Die Schüsse auf Wahlhausen waren ein Grenzzwischenfall im Vorfeld der Wende an der innerdeutschen Grenze zwischen Hessen und Thüringen bei Wahlhausen. Unbekannte hatten in der Nacht vom 17. auf den 18. August 1989 von einem Standort in Hessen Schüsse aus einer Kleinkaliberwaffe auf Wahlhausen abgefeuert, ohne dabei Personen zu treffen. Insgesamt wurden 91 Schüsse gezählt. Die Identität der Täter und die Hintergründe sind bis heute ungeklärt.

Geschichtlicher und geographischer Hintergrund

Im Sommer 1989 stand die DDR kurz vor ihrem Ende. Verschiedene Ereignisse in den vorangegangenen Monaten von den Verhaftungen auf der Berliner Liebknecht-Luxemburg-Demonstration über das Verbot des Sputnik bis zu den Wahlfälschungen bei den Kommunalwahlen 1989 führten zu vermehrtem Protest und Unzufriedenheit in der DDR. Juli und August 1989 waren vor allem durch die Welle der Botschaftsflüchtlinge aus der DDR in Ungarn und der Tschechoslowakei geprägt. Am 19. August 1989 fand das öffentlichkeitswirksame Paneuropäische Picknick, eine Demonstration an der ungarisch-österreichischen Grenze, statt.

An der Grenze bei Wahlhausen wurden in dieser Zeit Grenzsoldaten abgezogen und an der Grenze zur Tschechoslowakei eingesetzt, um dort die Flüchtlingsströme einzudämmen. Das Grenzgebiet an der Werra, die eine natürliche Grenze zwischen den betroffenen Ortschaften Bad Sooden-Allendorf (Hessen) und Wahlhausen bildete, galt dabei als relativ ruhig, so dass eine Verminderung der dortigen Grenztruppen als unproblematisch angesehen wurde.

Schüsse auf Wahlhausen und kriminalistische Untersuchungen

Über 45 Minuten lang wurden in der Nacht vom 17. auf den 18. August (Donnerstag auf Freitag) 1989 kurz vor Mitternacht Schüsse auf grenznahe Gebäude in Wahlhausen abgefeuert. Verschiedene dieser Gebäude wurden beschädigt, einzelne Projektile schlugen durch Fensterscheiben und in die Innenräume ein. Menschen kamen jedoch nicht zu Schaden. Die Schüsse fielen genau in einem Zeitfenster, in dem die Grenzgänge des Bundesgrenzschutzes an anderer Stelle stattfanden. Obwohl die Grenzüberwachung der DDR eine der schärfsten der Welt war, erfolgte kein Alarm und keine Information des Bundesgrenzschutzes, die hierfür vorgesehene Telefonleitung zwischen DDR-Grenztruppen und Bundesgrenzschutz wurde von der DDR nicht genutzt. Stattdessen waren wenige Stunden nach der Tat Journalisten der Aktuellen Kamera vor Ort. Der Bundesgrenzschutz erfuhr erst durch die Veröffentlichung von ADN von dem Vorfall.

Sowohl im Osten als auch im Westen wurden sofort polizeiliche Untersuchungen aufgenommen. Die Vorgänge wurden dabei in der DDR, da es sich um für die Sicherheit des Staates relevante Vorfälle handelte, vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) statt von der Kriminalpolizei untersucht. Am Tatort auf westlicher Seite wurden von der hessischen Landespolizei insgesamt 91 Patronenhülsen einer kleinkalibrigen Waffe sichergestellt, verwertbare Spuren wie Fußabdrücke oder ähnliches ließen sich in einem Stoppelfeld, von dem aus die Schüsse abgefeuert wurden, sowie an der Uferböschung, an der sich ebenfalls Patronenhülsen fanden, jedoch nicht feststellen. In Wahlhausen stellten die zuständigen Volkspolizisten und Sonderermittler mindestens 50 Einschläge in zwei Wohnhäuser, einen Grenzposten und eine Kirche fest.

Darstellung der Vorfälle von offizieller DDR-Seite

In der DDR wurden die Schüsse als vom Westen gesteuerte „Provokationen“ dargestellt. Gerhard Müller, Erster Sekretär der Bezirksleitung der SED im Bezirk Erfurt, wurde von ADN mit den Worten zitiert, es sei „eine der schlimmsten Provokationen an der Grenze zur BRD“ gewesen, die nach Kriegsende vorgekommen seien. Am Morgen des 18. August erfolgte ein Protest der Ständigen Vertretung der DDR beim Kanzleramt gegen den „schwerwiegenden provokatorischen Anschlag“. In dieser Note wurde gefordert, unverzüglich „Maßnahmen zur Unterbindung derartiger verbrecherischer Anschläge“ einzuleiten.

Vermutungen bezüglich der Täterschaft

Da seitens der Grenztruppen der DDR kein Alarm geschlagen wurde und auch eine speziell für solche Vorfälle eingerichtete Telefonleitung zum Bundesgrenzschutz nicht genutzt wurde, sowie aufgrund des Umstands, dass sich kurze Zeit nach der nächtlichen Tat bereits mehrere DDR-Journalisten in dem verschlafenen Ort befanden, und weiterer Indizien mutmaßten viele Wahlhausener, darunter auch der spätere erste Bürgermeister Wahlhausens nach der Wende, Horst Zbierski, dass es sich um eine Aktion der DDR-Behörden gehandelt haben könnte, um von den massiven Problemen mit Flüchtlingen und aufkeimenden Protesten im Land abzulenken. Der damals zuständige Polizeihauptkommissar des Werra-Meißner-Kreises in Hessen, Wolfgang Ruske, kam nach langjährigen, zunächst beruflichen, später auch privaten, umfangreichen Recherchen ebenfalls zu diesem Schluss.

Nach der Tat ging beim Bundesgrenzschutz in Kassel ein anonymer Hinweis ein, nach dem die Schützen unter den Teilnehmern einer Feiergesellschaft zu finden seien. Demnach seien Angehörige einer hessischen Landadelsfamilie, deren ehemalige und durch die innerdeutsche Teilung verlustig gegangene Liegenschaften auf der anderen Flussseite lagen, unter starkem Alkoholeinfluss auf die Idee gekommen, ihrer immer noch bestehenden Wut über den Verlust mit Schüssen auf die betreffenden Immobilien und ihre Bewohner Luft zu machen. Die Staatsanwaltschaft Kassel ging den Hinweisen unter anderem mit einem Rechtshilfeersuchen zwecks Feststellung der damaligen Besitzverhältnisse an die DDR-Behörden nach, das jedoch nicht beantwortet wurde. Im Februar 1991 stellte die Staatsanwaltschaft Kassel die Untersuchungen gegen Unbekannt wegen versuchter vorsätzlicher Tötung mangels verwertbarer Hinweise ein. Auch den nach der Wende öffentlich gemachten Akten der Stasi konnten keine zielführenden Hinweise entnommen werden.

Siehe auch

  • Hartmut Ferworn, nach einer Falschmeldung der DDR-Medien im September 1989 angeblich entführter Mitropa-Koch
Commons: Schüsse auf Wahlhausen – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. „Endzeitstimmung unter Generälen“ Thüringer Allgemeine, 21. März 2009 (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im Mai 2019. Suche in Webarchiven.)  Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
  2. Die Zeit, 1. September 1989
  3. Solveig Grothe: Schüsse auf die DDR; in: Spiegel Online
  4. Mitteldeutsche Zeitung, 13. August 2009
  5. Solveig Grothe: Schüsse auf die DDR; in: Spiegel Online
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