Der Verwandtschaftskoeffizient (kurz R; siehe auch Koeffizient: „Beizahl, Vorzahl“) berechnet die Nähe der biologischen Verwandtschaft zweier Lebewesen anhand der Wahrscheinlichkeit, dass sie dieselbe (zufällig ausgewählte) Erbinformation von einander oder einem gemeinsamen Vorfahren geerbt haben. Vollständige Übereinstimmung der Erbanlagen besteht bei eineiigen Zwillingen oder bei Klonen (Kopien), weil sie genetisch identische Individuen sind – folglich haben sie einen Koeffizienten von 1,00 = 100 %.
Der Verwandtschaftskoeffizient trifft eine mathematische Vorhersage bezüglich der Zustandsform eines Gens (Allel) an einem beliebigen Ort auf einem Chromosom (Locus) bei zwei Individuen mit gemeinsamer Abstammung, in der Fachliteratur manchmal fälschlich als Verwandtschaftsgrad bezeichnet. Entwickelt wurde die Berechnung 1947 vom französischen Biomathematiker Gustave Malécot.
Weil ein Elternteil 50 % seines Erbgutes an seine direkten Nachkommen vererbt, besteht zwischen ihm und seinem leiblichen Kind ein Verwandtschaftskoeffizient von 0,5 (1/2): Mit 50 % Wahrscheinlichkeit wird beim Kind eine einzelne Erbinformation mit seiner eigenen übereinstimmen. Denselben Koeffizienten haben Vollgeschwister zueinander, während Halbgeschwister sowie Großeltern und Enkel nur noch einen Verwandtschaftskoeffizienten von 0,25 haben (1/4). Je mehr Generationen der letzte gemeinsame Vorfahre zurückliegt, desto geringer ist die genetische Übereinstimmung in seiner Nachfahrenschaft (siehe unten zur Verwandtenbevorzugung und zum Inzuchtkoeffizienten).
Verhältnis | Verwandtschaftskoeffizient (R) |
---|---|
Eineiige Zwillinge oder zwei Klone | 1/1 % Übereinstimmung | = 1,00 = 100
Elternteil ↔ Kind | 1/2 % … | = 0,50 = 50
Bruder ↔ Schwester | 1/2 % … | = 0,50 = 50
Halbbruder ↔ Halbschwester | 1/4 % … | = 0,25 = 25
Großelternteil ↔ Enkelkind | 1/4 % … | = 0,25 = 25
Onkel, Tante ↔ Neffe, Nichte | 1/4 % … | = 0,25 = 25
Cousin ↔ Cousine (1. Grades) | 1/8 % … | = 0,125 = 12,5
Urgroßelternteil ↔ Urenkelkind | 1/8 % … | = 0,125 = 12,5
Cousin ↔ Cousine (1. Grades, 1 Generation verschoben) |
1/16 % … | = 0,0625 = 6,25
Cousin ↔ Cousine 2. Grades | 1/32 % … | = 0,03125 = 3,125
Cousin ↔ Cousine 3. Grades | 1/128 = 0,0078125 = % … | 0,78125
Cousins und Cousinen Der Abstand von Cousins/Cousinen (1. Grades: normal) zu Cousins/Cousinen 2. Grades verschiebt sich um gleich 2 Verwandtschaftsgrade: In der direkten Linie der Vorfahren geht es 1 Generation zurück zu ihren gemeinsamen Voreltern, den Urgroßeltern (oder nur zu einem Urgroßelternteil), und dann in den beiden Familienzweigen (Seitenlinien) wieder 1 vor zur gegenwärtigen Generation (siehe auch direkte und seitliche Verwandtschaft). Entsprechend betragen die Werte der „entfernten“ Cousins nur noch ein Viertel im Vergleich zu denen 1. Grades. Bei Cousins 3. Grades (2 zurück, 2 vor) sinken die Werte weit unter den statistischen Durchschnitt und sind vernachlässigbar. Diese niedrigen Werte repräsentieren die geringen genetischen „Überbleibsel“ der ursprünglichen Ururgroßeltern, die zwei Kinder in die Welt setzten, die ihrerseits die zwei unterschiedlichen Seitenlinien der Cousins 3. Grades begründeten.
Verwandtenbevorzugung Die Höhe des Verwandtschaftskoeffizienten spielt auch eine Rolle zur Erklärung von selbstlosen Handlungen (Altruismus) bei Menschen und Tieren oder in der sozialen Erbfolge (siehe Verwandtenselektion, beispielsweise das Avunkulat des Mutterbruders, des Oheims, oder die Milchverwandtschaft durch gemeinsames Stillen). In der Soziobiologie und der Psychobiologie erlaubt die Höhe des Verwandtschaftskoeffizienten von Individuen entsprechende Vorhersagen über ihre Verhaltensweisen, die dem eigenen Gen einen höheren Erfolg bei der Fortpflanzung sichern.
Inzucht Wenn zwei relativ nahe Blutsverwandte gemeinsame Nachkommen zeugen, ergeben sich Änderungen im Verwandtschaftskoeffizienten dieser Nachkommen. Der so genannte Inzuchtkoeffizient der Nachfahren zweier Individuen beträgt annähernd die Hälfte deren Verwandtschaftskoeffizienten. Für Personen, deren Eltern blutsverwandte Cousin und Cousine (1. Grades) sind (R = 0,125), beträgt der Inzuchtkoeffizient ihrer Kinder 6,25 Prozent (siehe Inzucht beim Menschen, Humangenetische Beratung, Verwandtenheirat und Ahnenverlust).
Siehe auch
- Genetische Genealogie (Bestimmung des Grades der Verwandtschaft anhand DNA-Analysen)
- Ahnenverlustkoeffizient (einzelne Vorfahren treten gleichzeitig in mehreren Ahnenpositionen auf)
Literatur
- Jan Murken u. a.: Verwandtschaftskoeffizient R. In: Humangenetik. 7., vollständig überarbeitete Auflage. Thieme Verlag, Stuttgart 2006, ISBN 9783131392978, S. 251–252 (Seitenansichten in der Google-Buchsuche).
- Gustave Malécot, Louis Florimond Blaringhem: Les Mathématiques de l’hérédité. Masson, Paris 1947 (französisch).
Weblinks
- Joachim Jakob: Eusozialität. In: Biologie-Lernprogramme. Kronberg-Gymnasium Aschaffenburg, abgerufen am 29. März 2018 (Teil des Lernprogramms „Kooperierer“).
Einzelnachweise
- ↑ Benedikte Hatz: Untersuchungen der genetischen Diversität innerhalb der Gattung Hordeum mit molekularen Markertechniken. Utz, München 1997, ISBN 3-89675-191-3, S. 12 (Doktorarbeit Technische Universität München): „Verwandtschaftskoeffizienten nach (MALÉCOT, 1969) […] Der Koeffizient, der die Verwandtschaft zwischen zwei Individuen quantifiziert, beschreibt die Wahrscheinlichkeit, daß zwei zufällig ausgewählte Allele bei beiden Individuen identisch sind aufgrund gemeinsamer Abstammung (KEMPTHORNE, 1969).“
- ↑ Gustave Malécot, Louis Florimond Blaringhem: Les Mathématiques de l’hérédité. Masson, Paris 1947 (französisch).
- ↑ Jan Murken u. a.: Inzuchts- und Verwandtschaftskoeffizient bei verschiedenen Verwandtschaftsverhältnissen. In: Humangenetik. 7., vollständig überarbeitete Auflage. Thieme Verlag, Stuttgart 2006, ISBN 9783131392978, S. 252: Tabelle (dort auch die genauen Formeln; Seitenansicht in der Google-Buchsuche).