Okko Behrends (* 27. Februar 1939 in Norden (Ostfriesland)) ist ein deutscher Rechtshistoriker und emeritierter Hochschullehrer der Georg-August-Universität Göttingen.

Leben

Okko Behrends, Enkel von Onno Behrends, studierte in Freiburg, Genf, München und Göttingen Rechtswissenschaft, wurde 1967 von Franz Wieacker an der Göttinger Universität promoviert, habilitierte sich 1972 ebendort und war – als Nachfolger von Franz Wieacker – an derselben Universität von 1975 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2007 Professor für Bürgerliches Recht, Römisches Recht und Neuere Privatrechtsgeschichte. Seit 1982 ist er ordentliches Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften. Von 1986 bis 1988 war er Vizepräsident der Göttinger Universität, 2003 und 2009 Andrew Dickson White Professor-at-Large an der Cornell University in Ithaca. Seit 2005 ist er Honorarprofessor der East China University of Politics and Law in Shanghai, 2009 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität Stockholm und 2010 war er Bok Visiting International Professor an der University of Pennsylvania (Law School). Außerdem unterrichtete er an den Universitäten von Rom („La Sapienza“), Neapel („Federico II“), Bordeaux („Montesquieu“) und Nanjing.

Werk

Okko Behrends’ Forschungsschwerpunkte sind die Einflüsse der griechischen Philosophie im römischen Recht und die deutsche Rechtswissenschaft des 19. Jahrhundertsmit dem Schwerpunkt auf der Historischen Rechtsschule. Seine Forschungsergebnisse weichen von der Sicht der gegenwärtigen, durch das spätromantische Freirecht geprägten und jedwede Systematik ablehnenden Romanistik grundsätzlich ab, insbesondere auch von der heute vorherrschenden Überzeugung, dass das römische Recht der kasuistische Niederschlag einer theorielosen, lediglich auf vermeintlich „richtigen“ Entscheidungen beruhenden Praxis sei.

Was die römische Frühzeit anbelangt, so war Behrends’ Ansicht zufolge die Grundlage allen Rechts die Auguralreligion. Der für allen „Segen“ nötige Götterfrieden (pax deum) habe des Rechtsfriedens bedurft, der durch eine kosmisch legitimierte Grenzordnung des Siedlungsbodens, einen sehr alten, für alle Rechtssetzungen zu beachtenden Mondkalender, eine stets präsente Jurisdiktion und einen periodischen Census gesichert worden sei. Im Zentrum dieser agrarischen Rechtsvorstellung habe das Freiheit, Familie und Vermögen sichernde „Vindikationsmodell“ gestanden, dessen Emanationen in der Überlieferung als ex iure Quiritium stammend bezeichnet würden, weil das Modell auf die Bildung eines Bündnisses mehrerer Agrarsiedlungen (gentes) mit Kultzentrum auf dem Quirinal, einem zentralen Ort des späteren Rom, zurückzuführen sei. Das Zwölftafelgesetz (von 451/450 v. Chr.) habe diese Rechtsvorstellung bewahrt, sie gleichzeitig aber unter dem Einfluss der sich ändernden ökonomischen Bedingungen der „plebejisch“ geprägten Handels- und Marktstadt Rom weiterentwickelt. Die für die Fortbildung des Rechts verantwortlichen Experten seien die stadtsässigen pontifices gewesen, deren Name von der lange Zeit einzigen Tiberbrücke Roms, dem pons sublicius, abzuleiten sei („Vindikationsmodell“ 1991, „Bodenhoheit“ 1992, „Gärten“ 2013).

Zu Beginn des 3. Jahrhunderts v. Chr. habe das damals den Plebejern durch Gesetz geöffnete Pontifikalkollegium die erste hellenistische, von Antisthenes begründete und von der Stoa (Zenon) fortgeführte Rechtstheorie rezipiert. Der erste in der langen Reihe der den Typus des hellenistischen iurisconsultus prägenden pontifices sei der Plebejer Sempronius Sophus (σοφός) gewesen. Das, was in Rom das ius Quiritium war, sei nach dieser Lehre als stadtbürgerliches Recht in historischer Zeit in allen städtischen Gemeinwesen in Kraft getreten, und zwar als überall besondere, aber gleichzeitig bei richtiger Interpretation ein universales ius civile aus sich entlassende Hinzufügung (προσθήκη) zu dem fortgeltenden Naturrecht (ius naturale), das als primäres ius gentium in das (allgemeine und dem Bürger vorbehaltene Regeln unterscheidende) ius civile eingeordnet worden sei. Das Naturrecht habe das Verhalten der Menschen untereinander geregelt, das hinzugefügte Recht hingegen die ihnen dauerhaft und formal zugeordneten Rechte. Leitwerte des Naturrechts seien bis in die Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. die Verlässlichkeit gegenüber Zusagen (fides) und das Verbot vorsätzlicher Schädigung (dolus) gewesen. Unter dem Einfluss der Lehren des stoischen Philosophen Antipatros von Tarsos seien die Anforderungen des Naturrechts erhöht worden: Man habe für Rechtsgeschäfte das Vertrauensprinzip (rezeptiv bona fides und Treu und Glauben) eingeführt, für Delikte die Haftung wegen mangelnder Sorgfalt (diligentia) und extensive Aufklärungspflichten des Verkäufers anerkannt. In der Verfassungswirklichkeit habe die aus dem Naturrecht abgeleitete Verpflichtung, sich für die Interessen Schwächerer einzusetzen, zu der – vom führenden Juristen seiner Zeit Publius Mucius Scaevola (pontifex maximus, consul 133) unterstützten – Siedlungspolitik des Tiberius Sempronius Gracchus (tribunus plebis 133) und, da sie schärfsten Widerstand seitens der „vested interests“ hervorrief, zum Beginn der länger als ein Jahrhundert währenden „Roman Revolution“ geführt („Tiberius Gracchus“ 1980, „Ius gentium antico“ 2009, „Verwebte Fäden“ 2013).

In der Jugendzeit Ciceros habe sich dann, begünstigt durch die sullanische Restauration (82 v. Chr.), über ein grundlegend neu konzipiertes Edikt eine liberal-humanistische Rechtstheorie durchgesetzt, die in Rom im Rahmen der von der skeptischen Akademie geprägten Rhetorikausbildung Fuß gefasst habe. Der seit 88 als Exilant in Rom lehrende Leiter der Akademie Philon von Larisa habe, als er als erster die Redekunst in das Lehrprogramm der Schule aufnahm, in einer entschiedenen Annäherung an die sophistische Tradition (Protagoras) dem Redner die Rolle des Gründers und Erhalters des Rechts zugewiesen. Der Redner habe nicht nur einst die Menschen davon überzeugt, den durch Gewalt bestimmten Naturzustand zugunsten einer Rechtsordnung zu verlassen, sondern stehe auch jetzt als idealer Staatsmann in der Pflicht, sie ständig in dieser rechtlichen Gesinnung zu bestärken. Der Mensch bleibe nach dieser Rechtstheorie zwar ein von Freiheits-, Besitz-, Paarungs- und Fortpflanzungsinstinkten getriebenes Lebewesen, das aber durch die Gründung eines Gemeinwesens nicht nur durch ein umfassendes Gewaltverbot domestiziert werde, sondern vor allem auch durch Institute (zum Beispiel Bürgerschaft, Eigentum, Ehe, Kindschaft) eine rechtliche Ordnung erhalte. Als Überbau über dem pactum conventum (der friedlichen wechselseitigen Übereinkunft) hätten sich die vier Konsensualverträge und als Überbau über der conventio (der einseitigen Übereinkunft) die drei Formalverträge etabliert. Eine weitere bedeutende Ordnungsquelle seien die sozialethischen Grundwerte: Auf ihnen beruhten die in factum konzipierten (auf eine vergangene, gegenwärtige oder zukünftige Handlung bezogenen) Rechtsmittel des Prätors. Literarisches Zentrum dieser Rechtslehre sei das klassische Edikt und der dazu verfasste klassische Ediktskommentar gewesen. Diese Werkgattung habe mit Servius Sulpicius Rufus begonnen, der als Studiengenosse Ciceros zunächst Redner, dann aber Jurist geworden war und seinen Ediktskommentar Brutus, dem Mörder Caesars, gewidmet hatte („Die geistige Mitte“ 2008, „Das Geheimnis“ 2007, „The Natural Freedom“ 2011).

Die Verfassung des Augustus vom Jahr 27 v. Chr. habe die „wiederhergestellte Republik“ unter eine monarchische Ausnahmegewalt gestellt, deren wichtigste Legitimation – im Rahmen der bewusst und mit dem Augustus-Namen plakativ aufgenommenen Tradition der auguralen Religion – die Sicherung des Rechtsfriedens (die pax Augusta) gewesen sei. Dieser „augurale“ Gesichtspunkt habe die auctoritas principis zum obersten Prinzip der gesamten Rechtsordnung erhoben. Die verfassungsrechtlich gesicherte auctoritas principis erkläre auch das Auftreten der beiden Rechtsschulen des Prinzipats, von denen die Sabinianer an die vorklassische, die Prokulianer an die klassische Tradition anknüpften. Beide republikanischen Rechtstheorien seien anerkannt geblieben, und folgerichtig habe man die führenden Vertreter beider Schulen mittels der Institution des ius respondendi ex auctoritate principis ermächtigt, das Recht fortzubilden. Diese gemeinsame Legitimationsquelle habe zwar eine Konvergenz der beiden philosophisch geprägten Systeme eingeleitet, eine Fülle von Kontroversen und eine dauernde geistige Grundspannung aber weiterhin bestehen lassen („Der Ort des Ius divinum“ 2003, „Princeps legibus solutus“ 2007, „Die Republik und die Gesetze“ 2008).

Justinians Kodifikation des römischen Rechts habe an dem Gedanken einer kaiserlich gewährleisteten Rechtsordnung festgehalten und den Anspruch erhoben, alle Kontroversen der beiden Rechtsschulen beseitigt zu haben. Seine Rechtsauffassung stehe in der Tradition Konstantins: Das Christentum habe damals zur religiösen Legitimation und als politisch-gesellschaftliche Stütze der Herrschaft der römischen Kaiser herangezogen werden können, weil dem römischen Recht in den christlichen Gemeinden schon vor Konstantin ein fester Platz zuerkannt worden war. Solange die aus der römischen Tradition kommende Rechtsordnung bestehe – so der in der Kaiserzeit unter Aufgabe der Naherwartung gereifte Gedanke –, werde die göttliche Providenz die Welt erhalten. Daher habe Justinian das römische Recht unter Berufung auf eine Trinität kodifiziert, deren geistige Kraft das Recht in einem ausschließlich römischen, bei Romulus beginnenden Geschichtsverlauf geschaffen habe. Diese Idee habe eine spezifisch romanistische Tradition begründet, in welcher der Rechtsgeist dieser (!) Trinität über die ratio scripta des Mittelalters, den „Geist“ der Gesetze Montesquieus bis zum „Volksgeist“ Savignys und Mommsens Staatsverständnis gereicht habe („Mommsens Glaube“ 2005, „Das staatliche Gesetz“ 2006, „Libaniosʼ Rede“ 2011).

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sei die Interpretation des römischen Rechts unter dem Einfluss der die Französische Revolution verarbeitenden idealistischen Rechtsphilosophie von einer einem präsentistischen Rechtssetzungswillen verpflichteten Rechtstheorie erfasst worden, wobei das bis dahin herrschende Leitbild des römischen Rechts als eines Freiheit und Zusammenarbeit organisierenden Ordnungssystems zugunsten eines sich in Rechtssetzungsakten immer neu hervorbringenden, seine Legitimation aus der Wahrnehmung der jeweiligen Lebensbedürfnisse ziehenden Phänomens aufgegeben worden sei. Diese Entwicklung sei in der Freirechtsbewegung und ihren Folgeerscheinungen gemündet, während die – nunmehr historische Disziplin gewordene – Romanistik die gleichen Einflüsse in der Interpolationistik verarbeitet habe. Diese Methode habe alle diejenigen antiken Quellen als unecht angezweifelt, die dem Ideal des genialen, sich auf die jeweilige Entscheidungsaufgabe konzentrierenden Fallrechtsjuristen widersprochen habe. Die Interpolationistik sei heute zwar im Wesentlichen verabschiedet, die Deutung des römischen Rechts als theorielose Kasuistik sei dagegen geblieben („Von der Freirechtsbewegung“ 1989, „Kants Taube“ 2011).

Das Unternehmen, die für die wissenschaftliche Grundlegung des römischen Rechts maßgebenden hellenistischen Rechtstheorien freizulegen, und die Nachweise, dass die beiden kaiserzeitlichen Rechtsschulen mit ihren Kontroversen auf zwei Philosophie-Rezeptionen der Republik zurückgehen, welche die römische Rechtswissenschaft nacheinander geprägt haben, die eine durch den Glauben an ein von einer providentiellen Vernunft gewolltes bürgerliches Recht, die andere durch die skeptische Überzeugung, dass die Hervorbringung eines solchen bürgerlichen Rechtes eine spezifisch humane Aufgabe ist, sind in der gegenwärtigen Romanistik umstritten („Die Grundbegriffe der Romanistik“ 1996, „Das Schiff des Theseus“ 2009, „Wie haben wir uns die römischen Juristen vorzustellen?“ 2011, „Corpus und Universitas“ 2013).

Die Rehabilitation der rationalen Gehalte des römischen Rechts habe auch Folgen für die Bewertung der Historischen Rechtsschule: Savignys System werde auf diese Weise als integrierende, die römischen Quellen höchst kreativ fortdenkende Verarbeitung derselben sichtbar. Jherings Rechtsdenken (nach seiner Wendung zum Zweckdenken) werde vom Vorwurf des Darwinismus befreit und als ein römisches Rechtsdenken selbständig verarbeitende Theorie erfahrungsgeleiteter Rechtsfortbildung erkennbar („Geschichte, Politik und Jurisprudenz“ 1985, „Jherings Evolutionstheorie“ 1998, 2. Auflage 2010, chinesische Übersetzung von Chun-Tao Lee 2010).

Der Nachweis, dass das römische Recht stets mit systematischen Antworten um die richtige Ordnung der menschlichen Verhältnisse bemüht gewesen sei und darauf sein kulturell allenthalben bis heute spürbarer Erfolg beruhe, erlaube auch historisch begründete Urteile über das geltende Recht sowie über die Bedingungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland seine Neugründung ermöglichten („Das Privatrecht“ 2000 [chinesisch 2011], „Die europäische Privatrechtskodifikation“ 2008).

Okko Behrendsʼ Dissertation „Die Geschworenenverfassung. Ein Rekonstruktionsversuch“ (1970) arbeitete die Bedeutung der öffentlich-rechtlichen Bereitstellungsordnung der ehrenamtlich tätigen Geschworenen heraus. Zentral war das (durch die lex Irnitana mittlerweile bestätigte) Ergebnis, dass nur vor dem Geschworenen, der von der „amtlichen“ Richterliste stammte, ein Einlassungszwang bestand. Die Einsetzung eines Prozesses mit einem gewählten Geschworenen verlangte dagegen die Zustimmung der Parteien noch im Augenblick der Prozessbegründung.

Die Habilitationsschrift „Der Zwölftafelprozeß. Zur Geschichte des Obligationsrechts“ (1974) zeigte, dass es zum Verständnis der „Zivilisierung“ der (ursprünglich bei Fälligkeit einer Schuldknechtschaft einen Haftungszugriff ermöglichenden) Kreditobligation nötig ist, Vertrags-, Prozess- und Vollstreckungsrecht zusammenzusehen. Dann erkenne man, dass die vom Zwölftafelgesetz verfolgte Absicht, den bei Fälligkeit nicht zahlenden Schuldner seiner Rolle eines geachteten Mitbürgers nicht verlustig gehen zu lassen, gleichzeitig in allen drei Phasen durch entsprechende Regelungen verwirklicht worden sei.

Der Beitrag zu Franz Wieackers 60. Geburtstag „Ius und Ius civile“ (1970) legte die religiöse Grundbedeutung des römischen Rechtsbegriffs frei. „Ius“ habe ursprünglich die zur Sicherung der pax deum auch unter Menschen für notwendig gehaltene Streit- und Konfliktfreiheit bezeichnet. Ius in diesem Sinne habe Freiräume menschlichen Handelns gegenüber dem in der Welt wirksam geglaubten Göttlichen wie gegenüber den Mitmenschen geschaffen.

Die Antrittsvorlesung „Institutionelles und prinzipielles Denken“ von 1976 (publiziert 1978) war ein Zugriff auf die Geschichte der römischen Rechtswissenschaft unter einer umfassenden rechtstheoretischen Fragestellung. Er legte im römischen Privatrecht mit dem Gegensatz „Institut und Prinzip“ einen methodischen Gegensatz frei, der gleichzeitig in Ronald Dworkins „Jurisprudence“ unter dem Gegensatz „rule and principle“ wieder aufgegriffen wurde.

Die Veröffentlichung in den Nachrichten der Göttinger Akademie „Die Wissenschaftslehre im Ius civile des Q. Mucius Scaevola“ (1976) legte die Grundlage für den in mehreren weiteren Arbeiten vertieften Nachweis des „sozialen Naturrechts“, das in der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. unter dem Einfluss des Antipatros (Antipater) von Tarsos von der römischen Jurisprudenz unter Führung des Publius Mucius Scaevola, des Vaters des Quintus Mucius Scaevola, aufgegriffen wurde und dadurch, dass ihm noch zu Lebzeiten des Quintus Mucius in der klassischen Jurisprudenz seit Servius ein grundsätzlicher Gegner erwuchs, der Ausgangspunkt für die im kaiserzeitlichen Schulenstreit fortgeführten Kontroversen geworden ist.

Der in der Antrittsvorlesung herausgestellte Gegensatz zwischen zwei grundverschiedenen rechtswissenschaftlichen Stilrichtungen wurde in zahlreichen Arbeiten nach seiner rechtsdogmatischen und rechtsphilosophischen Seite hin vertieft. So wurde etwa die kultur-anthropologische (nicht providentiell theologisch-pantheistische) Grundlegung des klassischen Rechts herausgearbeitet und die Grundverschiedenheit von Prämissenbildung und Argumentationsformen in den beiden rechtswissenschaftlichen Traditionen aufgezeigt (Le due giurisprudenze, in: „Scritti 'italiani'“ 2009).

Die zur Siedlungsgeschichte Roms gehörenden Arbeiten zum Grenzsystem („Grabraub und Grabfrevel“ 1978, „Die Rechtsformen des römischen Handwerks“ 1981) rücken in besonderer Anschaulichkeit vor Augen, dass das Recht zu seiner Geltung der nachhaltigen Realisierung bedarf. Ohne die archaische, in der (neolithischen) Logik der auguralen Religion hergestellte Grenzordnung („Bodenhoheit“) lässt sich weder der kaiserzeitliche Gegensatz zwischen dem (mit dem erweiterten ager Romanus zusammenfallenden) Boden italischen Rechts und dem Provinzialboden noch die für die Entwicklung der Verfügungsfreiheit so zentrale Geschichte der Grundstücksmanzipation verstehen („Nexum facere“ 2013, „Die Gärten“ 2013).

Die langjährige Mitarbeit an der Göttinger Akademie-Kommission „Die Funktion des Gesetzes in Geschichte und Gegenwart“ kulminierte in dem Nachweis, dass das moderne voluntaristische Gesetz des omnipotenten Staates, welches alleinige Rechtsquelle zu sein beansprucht, die Säkularisierungsform des biblischen Gesetzes darstellt und als solches dem Gesetz der römisch-rechtlichen Tradition entgegengesetzt ist, welches konkretisierende und fortbildende Arbeit an einer aus dem Zusammenleben von Menschen entstandenen, schon immer bestehenden, nicht durch Gesetz konstituierten Rechtsordnung ist („Der biblische Gesetzesbegriff“ 2006). In Bezug auf den römischen Gesetzesbegriff wurde herausgearbeitet, dass das Gesetz eine Verfassung, wie sie sich in der römischen Geschichte entwickelt hat und wie sie zugleich von verschiedenen zurückprojizierten Deutungen erfasst worden ist, wegen ihrer genossenschaftlich-vertraglichen Struktur gar nicht schaffen konnte („Die fraus legis“ 1982, „Der römische Gesetzesbegriff“ 1985/87, „Gesetz und Sprache“ 1995, „Der Vertragsgedanke“ 2004). Hinsichtlich des geltenden Rechts wurde der Gewinn an Regelungskraft verdeutlicht, den die Gesetze erlangen, wenn sie sich in ihren Bestimmungen auf eine gute, begriffliche Ordnung schaffende Dogmatik stützen können („Das Bündnis“ 1988).

Die langjährige Teilnahme an der von Okko Behrends zusammen mit Berthold Kupisch, Hans Hermann Seiler und Rolf Knütel vorgenommenen Übersetzung des Corpus iuris civilis führte zu einigen folgenreichen Beobachtungen: 1) Eine markante Stelle in den Institutionen ermöglichte die Erkenntnis, dass die Lehre, welche die Frauen auf die Vermittlung einer bloß uterinen Verwandtschaft beschränkte und nur den Männern die Begründung einer konsanguinen Abstammung zusprach, auf die dem männlichen Geschlecht einen kreativen Vorrang einräumende Stoa zurückging. Das klassische, um den Kunstbegriff der „persona“ zentrierte (von Justinian übernommene) System vertrat demgegenüber, der skeptischen Akademie folgend, die Gleichheit der Geschlechter, hielt aber an mehreren (von Justinian zumeist abgeschafften) Ungleichheiten als Gewohnheitsrecht fest, da diese als mos maiorum im Rahmen der skeptischen Rechtstheorie einer Begründung aus der universalen Vernunft nicht bedurften (Institutionenübersetzung, 2. Auflage, 1997, S. 284 ff., „Gender Equality“ 2013). – 2) Die Übersetzung der Einleitungskonstitutionen gewährte einen Einblick in die das römische Recht als geistige Kraft einbeziehende, insofern in der Tradition der Konstantinischen Wende stehende Gläubigkeit Justinians (Codex Iustinianus und Corpus Iuris Civilis 2000, „Der biblische Gesetzesbegriff“ 2006). – 3) Der Blick auf die Facsimile-Ausgabe der Florentina führte zur Wahrnehmung des (vielleicht von Tribonian bewusst gestalteten) „griechischsprachigen Portals“ der Digesten, gebildet aus der constitutio Δέδωκεν, den in griechischer „Garnitur“ auftretenden Indices auctorum et titulorum und dem über das Verhältnis zwischen Tribonian und Justinian reflektierenden Epigramm. Die in den bisherigen Ausgaben vorgenommene, den Handschriftenbefund missachtende Paralleledition von constitutio Δέδωκεν und Tanta wurde daher auf Behrendsʼ Vorschlag aufgegeben.

Des Weiteren beschäftigte sich Behrends ausführlich mit der Historische Rechtsschule und deren Einflüsse auf die spätere Zeit. In mehreren Arbeiten beschäftigte er sich mit Rudolf von Jhering (1818–1892), wobei er diesen von dem Vorwurf des Sozialdarwinismus befreite und als Urheber einer Evolutionstheorie des Rechts interpretierte („Das Rechtsgefühl“ 1986, „Rudolf von Jhering“ 1993) und mit Friedrich Carl von Savigny (1779–1861), auf dessen das Recht als „geschichtlich offenbarten Geist“ einbeziehende Gläubigkeit er aufmerksam machte („Geschichte, Politik und Jurisprudenz“ 1985). An Gustav Hugo (1764–1844) zeigte er im Rahmen einer mit einer kleinen Gibbon–Edition verbundenen Würdigung exemplarisch, dass die römischen Rechtsquellen ihrer inneren Spannung wegen auch einem kritischen (Immanuel Kants transzendentalen Kritizismus in Richtung eines kritisch beobachtenden Menschenverstands vereinfachenden) Geist reichlich Nahrung geben konnten („Gustav Hugo“ 1998).

In Bezug auf Heinrich Heine erklärte Behrends, warum dem Dichter die Jurisprudenz und das römische Recht, obwohl mit Erfolg studiert, fremd und in der damals herrschenden Erscheinungsform geradezu widerwärtig war: Das die Menschen um ihrer Freiheit willen trennende und in Sphären der Selbständigkeit konstituierende Recht war mit den die seelischen, zwischenmenschlichen Unterschiede poetisch aufhebenden Kräften seines in die Welt hineinwirkenden Dichtertums nicht vereinbar („Heine“ 2007).

Schließlich befasste sich Okko Behrends auch mit Carl Schmitts „konkretem Ordnungs- und Gestaltungsdenken“, dessen Erfolg auf einer durch die geniale Neuformulierung ganz unbemerkt gebliebenen Annektierung der zu seiner Zeit bereits auf breiter Front aufgenommenen Lehren der Freirechtsbewegung beruhte.

Schriften (Auswahl)

  • Die römische Geschworenenverfassung. Ein Rekonstruktionsversuch (= Göttinger rechtswissenschaftliche Studien. 80). Schwartz, Göttingen 1970, ISBN 3-509-00518-X (Zugleich: Göttingen, Universität, Dissertation, 1967).
  • Der Zwölftafelprozeß. Zur Geschichte des römischen Obligationenrechts (= Göttinger rechtswissenschaftliche Studien. 92). Schwartz, Göttingen 1974, ISBN 3-509-00747-6 (Zugleich: Göttingen, Universität, Habilitations-Schrift, 1972).
  • Die Wissenschaftslehre im Zivilrecht des Q. Mucius Scaevola pontifex (= Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-Historische Klasse. 1976, Nr. 7, ISSN 0065-5287). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1976.
  • Tiberius Gracchus und die Juristen seiner Zeit (Die römische Jurisprudenz gegenüber der Staatskrise des Jahres 133 v. Chr.). In: Klaus Luig, Detlef Liebs (Hrsg.): Das Profil des Juristen in der europäischen Tradition. Symposion aus Anlaß des 70. Geburtstags von Franz Wieacker. Gremer, Ebelsbach 1980, ISBN 3-88212-018-5, S. 25–121.
  • Die fraus legis. Zum Gegensatz von Wortlaut- und Sinngeltung in der römischen Gesetzesinterpretation (= Göttinger rechtswissenschaftliche Studien. 121). Schwartz, Göttingen 1982, ISBN 3-509-01289-5.
  • Der römische Gesetzesbegriff und das Prinzip der Gewaltenteilung. In: Okko Behrends, Christoph Link (Hrsg.): Zum römischen und neuzeitlichen Gesetzesbegriff (= Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Symposion der Kommission Die Funktion des Gesetzes in Geschichte und Gegenwart. 1 = Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse. Folge 3, Nr. 157). Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1987, ISBN 3-525-82439-4, S. 34–122.
  • als Herausgeber mit Rolf Knütel, Berthold Kupisch und Hans Hermann Seiler: Corpus Iuris Civilis. Text und Übersetzung. Auf der Grundlage der von Theodor Mommsen und Paul Krüger besorgten Textausgaben. Müller u. a., Heidelberg 1990–lfd. (5 Bände bis 2012).
  • Institut und Prinzip. Siedlungsgeschichtliche Grundlagen, philosophische Einflüsse und das Fortwirken der beiden republikanischen Konzeptionen in den kaiserzeitlichen Rechtsschulen. Ausgewählte Aufsätze. Herausgegeben von Martin Avenarius, Rudolf Meyer-Pritzl und Cosima Möller. 2 Bände. Wallstein, Göttingen 2004, ISBN 3-89244-832-9 (Sammlung von 19 Aufsätzen).
  • Princeps legibus solutus. In: Rainer Grote, Ines Härtel, Karl-E. Hain, Thorsten I. Schmidt, Thomas Schmitz, Gunnar F. Schuppert, Christian Winterhoff (Hrsg.): Die Ordnung der Freiheit. Festschrift für Christian Starck zum siebzigsten Geburtstag. Mohr Siebeck, Tübingen 2007, ISBN 978-3-16-149166-5, S. 3–20.
  • Detlef Liebs. In: Index. Quaderni Camerti di Studi Romanistici. 40, 2012, ISSN 0392-2391, S. 780–794.
  • Nexum facere et nectere (Un essai méthodique). In: Monique Clavel-Lévêque, Fatima Ouachour, Isabelle Pimouguet-Pédarros (Hrsg.): Hommes, cultures et paysages de l’Antiquité à la période moderne (= Enquêtes et documents. 44). Presses universitaires de Rennes, Rennes 2013, ISBN 978-2-7535-2143-8, S. 123–149.
  • Custom and Reason: Gender Equality and Difference in Classical Roman Law. In: Stephan Meder, Christoph-Eric Mecke (Hrsg.): Family Law in Early Women’s Rights Debates. Western Europe and the United States in the nineteenth and early twentieth centuries (= Rechtsgeschichte und Geschlechterforschung. 14). Böhlau, Köln u. a. 2013, ISBN 978-3-412-21052-6, S. 321–372.

Ein vollständiges Schriftenverzeichnis (bis zum Jahr 2009) findet sich in: Martin Avenarius, Rudolf Meyer-Pritzl, Cosima Möller (Hrsg.): Ars iuris. Festschrift für Okko Behrends zum 70. Geburtstag. Wallstein, Göttingen 2009, ISBN 978-3-8353-0420-8, S. 643–659.

Einzelnachweise

  1. Dazu Rezension bei perlentaucher.de. Abgerufen am 28. Dezember 2012.
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