Die russische Klavierschule oder russische Pianistenschule ist eine sich im 19. Jahrhundert entwickelnde russische Tradition der Kunst des Klavierspiels, die sich von ihren ersten Anfängen zu Beginn des Jahrhunderts bis zu ihren ersten Triumphen mit dem Erscheinen der ersten Konservatorien in Sankt Petersburg und Moskau und ihrer Gründer entwickelte, der Brüder Rubinstein (Anton und Nikolai Rubinstein). Die ‚Stammbäume‘ der Schüler von Theodor Leschetizky und Nikolai Rubinstein geben Aufschluss über ihre musikalische Abstammung.
Vertreter
Namen von russischen Pianisten wie Sergei Rachmaninow, Vladimir Horowitz, Swjatoslaw Richter, Emil Gilels, Wladimir Aschkenasi, Alexander Goldenweiser, Samuil Feinberg, Tatjana Nikolajewa, Jewgeni Kissin, Michail Pletnjow und Daniil Trifonow verdeutlichen deren beeindruckende Interpretationskunst im 20. und 21. Jahrhundert.
In der Sowjetunion standen in den 1920er Jahren Persönlichkeiten wie Alexander Glasunow, Boleslaw Jaworski, Nikolai Mjaskowski, Heinrich Neuhaus und Leonid Nikolajew am Anfang dieses Ausbildungssystems.
Inhalte
Eine unter dem deutschen Titel Die Russische Klavierschule im Verlag Hans Sikorski in Hamburg veröffentlichte Klavierschule (2 Bände, mit ergänzendem weiterführenden Spielband) von Alexander Nikolajew (1903–1980) steht in der Tradition dieser Schule. Eine Art Dienstgeheimnis darin wird in den Methodischen Hinweisen vorangestellt, mit einem Zitat des bedeutenden Pianisten und Klavierpädagogen Heinrich Neuhaus (1888–1964; ein bedeutender russischer Pianist, Musikpädagoge und Verfassers eines Klassikers der Klavierpädagogik, der Lehrer von Swjatoslaw Richter, Anatoli Wedernikow und Emil Gilels), der die Aufgabe des Anfängerunterrichts so formulierte:
„Die Arbeit an der künstlerischen Gestaltung muss bereits im Anfangsunterricht beim Erlernen der Noten beginnen. Ich will damit sagen: Schon wenn ein Kind irgendeine ganz einfache Melodie wiedergeben kann, muss angestrebt werden, dass dieser Vortrag ausdrucksvoll ist, das heißt, dass der Charakter der Wiedergabe genau dem Charakter (und dem Gehalt) der betreffenden Melodie entspricht.“
Josef Lhévinne widmet in seinem Basic Principles in Pianoforte Playing ein langes Kapitel dem Geheimnis eines schönen Tons, in dem er erklärt, wie ein „klingender, singender“ Ton erreicht werden soll:
“The main principle at first is to see that the key is touched with as resilient a portion of the finger as possible, if a lovely, ringing, singing tone is desired … Just a little further back in the first joint of the finger, you will notice that the cushion of flesh is apparently more elastic, less resistant, more springy. Strike the key with this portion of the finger, not on the fingertips as some of the older European methods suggested …”
„Das Hauptprinzip ist zunächst, die Taste mit einem möglichst elastischen Teil des Fingers zu berühren, wenn ein schöner, klingender, singender Ton gewünscht wird … Etwas weiter hinten im ersten Fingergelenk werden Sie feststellen, dass das Fleischpolster scheinbar elastischer, weniger widerstandsfähig, federnder ist. Schlagen Sie die Taste mit diesem Teil des Fingers an, nicht mit den Fingerspitzen, wie einige der älteren europäischen Methoden vorschlugen …“
Er betont auch die Rolle, die das freie Handgelenk und der freie Arm bei der Erzeugung eines guten Tons spielen:
“... the wrist [is] still held very flexible so that the weight of the descending hand and arm carries the key down to key bottom, quite without any sensation of a blow. […] when the hand descends, as large a surface of the fingertip as feasible engages the key; and the wrist is so loose that it normally sinks below the level of the keyboard.”
„… das Handgelenk [wird] immer noch sehr flexibel gehalten, so dass das Gewicht der absteigenden Hand und des Arms die Taste bis zum Tastenboden trägt, ganz ohne das Gefühl eines Schlags. […] wenn sich die Hand absenkt, liegt eine möglichst große Fläche der Fingerspitze auf der Taste auf; und das Handgelenk ist so locker, dass es normalerweise unter das Niveau der Tastatur sinkt.“
Der russisch-tatarische Pianist Rustem Hayroudinoff weist darauf hin, dass diese letzte Passage von besonderem Interesse sei, da sie bezeuge, dass Horowitz’ berühmte Technik des flachen Fingers mit tiefem Handgelenk keine bloße Kuriosität war, sondern ein integraler Bestandteil eben dieser Tradition, die er bei der Verfolgung seines Ideals eines singenden Tons auf die Spitze trieb.
Der polnische Pianist Józef Hofmann (1876–1957) studierte bei Moritz Moszkowski und Eugen d’Albert, und er war einer der wenigen Privatschüler Anton Rubinsteins in Dresden. In seinem Buch Piano Playing: A Little Book of Simple Suggestions (Klavierspiel. Ein kleines Buch mit einfachen Vorschlägen) berichtete er im letzten Kapitel, wie Rubinstein ihn das Spiel lehrte (How Rubinstein taught me to play).
Obwohl beispielsweise über den irischen Komponisten und „Schöpfer des Nocturnes“ John Field (1782–1837) in Russland wenig bekannt ist, hat er zweifellos einen wesentlichen Beitrag zu Konzerten und Unterricht sowie zur Entwicklung der russischen Klavierschule geleistet.
Von Alain Lompech wurden die Fragen aufgeworfen, ob es die russische Klavierschule schon gab, bevor sie benannt wurde, und ob sie erst durch die Namensgebung existent wurde.
Siehe auch
Literatur
- Heinrich G. Neuhaus: Die Kunst des Klavierspiels: Musikverlage Hans Gerig, 1967 (Ob iskusstwe fortepiannoi igry; dt.)
- Josef Lhévinne: Basic Principles in Pianoforte Playing. Dover Publications, New York 1972, ISBN 0-486-22820-7 (Repr. d. Ausg. Philadelphia, Penn. 1924)
- Josef Hofmann: Piano Playing: A Little Book of Simple Suggestions. NY, 1908 (u. a.*)
- Irena Kofman: The history of the Russian piano school: individuals and traditions. Ann Arbor, MI : UMI Dissertation Services, 2003, ©2001 worldcat.org
- Christopher Barnes (Hrsg.): Russian Piano School: Russian Pianists and Moscow Conservatoire Professors on the Art of the Piano. Kahn & Averill, London 2007 (worldcat.org – mit Inhaltsübersicht)
- Die Russische Klavierschule, Band I. Hans Sikorski, Hamburg 1999, ISBN 3-920880-68-4, Zusammenstellung und Redaktion der deutschen Ausgabe: Julia Suslin
- Die Russische Klavierschule, Band II. Hans Sikorski, Hamburg 2001, ISBN 3-920880-69-2.
- Die Russische Klavierschule, Ergänzender Spielband. Hans Sikorski, Hamburg 2009, Zusammenstellung und Redaktion: Julia Suslin
Weblinks
- What is the Russian Piano School? (Rustem Hayroudinoff)
- The history of the Russian piano school: Individuals and traditions (Abstract) (Irena Kofman)
- À la recherche de l’école russe (Alain Lompech)
- „Russische Schule kommt nicht aus den Wäldern“ – Axel Brüggemann (über Mikhail Pletnev)
- «Русская фортепианная школа сиротеет с каждым днем» - Ольга Завьялова, Виктория Иванова, “Известия” (zum Tod von Wera Gornostajewa)
Einzelnachweise und Fußnoten
- ↑ The history of the Russian piano school: Individuals and traditions (Abstract) (Irena Kofman)
- ↑ Julia Suslin, Vorwort zur deutschen Ausgabe der Russischen Klavierschule, Band I, Hamburg, im Frühjahr 1999 (Die Klavierpädagogin Julia Suslin ist Verfasserin der deutschen revidierten und erweiterten Ausgabe.)
- ↑ russisch Анатолий Иванович Ведерников / Anatoli Iwanowitsch Wedernikow
- ↑ Heinrich Neuhaus, zitiert nach: Russische Klavierschule, Band I, Hamburg 1999, Methodische Hinweise zu Band I
- ↑ Josef Lhévinne, zitiert nach: What is the Russian Piano School? – hayroudinoff.com
- ↑ Josef Lhévinne, zitiert nach: What is the Russian Piano School? – hayroudinoff.com
- ↑ russisch Рустем Авзалович Хайрутдинов
- ↑ Auf seiner sich mit der Russischen Klavierschule beschäftigenden Webseite What is the Russian Piano School? – hayroudinoff.com.
- ↑ vgl. Patrick Piggott: The Life and Music of John Field, 1782–1837, Creator of the Nocturne. University of California Press. 1973. ISBN 978-0-520-02412-0 (Online-Teilansicht)
- ↑ À la recherche de l’école russe (Alain Lompech)
- ↑ russisch Об искусстве фортепианной игры, wiss. Transliteration Ob iskusstve fortepiannoj igry
- ↑ Die dem französischen Pianisten Alain Lompech zufolge jedoch nichts spezifisch Russisches in der Lehre aufzeigt. („[…] n’expose rien qui soit spécifiquement russe dans l’enseignement“ (À la recherche de l’école russe – pianiste.fr))