Die Testamente der zwölf Patriarchen sind eine pseudepigraphe Schrift. Sie ist als Sammlung der Abschiedsreden der zwölf Söhne Jakobs konzipiert, die als Väter der Zwölf Stämme Israels gelten. In ihrer Endgestalt ist sie christlich und wohl in das dritte Jahrhundert zu datieren.
Quellen und Überlieferung
Die Patriarchentestamente sind nur in mittelalterlichen Manuskripten erhalten. Die beste Textqualität bieten noch die griechischen Handschriften, die von der Forschung jedoch verschieden bewertet werden. Kritische Texteditionen gibt es von Charles und de Jonge (s. u.).
Neben der griechischen Überlieferung gibt es Übersetzungen in das Armenische, Slawische und Neugriechische. Diese Versionen werden heute in der Regel als von der griechischen Tradition abhängige Seitenlinien betrachtet, die nur begrenzten Wert für die Rekonstruktion eines etwaigen Originaltextes haben.
Annahmen eines semitischen (d. h. hier: aramäischen oder hebräischen) Originals haben sich in der Wissenschaft nicht durchsetzen können, auch wenn dies nicht ausgeschlossen werden kann. Zumeist geht man aber von einer griechischen Grundschrift aus, die dem hellenistischen Judentum zuzuordnen sei.
Dessen ungeachtet existieren ein hebräisches Testament Naphtali, der Midrasch Wayissa’u und Passagen im Buch der Jubiläen, die einen Zusammenhang mit den Patriarchentestamenten erkennen lassen. Sie sind jedoch nicht als Vorlage zu bewerten.
Anders verhält es sich mit dem Aramäischen Levi-Dokument, von dem Fragmente in der Kairoer Geniza und in Qumran gefunden wurden. Teile davon finden sich zum Teil wörtlich in den Patriarchentestamenten wieder. Allerdings ist nicht zu bestimmen, inwieweit das aramäische Levi-Dokument selber schon ein „Testament“ war, oder ob es nur auszugsweise von den Verfassern der Patriarchentestamente benutzt wurde.
Entstehung
Über die Entstehung gibt es einigen wissenschaftlichen Streit. Im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte sich ausgehend von R. H. Charles die Theorie durch, dass es sich bei den Testamenten der zwölf Patriarchen um eine ursprünglich jüdische Schrift aus der Makkabäerzeit handelte, die später durch christliche Zufügungen (Interpolationen) überarbeitet wurde. Kronzeuge dieser Theorie ist die armenische Version, die weit weniger christliche Passagen aufweist als die griechischen Zeugen.
Ab Mitte des 20. Jahrhunderts wurde diese Sicht zunehmend angezweifelt. In seiner Dissertation von 1953 veröffentlichte M. de Jonge seine These, dass es gar keine Grundschrift gebe, sondern die Patriarchentestamente durch eine christliche Redaktion jüdischen Materials entstanden seien. Dieser Argumentation sollte der Nachweis der These dienen, dass der hohe Stellenwert, der den armenischen Textzeugnissen eingeräumt wurde, nicht berechtigt sei.
Obwohl dies auch von anderen Forschern eingeräumt wird, teilen sie seine daraus gezogenen Schlussfolgerungen nicht. Von Hultgård, Becker und zuletzt Ulrichsen wurden neue Versuche unternommen, die Interpolationstheorie zu verteidigen und eine jüdische Grundschrift allein auf Grundlage der griechischen Zeugen zu rekonstruieren. Hier werden neben textkritischen vor allem auch literarkritische Argumente ins Feld geführt, die schon Schnapp zu einer Interpolationstheorie unabhängig von Charles gebracht hatten.
Doch auch diese Methode wurde grundsätzlich in Frage gestellt, nicht zuletzt aufgrund der sehr unterschiedlichen Grundschriften, die durch sie rekonstruiert wurden. So war es nur eine Frage der Zeit, dass ein Entwurf zu einer synchronen Interpretation der Testamente der zwölf Patriarchen vorgelegt wurde, in dem das Nebeneinander von jüdischen und christlichen Passagen nicht als Ergebnis einer Interpolation oder Redaktion, sondern als intendierte Einheit betrachtet wird. Demnach wären die Patriarchentestamente eine judenchristliche Schrift, die bewusst versucht, Jüdisches und Christliches miteinander zu verbinden.
Form und Inhalt
Die Testamente der zwölf Patriarchen sind typische Abschiedsreden, wie man sie auch aus der biblischen Literatur kennt. Sie beginnen mit der Schilderung, dass die Patriarchen in der Stunde ihres Todes ihre Angehörigen um sich versammeln, um ihnen eine letzte Mahnung noch mit auf den Weg zu geben, und schließen entsprechend mit der Mitteilung des Todes und einer kurzen Notiz über ihr Begräbnis.
Typischerweise beginnt die Rede des Vorfahren mit einem Rückblick auf sein Leben. Hier ist eine für die pseudepigraphe Literatur typische Tendenz zu erkennen, die Lücken innerhalb des biblischen Erzählstoffes aufzufüllen. So entfaltet Ruben die Geschichte mit Bilha, der Nebenfrau seines Vaters; Levi nennt Details aus der Dina/Sichem-Episode, und immer wieder im Mittelpunkt steht die Josephsgeschichte, die vor allem von Joseph selbst und von Sebulon intensiv behandelt wird. Dem Leser werden unbekannte Details, aber auch Gefühle und Motive der handelnden Personen erzählt, die im biblischen Bericht nicht vorkommen.
Diese biographischen Notizen werden zum Anlass genommen, in ernsthafte moralische Ermahnung überzugehen. Entweder in der Mahnung, es besser zu machen als die eigenen Väter und deren Untugenden zu meiden (so z. B. die Unzucht bei Ruben oder der Neid bei Simeon), oder aber in der Ermutigung, deren Tugenden nachzuleben (die Einfachheit bei Issachar oder die Güte bei Joseph).
Auf diese Ermahnungen folgen Verheißungen für die Zukunft: Drohungen mit Unheil und Exil, sollten sich die Nachfahren nicht an die Worte ihrer Vorfahren halten, und Versprechungen bezüglich einer Rückkehr in das Land, Gottesnähe, wenn sie sich wieder bekehren und den Worten ihrer Väter folgen. Diese Passagen zeigen zuweilen apokalyptische Züge, weil Visionen geschildert werden oder das Heil als Sieg über Beliar und seine Geister dargestellt wird.
Vor allem in den Zukunftsweissagungen begegnen auch christliche Elemente. Sowohl die Passagen, was die Schuld der Nachkommen betrifft, als auch die Verheißungen des künftigen Heils werden immer wieder so zugespitzt, dass sie eigentlich nur auf Jesus Christus hin gedeutet werden können. Wieweit diese Elemente sekundäre Zufügungen darstellen, ist umstritten.
Theologie
Ethik
Die Ethik der Patriarchentestamente unterscheidet sich nicht wesentlich von dem, was aus dem hellenistischen Judentum oder dem frühen Christentum schon bekannt ist. Tugend und Anstand stehen im Mittelpunkt der Ermahnungen, Neid und Unzucht sind verwerflich. Über diese Allgemeinplätze hinaus sind dennoch ein paar Auffälligkeiten festzustellen:
Eine große Rolle spielen Mitleid und Erbarmen. Die Fähigkeit zu Empathie wird zu einem wichtigen Gradmesser moralischen Handelns. Mitleidlosigkeit habe die Brüder an Joseph schuldig werden lassen, dieser aber erbarmt sich seiner Brüder, weil er Mitleid mit ihnen verspürte, und vergab ihnen ihre Schuld.
Damit verwandt ist die Betonung der Liebe (agape) im Rahmen der ethischen Ermahnungen. Wie sonst nur in wenigen jüdischen Schriften dieser Zeit begegnet das doppelte Liebesgebot, die Forderung, Gott und den Menschen zu lieben. Ob die Patriarchentestamente damit zu einem Kronzeugen dafür werden, dass es diesen Topos schon vor Jesus gegeben hat, ist auch von der Antwort auf die Frage nach der Entstehungsgeschichte abhängig.
Eschatologie
In der Eschatologie wird nach dem Gericht eine endgültige Zuwendung Gottes angekündigt. Auffällig ist, dass die dafür notwendige Umkehr nicht so sehr eine religiöse Erneuerung darstellt, dass also der Glaube oder der Gottesdienst erneuert würde (wie das in anderen jüdischen Reformbewegungen gefordert wurde), sondern dass eine rein moralische Umkehr im Vordergrund steht. In der Endfassung gilt die Heilsverheißung Israel und den Heidenvölkern gleichermaßen, manche Forscher halten diesen Heilsunviversalismus aber schon für christlich.
Mit Sicherheit als christlich muss die Aussage angesehen werden, dass Gott am Ende der Zeit selbst als Mensch erscheinen wird und in Niedrigkeit und Demut sein Volk besucht und begleitet. Hier ist erkennbar Jesus Christus gemeint.
Anders sieht es mit der Ankündigung eines Retters aus Levi und Juda aus. Diese wohl zunächst ganz menschliche Figur wird nur in einigen Passagen in christlicher Weise auf Jesus bezogen. Priesterkönigliche Rettergestalten finden sich entweder als Vorstellung eines idealen Zweiergespanns aus zwei Messiassen (z. B. aus Aaron und Israel in den Qumranschriften) oder als eine Figur in den Berichten vom Priesterkönigtum der Makkabäer und schließlich in Rekurs auf Melchisedek als idealisierten Priesterkönig der Väterzeit.
Christliche Theologie
Auf der christlichen Ebene interpretiert ist auffällig, dass nicht von einem Ersatz Israels durch die Heidenvölker die Rede ist, sondern dass beide Adressaten von Gottes Heilshandeln bleiben. Dazu passt, dass gerade da, wo von Israels Schuld am Tod Jesu die Rede ist, die Patriarchen für unschuldig an diesem Handeln erklärt werden. So wird die Schuld und Verantwortung nicht dem Volkskollektiv, sondern einer konkreten Gruppe einer konkreten Generation angelastet. Durch die Zerstörung des Tempels hat Gott diese Schuldigen in der Sicht der Patriarchentestamente zu recht bestraft, und nun steht die Zeit für die Zuwendung Gottes zu seinem Volk unmittelbar bevor.
Auch die Vorstellung, dass in der menschlichen Gestalt Jesu Christi Gott selbst sein Volk besucht, ist zumindest für das 3. Jahrhundert recht ungewöhnlich, weil Vertreter derartiger Vorstellungen von Tertullian und Hippolyt als „Patripassiani/Theopaschiten“ verurteilt wurden. In der Tat ist in einer Stelle der Testamente, wo auf den Tod Jesu angespielt wird, wörtlich vom „Leiden des Höchsten“ die Rede.
Auch die genealogische Ableitung Jesu aus den Stämmen Levi und Juda ist für christliche Autoren höchst ungewöhnlich. Während die Davidssohnschaft Jesu für die christliche Tradition eine feste Größe darstellte, liest man von einer levitischen Abkunft Jesu in den bekannten christlichen Quellen gar nichts. Wenn eine priesterkönigliche Würde Jesu ausgesagt werden sollte, tat man dies mit Rekurs auf Psalm 110 in Blick auf die Gestalt Melchisedeks – so zum Beispiel der Hebräerbrief. Dort wird das levitische Priestertum als eine Art Umweg dargestellt, während das Priesterkönigtum Melchisedeks von der Urzeit bis zur Endzeit das eigentlich wahre Hohepriestertum darstelle. Jesus Christus nun ausgerechnet mit dem Stamm Levi genealogisch zu verbinden und so doppelt in das jüdische Volk und dessen Heilsgeschichte zurückzubinden, ist für das 3. Jahrhundert vollkommen außergewöhnlich.
Diese Besonderheiten machen zumindest für die christliche Endgestalt eine judenchristliche Verfasserschaft plausibel.
Literatur
- Textausgaben
- Jürgen Becker: Die Testamente der zwölf Patriarchen (= Jüdische Schriften in hellenistisch-römischer Zeit. III: Unterweisung in lehrhafter Form; Lieferung 1). 2. Auflage. Verlagshaus Mohn, Gütersloh 1980, ISBN 3-5790-3931-8.
- Robert Henry Charles: The Greek Versions of the Testaments of the Twelve Patriarchs. Olms, Hildesheim 1960 (Nachdruck der Ausgabe Oxford 1908).
- Harm W. Hollander, Marinus De Jonge: The Testaments of the Twelve Patriarchs. A Commentary (= Studia in veteris testamenti pseudoepigrapha; Band 8). Brill, Leiden 1985, ISBN 90-04-07560-7.
- Marinus de Jonge (Hrsg.): The Testaments of the Twelve Patriarchs. A critical edition of the greek text (= Pseudoepigrapha veteris testamenti graece; Band I/2). Brill, Leiden 1978, ISBN 90-04-05826-5.
- Howard C. Kee: Testaments of the Twelve Patriarchs. In: James H. Charlesworth (Hrsg.): The Old Testament Pseudepigrapha. Band 1. Doubleday, Garden City, N.Y. 1983, ISBN 0-385-09630-5, S. 775–828.
- Michael E. Stone: The Testament of Levi. A first Study of the Armenian Mss. of the Testaments of the XII Patriarchs in the Convent of St. James, Jerusalem. St. James Press, Jerusalem 1969 (teilweise in armenischer Schrift).
- Studien
- Jürgen Becker: Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte der Testamente der zwölf Patriarchen (= Arbeiten zur Geschichte des antiken Judentums und des Urchristentums; Band 8). Brill, Leiden 1970 (Habilitationsschrift, Universität Bochum 1968).
- Anders Hultgård: L’eschatologie des testaments des Douze Patriarches. Almqvist & Wiksell International, Uppsala 1977/82.
- Interpretation des textes (= Historia religionum; Band 6). 1977, ISBN 91-554-0677-7.
- Composition de l’ouvrage, textes et traductions (= Historia religionum; Band 7). 1982, ISBN 91-554-1240-8.
- Marinus de Jonge: The Main Issues in the Study of the Testaments of the Twelve Patriarchs. In: Derselbe: Jewish Eschatology, Early Christian Christology and the Testaments of the Twelve Patriarchs. Collected Essays (= Supplementum to Novum Testamentum; Band 63). Brill, Leiden 1991, ISBN 90-04-09326-5, S. 147–163.
- Marinus de Jonge: The Testaments of the Twelve Patriarchs. A Study of their Text, Composition and Origin (= Van Gorcums theologische Bibliotheek; Band 25). Van Gorcum Press, Assen 1953.
- Philipp Kurowski: Der menschliche Gott aus Levi und Juda. Die „Testamente der zwölf Patriarchen“ als Quelle judenchristlicher Theologie (= Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter; 52). Francke, Tübingen 2010, ISBN 978-3-7720-8384-6.
- Friedrich Schnapp: Die Testamente der zwölf Patriarchen. Niemeyer, Halle 1884.
- Jarl H. Ulrichsen: Die Grundschrift der Testamente der zwölf Patriarchen. Eine Untersuchung zu Umfang, Inhalt und Eigenart der ursprünglichen Schrift (= Acta Universitatis Upsaliensis. Historia religionum; Band 10). Almqvist & Wiksell, Stockholm 1991, ISBN 91-554-2833-9.
Weblinks
- Textausgaben
- R. H. Charles: engl. Übers., in: The Apocrypha and Pseudepigrapha of the Old Testament, Bd. 2, Oxford: Clarendon Press 1913
- Robert Sinker: engl. Übers., in: Alexander Roberts / James Donaldson / A. Cleveland Coxe: Ante-Nicene Fathers, Bd. 8, Buffalo, NY: Christian Literature Publishing Co. 1886 andere Ausgabe
- Sekundärliteratur
- Michael Tilly: Testamente der 12 Patriarchen. In: Michaela Bauks, Klaus Koenen, Stefan Alkier (Hrsg.): Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (WiBiLex), Stuttgart 2006 ff.
- Thomas Knittel: Bibliographie, Einführung und Inhaltsübersicht, Leipzig 1999
- Crawford Howell Toy / Frederick C. Conybeare / Kaufmann Kohler: Artikel, in: Jewish Encyclopedia 1901–1906 veralteter Forschungsstand