Lindwurm vs Drache
Dereinst, als es noch Ritter gab und insbesondere auch die Helden noch nicht nahezu ausgestorben waren, erlebte der Lindwurm seine Hochzeit. Wie der Name bereits besagt, ist sein Hauptrevier die Linde. Verborgen zwischen Ästen und Blättern - der Lindwurm war und ist noch immer trotz seiner ausufernden Körpergröße ein Meister der Tarnung - lauert er auf seine Beute. Lässt sich nun ein lässiger Held am Fuße der Linde nieder und fällt in den tiefen Schlaf des Gerechten, so begibt sich der Lindwurm auf Beutefang. Grazil reckt er seinen langen schlangenartigen Hals vom Baume herab.
Im Punkte des Verspeisens der Beute lassen sich zwei Arten von Lindwürmern unterscheiden.
Der Ferrolindwurm
Dem Ferrolindwurm ist die Eigenschaft zu eigen, dass er in der Lage ist, Ritterrüstungen, welche bekanntermaßen überwiegend aus Eisen bestehen, zu verdauen. Entdeckt er unter seinem Baume einen Helden in Ritterrüstung, so reckt er sich hinab und verspeist den wackeren Recken mit Haut und Haar und Ferrum. Im Inneren des Wurmes findet sich ein hochkomplexer Verdauungstrakt. Dieser besteht zum einen aus zahlreichen Oxidationskathalysatoren, welche die Rüstung zum Rosten bringen, zum einen aus einem Mahlzahntrakt, welcher jegliches verbliebenes sperriges Material in kleinste verwertbare Partikel zerkleinert.
Der Gourmand-Lindwurm
Fälschlicherweise wird der Gourmand-Lindwurm, der im Volksmund auch als Schlürferlindwurm bekannt ist, von Möchtegern-Experten auch als Gourmet-Lindwurm betitelt. Er hat es sich zur Eigenschaft gemacht, keineswegs auf rohe Art und Weise, einen ritterlichen Helden mit samt der Rüstung zu verschlingen. Vielmehr wartet er auf einen günstigen Moment, in welchem der Held das Visier seiner Rüstung nach oben klappt. In diesem Moment schiebt der Schlürferlindwurm seinen Schmetterlingsähnlichen Rüssel in das Visier und schlürft, wie der Name sagt, den Helden aus der Rüstung heraus.
Das Ende der Lindwurmära
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ging die Blütezeit der Lindwürmer einem rapiden Ende zu: Das Automobil ward erfunden und der klassische Held auf seinem Streitross starb aus. Kein Held erachtete es mehr für nötig, unter einer Linde zu nächtigen und sich der Gefahr des Geschlürft- oder Oxidiertwerdens auszusetzen. War es nunmehr ja möglich mit bahnbrechend rasanten Geschwindigkeiten von Prinzessin zu Prinzessin zu eilen und diese mittels moderner Techniken zu erretten. Der Mangel an Prinzessinnen führte dazu, dass die Helden, deren Hauptaufgabe bis dato darin bestanden hatte, selbige zu erretten, sich nun anderen Aufgaben, wie der Pflege ihres häuslichen Gartens oder dem Polieren der neu erworbenen Karosse zuzuwenden. Infolgedessen saßen nun all die Lindwürmer auf ihren Linden, blickten auf die unter ihnen abgestellten Automobile herab und es lief ihnen das Wasser im Munde zusammen beim bloßen Gedanken an einen Helden. Da jedoch kein Held mehr zum Verweilen blieb und lediglich das blecherne Fortbewegungsmittel keinesfalls aber sein Leben den Bäumen anvertraute, wurde das Wasser im Munde der Lindwürmer mehr und mehr. Und schließlich begannen sie allesamt zu sabbern. Es tropfte auf die Autos herab. Klebriger Speichel, der auch heute noch allen heldenhaften und weniger heldenhaften Autofahrern ein Greul ist.
Wie aus dem Lindwurm der Drache ward
Nach einigen Jahrzehnten des dahinsiechens und sabberns erkannte man in den Lindwürmern ein erfolgreiches Konzept: Sie waren samt und sonders in der Lage, Feuer zu speien. Keineswegs ungerichtetes verheerend heißes Feuer. Lindwürmer können ihr Feuer nach Bedarf dosieren. Sei es eine kleine heiße blaue Flamme oder eine große lodernde Gelbe, wahlweise auch kleine grüne Funken - besser als jeder Bunsenbrenner und ausdauernder als alle bis dato bekannten Feuerlanzen. Die Boston Consulting Group bemerkte jedoch den negativen Einfluss des Namens Lindwurm. Jahrhundertelang hatten diese Wesen Angst und Schrecken in der Welt verbreitet und so konnte man das Image nur durch einen Namenswechsel zum Guten Wandeln: Der Drache war geboren.
Arbeitsbeschaffung
Die einzige Aufgabe der festangestellten Drachen besteht darin, Kaffeebohnen zu rösten. Dies geschieht auf die den Drachen ureigens verbundene Art und Weise: sie speien Feuer. Langsames gründliches Feuer, um die Bohnen nicht zu verletzen, aber doch so heiß, dass ausreichend rauchiges Aroma erzeugt wird. Keine Art des Kaffeeröstens konnte bisher das Drachenfeuer ersetzen.
Leider werden nur diejenigen Drachen als Kaffeeröster ausgebildet, welche eine von Grund auf natürliche Einstellung zu Feuer und zu Helden haben. All diejenigen Tiere, welche nach einem strengen Musterungsverfahren durch die Kaffeeindustrie ausgeschlossen wurde, verbringen nach wie vor ihre Zeit als Lindwürmern im Geäste von Linden, so gut getarnt, dass sie für die heutige Großstadtbevölkerung gänzlich unsichtbar sind und besabbern die Autos, welche die bürgerlichen Kleinhelden vor ihnen schützen. ]