Staatskrise in Ägypten 2013/2014
Nachdem seit November 2012 wiederkehrende Proteste gegen den Staatspräsidenten Mohammed Mursi im Juni 2013 zunehmend gewalttätig geworden waren, putschte am 3. Juli 2013 das Militär, stürzte die Regierung, setzte die Verfassung außer Kraft und übernahm die Macht. Seit dem Putsch hielten Proteste von Gegnern des Putsches, vor allem Unterstützer des gestürzten Präsidenten, über Monate hinweg an. Es kam zu blutigen Zusammenstößen und Massentötungen, bei denen weit über tausend Menschen, überwiegend Putschgegner, starben.
Das vom Militärratschef Abd al-Fattah as-Sisi geführte Militär bezeichnete den Umsturz als „Zweite Revolution“ und behauptete, der Sturz Mursis sei vom Volk gewollt, das mit politischen und ökonomischen Missständen unzufrieden gewesen sei. Die Generäle warfen den Muslimbrüdern außerdem vor, einer Agenda der USA und der EU gefolgt zu sein und gleichzeitig eine Politik des Terrors betrieben zu haben, indem sie die islamistischen Aufständischen, die auf dem Sinai das Militär bekämpften, unterstützt hätten. Westliche Medien berichteten, Mursi sei abgesetzt worden, nachdem dieser die Hoffnungen vieler Ägypter auf eine Demokratisierung nach dem Sturz Mubaraks 2011 enttäuscht habe. Anhänger des gestürzten Präsidenten Mursi und Menschenrechtsgruppen warfen dem Militär vor, den gewählten Präsidenten durch einen Putsch gestürzt zu haben und zum Regime des langjährigen Machthabers Mubarak zurückkehren zu wollen.
Bei dem Sturz Mursis wirkte eine Allianz aus Militärs, Justiz und Sicherheitsapparat zusammen. Der Putsch wurde vom koptischen Patriarchen, Papst Tawadros II., dem Imam der Kairoer al-Azhar-Universität, Großscheich Ahmed Tayeb, Vertretern der Protestbewegung Tamarod sowie zumindest anfänglich vom linksliberalen Führer des Oppositionsbündnisses Nationale Heilsfront, Mohammed el-Baradei, und Vertretern der salafistischen Nur-Partei offiziell unterstützt und begrüßt.
Vor und nach der Einsetzung einer teilweise zivilen, anti-islamistischen und nicht gewählten Übergangsregierung unter Interimsministerpräsident Hasim al-Beblawi durch das Militär im Juli eskalierte die Lage erneut in Massentötungen von Mitgliedern der Muslimbruderschaft durch ägyptische Sicherheitskräfte. Ein Höhepunkt der Gewalt war das von den Sicherheitskräften angerichtete Blutbad bei der gewaltsamen Räumung der Pro-Mursi-Protestlager am Rābiʿa-al-ʿAdawiyya- und am Nahda-Platz in Kairo am 14. August 2013. Bei der Stürmung der beiden Protestlager in Kairo wurden nach Angaben der militärgestützten Übergangsregierung vom darauf folgenden Tag mindestens 378 Menschen, nach jüngeren Berichten von internationalen Menschenrechtsorganisationen und westlichen Medien rund 1000 und nach Angaben der Muslimbruderschaft über 2000 Pro-Mursi-Demonstranten getötet und Tausende weitere verletzt. Bei nahezu allen der über 1000 im Juli und August ums Leben gekommenen Menschen handelte es sich um Zivilisten, die gegen Militärchef Sisi demonstriert hatten und von den Sicherheitskräften erschossen wurden. Allein im Sommer 2013 wurden bei der rücksichtslosen Niederschlagung der Antiputschproteste in Kairo durch die Sicherheitskräfte mindestens 1400 Menschen, teilweise durch systematische Erschießungen, getötet.
Der seit dem 14. August von der militärgestützten Übergangsregierung verhängte und Mitte September um zwei Monate bis Mitte November 2013 verlängerte Ausnahmezustand verschaffte Behörden und Einsatzkräften Sonderrechte beim Vorgehen gegen Proteste und Versammlungen und erschwerte die Arbeit der Medien im Land. Der aus Protest zurückgetretene Vizeinterimspräsident Mohammed el-Baradei floh ins Ausland, um einer Verhaftung zu entgehen. Die Pressefreiheit wurde eingeschränkt, die Führungsspitze der Muslimbruderschaft inhaftiert und Tausende Muslimbrüder festgenommen. Sämtliche Organisationen der Muslimbruderschaft wurden verboten und ihr Vermögen konfisziert. Das Verbot wurde als Anzeichen dafür betrachtet, dass die Muslimbrüder von der vom Militär installierten Übergangsregierung für 2014 versprochenen Wahl ausgeschlossen werden sollten. Nach einem Gerichtsbeschluss erklärte die Übergangsregierung am 14. November das Ende des Ausnahmezustands.
Der gestürzte Staatspräsident Mursi wurde seit dem Putsch vom 3. Juli bis zu seinem Prozessbeginn am 4. November an einem nicht bekannt gegebenen Ort festgehalten. Er und 14 weitere Führungspersonen der Muslimbruderschaft wurden wegen Anstiftung zur Gewalt vor Gericht gestellt. Ihnen droht lebenslange Haft oder die Todesstrafe. Das anstehende Verfahren löste im In- und Ausland Sorge aus, die von Militärchef Sisi geführte Armee werde das Land, für das seit dem Sturz von Mubarak im Jahr 2011 die Hoffnung für einen demokratischen Kurs genährt worden war, wieder in einen Polizeistaat verwandeln.
Bis Anfang Oktober stieg die Anzahl der seit dem Putsch Getöteten auf bis zu 2000 Menschen an und wuchs wöchentlich weiter. Die seit dem Sturz Mursis andauernde Gewaltserie wurde als Indiz für eine gewachsene Instabilität Ägyptens gedeutet. In den Monaten nach dem Putsch kamen deutlich weniger Touristen nach Ägypten. Am 9. Oktober fror die US-Regierung, die den Putsch zunächst gerechtfertigt hatte, Teile der Militärhilfe an Ägypten vorerst ein.
Ende März kündigte Militärchef Sisi offiziell an, bei der Präsidentschaftswahl zu kandidieren. Er werde dafür seinen Posten als Armeechef niederlegen und als Verteidigungsminister und Vize-Ministerpräsident zurücktreten. Es gab nur einen weiteren Kandidaten für das Amt, Hamdin Sabahi. Sisi erhielt fast 97 Prozent der abgegebenen Stimmen.
Wenige Wochen vor der Präsidentschaftswahl wurde das de facto vom Militär beherrschte Ägypten von wissenschaftlicher Seite und Beobachtern als zunehmend repressive Militärdiktatur oder als repressiv geführtes System eingestuft, in dem Demokratie, Rechtsstaat und Menschenwürde praktisch ausgeschaltet wurden. Zu diesem Zeitpunkt hielten die USA an der bereits beschlossenen Wiederaufnahme ihrer zuvor eingeschränkten Militärhilfe für Ägypten fest.