Verbalinspiration bezeichnet eine Ausformung der Inspirationslehre, nach der die Bibel bis in den Wortlaut hinein von Gott inspiriert sei. Damit verbunden wird traditionell der Glaube an die Unfehlbarkeit und Widerspruchsfreiheit der Bibel.

Vorkommen und Ausformung

Die Lehre der Verbalinspiration wurde im 17. Jahrhundert innerhalb der so genannten lutherischen Orthodoxie entwickelt, um das protestantische Schriftprinzip (sola scriptura) gegen die Lehre der katholischen Theologie abzusichern, wonach nicht nur die Bibel, sondern auch die kirchlichen Überlieferungen für den Gläubigen autoritativ sind. Dabei wurde behauptet, dass der Heilige Geist den Verfassern der Bücher der Bibel nicht nur die Sachverhalte eingegeben (suggestio rerum), sondern auch den genauen Wortlaut quasi diktiert habe (suggestio verborum). In diesem Schriftverständnis wird Gott zum eigentlich Verfasser der Bibel, der sich ihrer Verfasser nur als schreibender Instrumente bedient habe.

Ein ähnliches Schriftverständnis findet sich aber dem Sinne nach schon ausgeprägt bei Augustinus. Sie drang im Rahmen der Neuscholastik auch in die katholische Theologie ein, wird aber heute im Wesentlichen von Teilen der evangelikalen Bewegung sowie mit Einschränkung auch von den Zeugen Jehovas und anderen christlichen Religionsgemeinschaften vertreten. Ein bekanntes Dokument zur Verbalinspiration ist die Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Schrift.

Nach Einschätzung von Gerhard Maier hänge die Verbalinspiration nicht am Diktatbegriff. Sie beziehe sich auf den Urtext. Historische Forschung und Verbalinspiration seien keine Gegensätze. Man müsse kein gesetzlicher Biblizist sein, um die Verbalinspiration zu verteidigen. Sie sei logisch-konsequent und geschlossen, sie bringe das Absolute der Offenbarung zur Geltung und verleihe Gewissheit über den gottgegebenen Inhalt der Schrift. Das Konzept von der inspirierten Schrift stimme mit der jüdischen Interpretation zur Zeit der Apostel im Wesentlichen überein. Gemäß James I. Packer sei die Bibel die Verbindung zwischen den Ereignissen, durch die sich Gott in der Vergangenheit offenbart habe, und der Erkenntnis Gottes in der Gegenwart. Darum solle Inspiration als Unterpunkt der Lehre über die Offenbarung Gottes behandelt werden und nicht umgekehrt. Es scheine biblisch und richtig zu sein, die Vorstellung über die Offenbarung zu erweitern und die Inspiration in sie einzubeziehen.

Gemäß Howard Marshall wollte die Theorie von Benjamin Warfield und seinen Nachfolgern zwischen verschiedenen theologischen Denkrichtungen vermitteln. Seine Theorie würde das Handeln des Geistes darin sehen, dass Gott zwar nicht die Methode des Diktierens wählte, die Inspiration aber zum gleichen Resultat geführt hätte. Obwohl die biblischen Verfasser in völliger Freiheit schrieben, seien sie von Gott so befähigt und geführt worden, dass sie genau das schrieben, was Gott wünschte. René Pache geht davon aus, dass beim Niederschreiben der Urtexte der Heilige Geist die Verfasser bis in die Wahl der Ausdrucksweisen geführt habe, und zwar in der ganzen Schrift, ohne die Persönlichkeit auszuschalten. Pache zitiert auch F. E. Gaebelein, der meint, dass jedes Wort des Urtextes in vollkommener Form ohne Irrtum die Botschaft übermittle, die Gott dem Menschen mitteilen wollte. Pache folgert, wenn die Gedanken eingegeben seien, müssten es auch die Worte sein.

Verbalinspiration in Abgrenzung zu anderen Inspirationsauffassungen

In der Romantik wurde der Begriff der Personalinspiration geprägt (Johann Gottfried Herder, Friedrich Schleiermacher), der zunächst bedeutet, dass nicht die Schrift, sondern die Autoren der Texte inspiriert waren, im romantischen Sinne allerdings nicht verstanden als Gottes Einwirken auf den Menschengeist, sondern als Selbstwirksamkeit eines vergöttlichten Menschengeistes.

Daneben gibt es auch den Begriff der Realinspiration, nach welchem nicht die Schrift selbst, wohl aber bestimmte Inhalte oder Ideen der Schrift inspiriert sind (meist mehr auf überzeitliche religiöse oder ethische Ideen bezogen und ohne Berücksichtigung eines historischen Anspruches der Texte).

Verbalinspiration bedeutet demgegenüber nicht, dass die Bibel ein Diktat ist, bei dem die menschlichen Autoren bloße, willenlose Werkzeuge Gottes waren, sondern sie betont, dass die Heilige Schrift selbst (nicht bloß die Autoren – in der Regel aber unter Einbezug des Elementes der Personalinspiration – und auch nicht bloß einige Ideen und Inhalte) inspiriert ist, also auf das Wirken des Geistes zurückzuführen ist, aufgrund dessen man die ganze Heilige Schrift verbum Dei (Wort Gottes) nennen kann. In diesem Sinne hat Gerhard Maier auch den Begriff der Ganzinspiration geprägt.

Auf das Poetische hat Eugen Biser verwiesen: „Sprachekstasen“, worin „die Sprache […] sich selbst sagt“, seien in der Bibel gegeben. Martin A. Hainz hat den Begriff der intentio scripturae für dieses Moment der biblischen Sprache vorgeschlagen, das Inspiration als permanent notwendig und gegeben anzusehen nahelegt: Glaube könne sich nur bedingt back to the roots bewegen, weil diese Rückwärtsbewegung keine „mehr auf Christus zu“ (Benedikt XVI.) sein kann.

Siehe auch

Literatur

  • Joseph Ratzinger: Im Anfang schuf Gott. Vier Münchener Fastenpredigten über Schöpfung und Fall. Erich Wewel Verlag, München 1986, hier v. a. S. 21.
  • Eugen Biser: Paulus. Zeugnis – Begegnung – Wirkung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2003.
  • Hans Urs von Balthasar: Theologik. Bd. III: Der Geist der Wahrheit. Johannes Verlag, Einsiedeln 1987.
  • Franz König, Jacob Kremer: Jetzt die Wahrheit leben. Glauben an der Schwelle zum dritten Jahrtausend. Herder, Freiburg/Basel/Wien 1991 (= Herderbücherei, Bd. 1746).
  • Martin A. Hainz: Intentio scripturae? Zu Offenbarung und Schrift, bei Klopstock sowie in Derridas Kafka-Lektüre. In: TRANS – Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Nr. 16/2005.
  • Johanna Rahner: Einführung in die katholische Dogmatik. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2008, ISBN 978-3-534-20063-4, besonders S. 77ff.
  • Stephan Holthaus, Karl-Heinz Vanheiden (Hrsg.): Die Unfehlbarkeit und Irrtumslosigkeit der Bibel. Edition Bibelbund, Hammerbrücke 2001, ISBN 3-933372-38-0 (Zweite ISBN 3-935707-07-X).
Wiktionary: Verbalinspiration – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Gerhard Maier: Biblische Hermeneutik (= TVG Monographien und Studienbücher. Band 355). 7. Auflage. R. Brockhaus, Wuppertal 2011, ISBN 978-3-417-29355-5, S. 94.
  2. Jörg Lauster: Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums. C.H. Beck, München 2014, S. 363.
  3. Kern Robert Trembath: Evangelical Theories of Biblical Inspiration : A Review and Proposal. Oxford University Press, New York / Oxford 1987, ISBN 0-19-504911-X (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  4. George Mitrovich: How Fundamentalists Became Evangelicals. In: huffingtonpost.com. 9. Oktober 2008, abgerufen am 30. Dezember 2014.
  5. M. James Penton: Apocalypse Delayed. The Story of Jehovah’s Witnesses. University of Toronto Press, 1997, S. 172.
  6. Theologische Realenzyklopädie, Bd. 36, DeGruyter, New York / Berlin 2004, S. 662.
  7. Gerhard Maier: Biblische Hermeneutik. R. Brockhaus, Wuppertal/Zürich 1990, ISBN 3-417-29355-3, S. 97–99.
  8. James I. Packer: Wie Gott vorzeiten geredet hat. Inspiration und Irrtumslosigkeit der Schrift. Liebenzeller Mission, Bad Liebenzell 1988, ISBN 3-88002-326-3, S. 29.
  9. I. Howard Marshall: Biblische Inspiration. Brunnen, Giessen/Basel 1986, ISBN 3-7655-9705-8, S. 58.
  10. René Pache: Inspiration und Autorität der Bibel. 3. Auflage. R. Brockhaus, Wuppertal 1985, ISBN 3-417-24534-6, S. 63.
  11. Frank Ely Gaebelein: The Meaning of Inspiration. Chicago 1950, S. 9, in: René Pache: Inspiration und Autorität der Bibel. 3. Auflage. R. Brockhaus, Wuppertal 1985, ISBN 3-417-24534-6, S. 63.
  12. René Pache: Inspiration und Autorität der Bibel. 3. Auflage. R. Brockhaus, Wuppertal 1985, ISBN 3-417-24534-6, S. 67.
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