Systemtheoretische Literaturwissenschaft

Bei der systemtheoretischen Literaturwissenschaft (auch: systemtheoretisch orientierte Literaturwissenschaft) handelt es sich um denjenigen Zweig des zeitgenössischen literatursoziologischen Diskurses, der methodologisch an die Prämissen der struktur-funktionalen soziologischen Systemtheorie des amerikanischen Gesellschaftstheoretikers Talcott Parsons (1902–1979) und vor allem deren Weiterentwicklung durch den deutschen Soziologen Niklas Luhmann (1927–1998) anschließt.

Seit den 1990er Jahren hat dieser primär an Luhmanns kunsttheoretischem Hauptwerk Die Kunst der Gesellschaft (1995) sowie an andere kunstsoziologische Schriften Luhmanns anknüpfende Ansatz zunehmend an Einfluss gewonnen und gehört mittlerweile, trotz teils gehöriger Rezeptionsprobleme, die nicht zuletzt auf der zweifellos hohen Abstraktionslage der Luhmannschen Systemtheorie beruhen, zum kanonisierten Bestand der literaturtheoretischen Methodendiskussion innerhalb der Literaturwissenschaft.

Mit ihrer weitgehenden Ausblendung psychisch prozessierter Autorintentionen während des Produktionsprozesses, ihrem prinzipiellen Verzicht auf eine Analyse der Psychologie der Rezeptionsakte sowie ihrer relativen Distanz gegenüber einer reinen Einzeltextexegese im Sinne eines close reading reiht sich die systemtheoretische Literaturwissenschaft in die Tradition der kontextorientierten Literaturtheorien ein und wird der Literatursoziologie zugerechnet. Allerdings wird die in der literatursoziologischen Tradition bedeutsame Widerspiegelungstheorie des Marxismus ebenso strikt abgelehnt wie andere Formen des sozialen Determinismus. An ihre Stelle rückt der nicht-kausale Begriff der Emergenz.

Die systemtheoretische Literaturwissenschaft übernimmt Luhmanns Universalitätsanspruch und ist somit auf prinzipiell alle literarischen Phänomene anwendbar. In der bisherigen wissenschaftlichen Praxis haben sich jedoch Literaturgeschichte, Ästhetik, Gattungsgeschichte und -theorie, Liebesroman und -semantik sowie die Literatur um 1800 als Hauptarbeitsfelder erwiesen, da Luhmann davon ausgeht, dass um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert eine Umstellung der primären Differenzierungsform der Gesellschaft von Stratifikation auf funktionale Differenzierung erfolgt. Mittlerweile rücken aber auch zunehmend die vormoderne Literatur sowie die literarische Produktion des 20. Jahrhunderts ins Blickfeld systemtheoretisch inspirierter Literaturwissenschaft.

Zwar bildet die Systemtheorie einen eigenen Zweig innerhalb der soziologischen Theoriebildung, trotzdem bestehen aber partielle Affinitäten und bestimmte theoretische Überschneidungen etwa mit der Medienwissenschaft, Interdiskursanalyse, historischen Diskursanalyse, der Feldtheorie sowie anderen überindividuell orientierten Ansätzen in den Kulturwissenschaften.

Bislang arbeiten vor allem Germanisten, Anglisten sowie Romanisten mit den Theoremen der systemtheoretischen Literaturwissenschaft, vor allem im deutschsprachigen Raum sowie in den Niederlanden.

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