Diverses:Großzügige Gerechtigkeit
ie dagewesene Aufregung herrschte auf dem Marktplatz an diesem eisigen Wintertag. Die Menschen liefen und redeten hektisch durcheinander, niemand wusste, was eigentlich los war, Vermutungen wurden laut, Gerüchte machten die Runde. Irgendwo versuchte jemand, geräucherten Fisch zu verkaufen.
Etwas abseits der Menge stand ein kleines Grüppchen: ein Holzfäller, ein Schankwirt, ein Schmied und ein Viehhändler. Sie kannten sich schon, so lange sie denken konnten, und so lange sie denken konnten, hatte es nie solchen Aufruhr in der Stadt gegeben. Wie jeder hier fragten sie sich, was passiert sein könnte. Der Schankwirt kannte jemanden, der es offenbar schon gehört hatte, und so wusste er zu erzählen: "Einer der Bauern hat auf seinem Acker eine Rübe gefunden, die größer ist als seine dickste Sau und außerdem ähnelt sie dem Gesicht des Königs verblüffend. Unfassbar, oder?" Die Anderen glaubten ihm kein Wort, stimmten aber zu, damit er still war, und warteten gespannt darauf, die wirkliche Wahrheit zu erfahren.
as Warten sollte bald belohnt werden. Zwei Inquisitoren, begleitet von einer beeindruckenden Anzahl Soldaten, betraten den Platz. In einen Käfig gesperrt wurden zwei Adelige mit auf den Platz getragen, ein Mann und eine Frau. "Wir stehen viel zu weit hinten", stellte der Schmied fest, "hier kriegt man doch nichts mit". Sie drängelten sich nach vorne, bis sie nur noch wenige Schritte vor dem Käfig und den Inquisitoren standen. Vor ihnen ragte ein Scheiterhaufen auf. Sie hatten ihn vorher nicht bemerkt.
Inzwischen hatte sich der Lärm gelegt und einer der Inquisitoren erhob die Stimme. "Diese Beiden", tönte er und wies auf die Adeligen im Käfig, "diese Beiden!" Er machte ein Pause. Seine Glatze blitzte in der kalten Sonne. "Diese Beiden", fuhr er fort, "diese Beiden hier sind des Todes, denn sie sind mit dem Teufel im Bunde!" Damit verstummte er wieder.
er Holzfäller wandte sich verwirrt zu seinen Leuten und sah sie fragend an. "Glaubt ihr das? Eine Hexe und ein böser Zauberer in unserer Stadt?" Einen Moment lang sagte niemand etwas. Dann meinte der Schankwirt: "Der Mann da, der hat mal mit Falschgeld bezahlt. Hat mir der Schneider erzählt, so wahr ich hier stehe!" "Der Schneider ist ein ehrlicher Mann", meinte der Schmied, "hat mir mal ein Bier ausgegeben." "Wird schon was dran sein", stimmte der Schankwirt zu. Rein zufällig trat in diesem Moment der Schlachter hinzu und bestätigte dröhnend: "da ist auch was dran, bei mir hat er auch mit Falschgeld gezahlt! Elfengold oder sowas, eine irre Geschichte. Am Freitag kurz vor Feierabend war er bei mir, und Montagmorgen war das Gold verschwunden. Ich könnte mich nicht entsinnen, wofür ich das wohl ausgegeben haben könnte!" Der Schankwirt grinste, sagte aber nichts. Dafür sah nun der Viehhändler, sonst eher still und wenig geistreich in Gesprächen, seine Chance gekommen, etwas beizutragen. "Bei mir war er auch und hat sich sogar Falschgeld geliehen, der Hund", schimpfte er, "einen ganzen Batzen sogar!" Der Holzfäller runzelte die Stirn. Er war kein Mathematiker und kein Geschäftsmann, aber dass mit dieser Geschichte etwas nicht stimmte, sagte ihm ein ungutes Gefühl. "Jawohl, säckeweise hat er das Falschgeld bei mir abgeholt, große, volle Säcke", ereiferte sich der Viehhändler, "mehrmals sogar‼" Der Schmied räusperte sich vernehmlich und der Schankwirt schüttelte den Kopf. Davon unbeeindruckt fuhr der Viehhändler fort und schien sich jäh zum besten überhaupt denkbaren Geschichtenerzähler gereift zu fühlen: "Und hat er davon auch nur einen Pfennig zurückgezahlt? Nein, sage ich euch, einen Pfennig nicht, nicht einen einzigen, aber wirklich, und dabei haben es diese Leute nun wirklich nicht zu knapp! Nein, das haben sie wirklich nicht! Aber von dem ganzen Falschgeld hat er keinen falschen Fuffziger zurückgezahlt", er hatte ein rhetorisches Mittel gewagt und war sichtlich stolz auf die Wirkung, die er zu beobachten glaubte, "keinen einzigen‼" Seine vier Gesprächspartner wandten ihm den Rücken zu und gingen einige Schritte weit fort, um seinem unsinnigen Redefluss zu entgehen. "Meine Güte", brummte der Schmied.
inen Moment später ging ein Raunen durch die Menge, als der Scheiterhaufen mit den beiden Adeligen in Flammen aufging. Während der "böse Zauberer" kein Wort sagte und mit versteinerter Miene über das abergläubische Volk hinwegsah, schimpfte, zappelte und schrie die "Hexe" aus Leibeskräften. Sie habe nichts getan, jeder wisse das, man wolle ihr etwas anhängen, warum ihr denn niemand helfe. Kein Mensch rührte sich.
"Das habe ich ja schon immer gewusst", behauptete der Schankwirt, "dass mit der Alten etwas nicht stimmt. Seht euch nur die Nase an. So sehen Hexen aus, Freunde! Und außerdem hat der Schneider erzählt, er hätte seltsame Lichter und Geräusche gesehen, als er nachts um ihr Anwesen schlich, und der Schneider ist 'ne ehrliche Haut." Der Schmied brummte zustimmend und sah sich das Feuer an. Um keine Langeweile aufkommen zu lassen, ergriff der Inquisitor wieder das Wort. "Möge das Feuer eure Verderbtheit reinigen, auf dass ihr Gnade findet vor dem Herrn", intonierte er. "Welche Verderbtheit überhaupt", schrie die Hexe, der die Flammen schon bedrohlich nahe kamen, "wir haben nichts getan!" "Lüge!", unterbrach sie der Inquisitor scharf, "ihr habt das schlimmste aller Verbrechen begangen!" Der Holzfäller rief aus dem Publikum: "Und was genau hat sie jetzt getan?" "Dem Wunsche des Herrn soll Genüge getan werden! Sein Wille geschehe!" Der Holzfäller holte Luft für die nächste Frage, überlegte es sich aber anders. "Wird denen, die der Hexer betrogen hat, ihr Gold ersetzt?", fragte der Schlachter, blieb jedoch ungehört. Der zweite, bis jetzt stumme Inquisitor sah von seiner erhöhten Position aus auf die Menge herab. Irgendetwas schien ihn zunehmend zu beunruhigen. Er drehte sich zu seinem Kollegen und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
ach einer Weile des Flüsterns nickte der andere und befahl einem der Soldaten mit einem Wink, die inzwischen deutlich angesengte "Hexe" aus dem Feuer zu nehmen. Von ihren Fesseln befreit fiel sie den Inquisitoren vor die Füße, unfähig aufzustehen, und wurde von zwei der Soldaten gelöscht. Die beiden Inquisitoren nahmen auf ihrem Rücken Platz und beratschlagten kurz. Anschließend fragte der eine, inzwischen sichtlich erleichterte Inquisitor den anderen: "Hast du in letzter Zeit auch so einen furchtbaren Hexenschuss?" "Nein", entgegnete der Andere, "wieso?" "Naja, du weißt schon, Hexenschuss, das da ist eine Hexe, ahahaha." "Naja, wir werden ja alle nicht jünger", meinte der Andere. "Mach dir nichts draus." Dann stand er wieder auf und wandte sich an das aufgewühlte Publikum: "Höret meine Worte! Wir lassen Gnade vor Recht ergehen und schenken der Hexe das Leben. Seid versichert, dass diese Entscheidung euch nicht beeinträchtigen wird; aus gutem Grund haben wir Anlass zum Verdacht, die Vermutung für möglich zu erachten..." er stockte kurz, fuhr dann aber fort: "und glauben, dass ohnehin der Zauberer", er wies auf den Adeligen auf dem Scheiterhaufen, "die Hauptschuld trägt. Er hat sie geblendet und vom Pfade des Herrn abgebracht. Dennoch muss aber natürlich gleichwohl trotzdem auch sie gestraft werden. Zu unser aller Sicherheit muss sie, sobald sie ihr Anwesen verlässt, einen Knebel tragen, der uns im Fall der Fälle vor ihren üblen Zauberformeln schützt, und sie wird in Begleitung eines Wachmanns gehen, der sie bewacht, zu unser aller Sicherheit und Wohl. Dies geschieht zu unser aller Sicherheit und Wohl", fügte er noch einmal hinzu. Und, an die "Hexe" gewandt: "Bist du damit einverstanden, Weib?"
och immer benommen lag sie vor ihm, mit verbrannter Kleidung fror sie nun auf dem kalten Boden. "Ob du mit unserem großzügigen Angebot einverstanden bist, fragte ich dich!" schrie der Inquisitor sie an. Sie versuchte sich aufzurichten und sah ihn aus ermatteten Augen an. "Ja", stöhnte sie und sackte wieder in sich zusammen. "Vae victis", ließ sich der "böse Zauberer" noch einmal klar und deutlich über den ganzen Platz vernehmen, bevor die gierigen Flammen sein eisernes Schweigen endgültig machten. Nach einem Moment der Stille hörte man es von irgendwoher aus dem Publikum rufen "schlagt ihr noch ein Ohr ab", gefolgt von gröhlender Zustimmung der Masse. "Ein guter Kompromiss", meinte der Inquisitor, zückte sein Schwert und tat sogleich, wie ihm befohlen. "Und jetzt steh auf, Weib, und verschwinde in deinem Versteck!" fuhr er die angebliche Hexe an, die nun mühsam aufstand. "Bete fleißig, und dir soll vergeben werden!" rief er ihr noch nach, als sie begleitet – nicht gestützt – von den Soldaten den Platz verließ und zuletzt, am Ende ihrer Kräfte, auf allen Vieren den Weg zurück in ihr Anwesen schaffte.
"Heute wart ihr Zeugen unserer großzügigen Gerechtigkeit und der unendlichen Gnade unseres Herrn", predigte der Inquisitor dem Volke im Brustton der Überzeugung, "denn wir schenkten der Hexe ihr verwirktes Leben!" Er holte tief Luft und fügte noch lauter hinzu: "Jawohl, ihr Leben ist verwirkt, und das haben wir ihr geschenkt!"
er Schankwirt konnte das soeben Erlebte nicht so recht einordnen. "Ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll", meinte er. "Sie hätten beide brennen sollen." Seine Gefährten sahen ihn an. "Ich weiß nicht, meinte der Schmied. Ich glaube, die wird sich das beim nächsten Mal gut überlegen mit der Hexerei. Sie sieht ja, was sie davon hat. Und außerdem war man sehr großzügig zu ihr, das muss sie doch anerkennen." Schankwirt und Schlachter nickten nachdenklich. "Wahrscheinlich hast du Recht." "Wenn erst mal wieder Ruhe eingekehrt ist hier in der Stadt", meinte der Holzfäller nach langem Überlegen, oder besser gesagt Schweigen, "wird sich sicher alles wieder beruhigt haben. Doch, ich denke, dass sie die beste Lösung gefunden haben. Sie sind ja nicht umsonst die Inquisitoren, nicht wahr. Es wird auf uns schon gut aufgepasst."
Und damit war unsere Hinrichtung am Ende angelangt, denn es erschallte schon der abschließende Ruf der Inquisitoren: "Seid tapfer und fest im Glauben, und ihr sollt errettet werden! Seid fromm, und alle Besorgnis sei euch ferne!"
Amen.