Häuptling
Mit Häuptling wird ein – vermeintlich oder tatsächlich – führendes Mitglied einer Gesellschaft ohne ausgeprägtes Staatswesen (einer Stammesgesellschaft oder eines Häuptlingstumes) bezeichnet.
Im Zuge des Kolonialismus hatten die Europäer solche undifferenzierten Sammelbezeichnungen (engl. chief, port. chefe, span. jefe, franz. chef) für die in ihren Augen höchstgestellte Person innerhalb der sehr unterschiedlichen Herrschaftsformen der Eroberten eingeführt, in Gebieten, die sie zwar eroberten, aber keineswegs verstanden. So behalf man sich mit Analogien und dem „Fremden“, womit eine Form der „Primitivität“ verbunden war, die auf diese Weise für den gesamten globalen Kolonialraum übergreifend anwendbar war. Nur dort, wo staatliche Strukturen vorhanden waren, half man sich mit anderen Begriffen. Dies geschah vor allem, um die unbekannten Macht- und Sozialstrukturen der Fremden an Bekanntes (Heerführer, Fürsten, Könige usw.) anzupassen und überhaupt erst erfassen zu können; aber auch, um bestimmte Personen zur kollektiven Verantwortung ziehen zu können, Vertragspartner zu haben. Zudem erhielten die „Wilden“, deren Kultur es zu überwinden galt, einen Platz im göttlichen Heilsplan; sie mussten also missioniert werden.
Dies hing auch damit zusammen, dass zu einem Oberhaupt einer solchen Gruppe im Bewusstsein der Kolonisatoren auch ein Territorium gehörte, über das der jeweilige Häuptling verfügen konnte, auch bestimmte er über die religiöse Zugehörigkeit seiner „Untertanen“, wie europäische Herrscher dies lange taten. Daher hängen die aufgenötigten Begriffe „Stamm“, als Bezeichnung für eine angeblich überzeitliche, genetisch zusammenhängende Gruppe, und „Häuptling“ eng zusammen. Frauen als Häuptlinge waren vor dem Hintergrund der europäischen Gesellschaftsbilder nur schwer vorstellbar. Obwohl Status, Autorität und Machtbefugnisse eines „Häuptlings“ je nach Ethnie vollkommen unterschiedlich waren und sind, wird die Bezeichnung mangels Alternativen weiterhin verwendet.
Um die Autorität des Häuptlingstums oder einen sonstigen Vorrang zu erklären, kam diesen Männern und Frauen oftmals ein „unverletztlicher“ Charakter zu, oftmals aus besonderer Abstammung, häufig Verwandtschaft mit Göttern, abgeleitet. Abstrakter gesprochen stand dahinter „eine Ideologie, in der politische Macht, rechtliche Verpflichtungen und religiöse Berufung miteinander verschmolzen sind“. Analoge Bildungen stellen Scheich (in Nordafrika), Kazike (in Lateinamerika) oder Sachem im Nordosten Amerikas dar.
Als Entsprechung zum englischen chief („Chef“) in der Übersetzung der Werke des Schriftstellers James Fenimore Cooper verbreitete sich die Bezeichnung Häuptling in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum, mit der allgemeinen Bedeutung „Oberhaupt eines (halb)wilden Volksstammes“ (französisch chef de tribu „Stammes-Chef“).
Über die englischsprachige Sozialanthropologie und später Politikethnologie wurde der Ausdruck auch in Europa zu einem Schlüsselbegriff zur Beschreibung der Europäischen Frühgeschichte.
Im Nordwesten Deutschlands war „Häuptling“ die Bezeichnung des Oberhaupts ostfriesischer Volksgruppen im 14. bis 17. Jahrhundert (siehe Ostfriesische Häuptlinge).