Savigny und Friedrich Mommsen angelegt war. Durch die Kombination der außervertraglichen Haftung für leichte Fahrlässigkeit – die Haftung für grobe Fahrlässigkeit war allgemein anerkannt – mit der Rechtsfolge der Haftung auf das negative Interesse fand er eine tragfähige Kompromisslösung für den erbitterten Streit zwischen Willenstheorie und Erklärungstheorie, indem er die Willenstheorie mit einer Haftung für das negative Interesse verband. Die von Jhering vorgeschlagene Haftung ist dabei weniger eine Verschuldenshaftung als eine fingierte Garantiehaftung. H. Stoll machte die Lösung 1923 letztlich für die vertragsrechtlichen Prinzipien urbar. Die Lösung Jherings findet sich noch heute wieder, in § 122 BGB. Die noch heute zumeist als culpa in contrahendo bezeichnete Haftung für vorvertragliches Verschulden gemäß §§ 311 Abs. 2, 241 Abs. 2, 280 Abs. 1 BGB, hat trotz ihrer Bezeichnung nur wenig mit Jherings Konstrukt zu tun.

Mit seinen Arbeiten zu den Grundlagen, gilt Jhering auch als Vater der nach Ziel und Zweck eines Gesetzes fragenden teleologischen Auslegung.

Das wissenschaftliche Ansehen Jherings in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kommt dem eines Friedrich Carl von Savigny in der ersten Hälfte des Jahrhunderts nahe, wenngleich die Methoden der beiden unterschiedlich waren.

Für den 6. Oktober 2018 organisierten Wissenschaftler der Abteilungen für Rechtsgeschichte der Universitäten Groningen, Radboud-Universität Nijmegen an der Universität Leiden eine Veranstaltung in Aurich zur Erinnerung an Rudolf von Jhering.

Publikationen Jherings

Zitate Jherings

„Der Gesetzgeber soll denken wie ein Philosoph, aber reden wie ein Bauer.“

„Der Kampf ums Recht ist die Poesie des Charakters.“

„Im Kampfe sollst du dein Recht finden.“

„Recht ist unausgesetzte Arbeit und zwar nicht bloß der Staatsgewalt, sondern des ganzen Volkes. … Jeder Einzelne, der in die Lage kommt, sein Recht behaupten zu müssen, übernimmt an dieser nationalen Arbeit seinen Anteil, trägt sein Scherflein bei zur Verwirklichung der Rechtsidee auf Erden.“

„Die Form ist die geschworene Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit. Denn die Form hält der Verlockung der Freiheit zur Zügellosigkeit das Gegengewicht, sie lenkt die Freiheitssubstanz in feste Bahnen, daß sie sich nicht zerstreue, verlaufe, sie kräftigt sie nach innen, schützt sie nach außen. Feste Formen sind die Schule der Zucht und Ordnung und damit der Freiheit selber und eine Schutzwehr gegen äußere Angriffe, – sie lassen sich nur brechen, nicht biegen.“

Literatur

  • Okko Behrends (Hrsg.): Rudolf von Jhering. Beiträge und Zeugnisse aus Anlaß der einhundertsten Wiederkehr seines Todestages am 17. 9. 1992. Wallstein, Göttingen 1992, ISBN 3-89244-046-8.
  • Okko Behrends: Caspar Rudolf von Jhering. Digitalisat PDF. In: Biographisches Lexikon für Ostfriesland. Aurich 1993, S. 211–215.
  • Ulrich Falk: Jhering, Rudolph von. In: Michael Stolleis (Hrsg.): Juristen. Ein biographisches Lexikon. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert. C.H. Beck, München 1995, ISBN 3-406-39330-6, S. 324–326.
  • Inge Hanewinkel, Nikolaus Linder: „Ein Mann von kräftigem Rechtsgefühle“. Rudolf von Jherings Prozess gegen seine Hausangestellte und der Kampf um’s Recht. In: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 42 (2020), Heft 1–2.
  • Alexander Hollerbach: Ihering, Rudolf von. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 10, Duncker & Humblot, Berlin 1974, ISBN 3-428-00191-5, S. 123 f. (Digitalisat).
  • Ludwig Mitteis: Jhering, Rudolf. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 50, Duncker & Humblot, Leipzig 1905, S. 652–664.
  • Joachim Rückert: Rudolf von Jhering (1818–1892) – ein ostfriesischer Niedersachse in den Fesseln der Metaphysik. In: Juristische Studiengesellschaft Hannover (Hrsg.): Rechtsleben in Hannover: 50 Jahre Juristische Studiengesellschaft. Halle 2016, ISBN 978-3-941226-40-1, S. 193–224.
  • Jan Schröder: Rudolf von Jhering. In: Gerd Kleinheyer, Jan Schröder (Hrsg.): Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten. UTB, Heidelberg 1996, ISBN 3-8252-0578-9, S. 220–227.
  • Francesco Viola: R. von Jhering e la conoscenza del diritto. In: Interpretazione e applicazione del diritto fra scienza e politica. Palermo 1974, S. 23–50.
  • Erik Wolf: Rudolf von Jhering. In: Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte. 4. Auflage. 1963, S. 622–668.
Commons: Rudolf von Jhering – Album mit Bildern, Videos und Audiodateien
Wikisource: Rudolf von Jhering – Quellen und Volltexte

Quellen

    • Die Schreibweise „Ihering“ ist die ältere und stammt aus der Zeit, als es den Großbuchstaben J im Deutschen noch nicht gab und statt diesem der Buchstabe I verwendet wurde (zusätzlich zum Gebrauch für den Klang /i/). Um den Klang /j/ vor dem Buchstaben E zu schreiben, wurde damals ein H eingefügt („ihe..“), da „ie“ bzw. „Ie“ als langes /i:/ missverstanden worden wären, so z. B. auch „Ihena“ in der alten Schreibweise von Jena.
    • Vor allem (aber nicht erst) seitdem es den Buchstaben J gibt, wird die alte Schreibung von Namen mit initialem I oft als der Klang /i/ missverstanden. Ironischerweise wird die „modernere“ Schreibweise „Jh“ statt „Ih“ z. B. in Straßennamen in verschiedenen Städten oft auch als der Klang /i/ von der Bevölkerung missverstanden, da J vor H verwirrend ist und da es bekannt ist, dass der Buchstabe J zeitweilig auch statt des Buchstabens I benutzt wurde.
    • Meyers Großes Universallexikon (1985) gibt nur die Schreibweise „Ihering“ und die Aussprache [ˈjeːrɪŋ] an. Ihering hat selbst angefangen, die Schreibweise Jhering zu benutzen, um die falsche Aussprache /i:/ zu verhindern. Wenn Ihering Sprachwissenschaftler gewesen wäre, hätte er bei der Modernisierung der Schreibweise nicht nur das altmodische I durch J ersetzt, sondern die Schreibweise „Jering“ ohne das verwirrende und nun überflüssige H benutzt (entsprechend Jena statt älterem Ihena).
    • Dasselbe Lexikon erwähnt beim 70 Jahre später geborenen Herbert Ihering die alternative, modernere Schreibweise Jhering, aber nur in Klammern.
  1. Rudolph Jhering, Das Schuldmoment im römischen Privatrecht. Eine Festschrift, Gießen (Verlag Emil Roth) 1867, vor S. 1.
  2. Rudolf von Jhering, Der Kampf ums Recht, Wien, 1872.
  3. Hermann Kantorowicz: Iherings Bekehrung, in: DRiZ Band 6 (1914), S. 84–87.
  4. Franz Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. Vandenhoeck u. Ruprecht, Göttingen 1952, weitere Aufl. 1967, 1996, 2016. S. 541.
  5. Joachim Rückert: Der Geist des Rechts in Jherings ‚Geist‘ und Jherings ‚Zweck‘, Teil 2, in: Rechtsgeschichte, Zeitschrift des Max-Planck-Instituts für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie Band 5 (2004), S. 129.
  6. Hans-Peter Haferkamp: Begriffsjurisprudenz. In: Enzyklopädie zur Rechtsphilosophie im Auftrag der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR), hrsg. von Michael Anderheiden, Marietta Auer, Thomas Gutmann, Stephan Kirste, Frank Saliger und Lorenz Schulz (online).
  7. Georg Friedrich Puchta: Cursus der Institutionen, Band 1, S. 30.
  8. Hans-Peter Haferkamp: Rechtsgeschichte und Evolutionstheorie. In: Ludwig Siep (Hrsg.): Evolution und Kultur. Symposium der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und Künste 2009. Ferdinand Schöningh, Paderborn [u. a.] S. 35 ff. (38 f.).
  9. Rudolf von Jhering, Culpa in contrahendo, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und. deutschen Rechts (Jhering-Jahrbuch), 4. Bd., 1861, 1
  10. Rudolf von Jhering, Culpa in contrahendo, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und. deutschen Rechts (Jhering-Jahrbuch), 4. Bd., 1861, 1
  11. 1 2 Erich Schanze: Culpa in contrahendo bei Jhering. In: Ius Commune, hrsg. von Helmut Coing, Band 7. Vittorio Klostermann Frankfurt a. M. 1978. S. 326–358.
  12. Hans-Peter Haferkamp: Der Kölner/Frankfurter Telegraphenfall, in: Ulrich Falk, Michele Luminati, Mathias Schmoeckel (Hrsg.): Fälle aus der Rechtsgeschichte, München 2008, S. 254–265 (260 f.) (online).
  13. Wolfgang Fikentscher: Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung. Band 3 (Mitteleuropäischer Rechtskreis). Mohr Siebeck, Tübingen 1976. ISBN 978-3166376325. S. 677 ff.
  14. Jhering Tage 2018 (Memento vom 9. Oktober 2018 im Internet Archive), rug.nl, abgerufen am 9. Oktober 2018.
  15. Aphorismus, zitiert nach: Wilhelm Herschel: Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. In: Juristenzeitung. 1967, S. 727–737, S. 736.
  16. Rudolf von Jhering: Der Kampf um’s Recht. 5. Auflage. Manz, Wien 1877, S. 40, eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche.
  17. Rudolf von Jhering: Der Kampf um’s Recht. 5. Auflage. Manz, Wien 1877, Titelseite, eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche.
  18. Rudolf von Jhering: Der Kampf um’s Recht. 5. Auflage. Manz, Wien 1877, S. 1–2, eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche.
  19. Rudolf von Jhering: Der Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. 2. Teil, 2. Abteilung. 2. Auflage. Breitkopf und Härtel, Leipzig 1869, S. 456 (in dieser Ausgabe lautet das Zitat geringfügig anders. Also immer im Original nachsehen!), eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche.
This article is issued from Wikipedia. The text is licensed under Creative Commons - Attribution - Sharealike. Additional terms may apply for the media files.