Eine autogerechte Stadt ist eine an den Bedürfnissen des motorisierten Individualverkehrs orientierte Stadt. Das Schlagwort leitet sich vom Titel des 1959 erschienenen Buches Die autogerechte Stadt – Ein Weg aus dem Verkehrs-Chaos des Architekten Hans Bernhard Reichow ab, eines entschiedenen Verfechters dieser Idee.

Beim Neu- und Wiederaufbau der Städte nach dem Zweiten Weltkrieg orientierten sich Stadtplaner überwiegend an der das Automobil bevorzugenden Charta von Athen (CIAM) von 1933. Wohnen und Gewerbe wurden damit häufig voneinander getrennt. Fortan wurden auch zahlreiche suburbane Satellitenstädte („Schlafstädte“) geplant.

Nach heutigen Maßstäben wird das Konzept der autogerechten Stadt überwiegend kritisch und als unnachhaltig angesehen, von vielen auch als warnendes Beispiel verfehlter, kurzsichtiger Stadtplanung dargestellt. Zugleich wird das Konzept in vielen Teilen der Welt weiterverfolgt, besonders bei Großprojekten in stark wachsenden Ballungsräumen.

Leitlinien

In der autogerechten Stadt sollten sich alle Planungsmaßnahmen dem ungehinderten Verkehrsfluss des Autos unterordnen, das damit zum neuen Maß aller Dinge wurde. Vor allem sollte dies in Verbindung mit klaren Flächenzuweisungen und einer Nutzungsentmischung erfolgen. Dies entspricht weitgehend den Forderungen der funktionalistischen Stadtforschung, wie sie etwa in der Charta von Athen formuliert wurden. Das Konzept der autogerechten Stadt wurde in hohem Maße beim Wiederaufbau im Krieg zerstörter westdeutscher Städte realisiert, beispielsweise in Hannover (durch den damaligen Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht), Köln und Kassel, aber auch in kleineren Städten wie Minden. Dabei wurden erhebliche Eingriffe in erhaltene Bausubstanz vorgenommen, wobei teilweise Stadtteile willkürlich zerschnitten wurden.

Sinn der Konzeption war es, die aus dem Mittelalter stammenden Städte mit überwiegend engen Straßen und Gassen, die Jahrhunderte vor der Entstehung des Automobils angelegt worden waren, an moderne Mobilitätsbedürfnisse anzupassen, insbesondere um die Erreichbarkeit der Städte für Autofahrer und die Anlieferung von Waren per Lkw sicherzustellen. Wichtige Bestandteile waren mehrspurige Umgehungsstraßen (Stadtringe, oft unter Ausnutzung von Wallanlagen und ehemaligen Flächen mittelalterlicher Stadtbefestigungen), Fußgängerzonen, Unterführungen für den Fuß- und Radverkehr, Parkhäuser und Parkleitsysteme für die Stadtzentren.

Konzepte

Die autogerechte Stadt geht von Individual- und öffentlichen Verkehren aus, wobei Individualverkehr auch Fahrrad- oder Fußverkehr sein kann. Diese beiden Fortbewegungsarten zählen zum Umweltverbund.

Grundlage ist eine Trennung der Verkehre, um so ungehinderte Verkehrsflüsse zu gewähren. Unterschiedliche Konzepte bestehen u. a. in der Gewichtung von öffentlichem und Individualverkehr. Eine gleichzeitige Förderung bedeutet den Bau/Ausbau mehrspuriger Straßen und des ÖPNV. Dieses Konzept verfolgten in den 1970er Jahren besonders westdeutsche Großstädte durch eine Verlegung von Straßenbahnen unter die Erde mit der auch danach verwirklichten Planung einer Schienenfreien Innenstadt bzw. der Entwicklung von Stadtbahn-Systemen. Die einseitige Bevorzugung des Individualverkehrs heißt folglich, Straßenbahnen und -sofern vorhanden- auch Oberleitungsbusse als Verkehrshindernis zu betrachten und diese abzuschaffen. Die als Ersatz vorgesehenen Busverbindungen weisen keine oder nur eine geringe Trennung vom Individualverkehr (etwa durch einzelne Busspuren) auf und sind für Auto-affine Menschen nicht attraktiv.

Eine hohe Gewichtung von öffentlichen Verkehren kann den Bau von großflächigen P+R-Anlagen umfassen oder die kommunale Förderung von Verkehrsverbünden und attraktiven Nahverkehrstarifen. Grundüberlegung ist hier, motorisierten Individualverkehr durch einen hohen Prozentanteil des ÖPNV zu vermeiden. Bis heute stellen jedoch besonders kleinere Städte in Deutschland nicht ausreichend Mittel für einen gut ausgebauten ÖPNV bereit oder sind wegen ihrer Finanzlage nicht dazu imstande (diese Situation ist u. a. in der Schweiz anders). Die Bereitstellung von Straßen ist eine Pflichtleistung, ÖPNV erscheint dagegen oft nur als eine ergänzende, geradezu freiwillige, Maßnahme für bestimmte Personengruppen – das Angebot besteht insbesondere in Kleinstädten und in der Schwachverkehrszeit lediglich aus einem Grundfahrplan, besondere Attraktivität ist nicht gefordert.

Autogerecht kann also bedeuten, dass der Individual- bzw. notwendiger Lieferverkehr absoluten Vorrang hat und ÖPNV auf geringem Niveau nebenherläuft. So entstehen im ÖPNV Busnetze mit hohen Taktabständen und Busbahnhöfe mit geringer Nutzung. Es kann beiden Verkehrsarten ein gleicher Schwerpunkt zugemessen werden. In diesem Fall entstehen moderne Straßen und gleichzeitig hochwertige Bahnnetze, die vom übrigen Verkehr getrennt sind; dem Autoverkehr wird jedoch optimale Qualität geboten. Die Alternative wäre absolute Priorität für den ÖPNV im Sinne der Verkehrswende.

Wichtiger Konzeptbestandteil für die Trennung der Verkehrsströme waren Unter- und Überführungen. Eine der ersten Straßenunterführungen für Fußgänger entstand 1957 am Jahnplatz in Bielefeld, sie wurde damals als richtungsweisend gefeiert. Heute werden unterirdische Wegeführungen für den Fußverkehr sehr kritisch gesehen; man muss oft Erfahrungen mit Vandalismus, Drogenkonsum, Graffiti-Malereien etc. bei solchen Unterführungen machen, um zu anderen Konzepten zu gelangen. Ein anderes Beispiel war der U-Bahnhof Kassel Hauptbahnhof als Teil einer dort nicht verwirklichten Unterpflasterstraßenbahn.

Auch Überführungen sind problematisch und werden von der Bevölkerung oft nicht angenommen. Hinzu kommt, dass das Treppensteigen oder Anstiege vielen zu anstrengend und wegen fehlender Barrierefreiheit für Mobilitätseingeschränkte gar nicht möglich ist. Letztgenannte Gruppe bedarf zielführender Lösungen beim barrierefreien Bauen.

Gleiches gilt für Unterführungen, die schnell zu einem Angstraum werden.

Weiterentwicklung

Anfang der 1960er Jahre beauftragte die britische Regierung eine Kommission unter Vorsitz von Colin Buchanan, eine Bilanz der bisherigen Stadtverkehrsplanung aufzustellen und Vorschläge für neue Planungskonzepte zu entwickeln. Der in Deutschland stark rezipierte Buchanan-Report Traffic in towns von 1963 enthält weiterentwickelte Konzepte. Buchanan unterschied als einer der Ersten zwischen dem notwendigen Autoverkehr (Wirtschafts- und Geschäftsverkehr) und dem beliebigen Autoverkehr. Da ein Großteil der Verkehrsprobleme seiner Meinung nach aus der extremen Zunahme des beliebigen Verkehrs resultiert, solle dieser konsequent begrenzt werden. Weiterhin machte er den Vorschlag einer umfeldabhängigen Kapazitäts- und Geschwindigkeitsbegrenzung. Für schützenswerte Bereiche („Environment-Zonen“) schlug er drastische Restriktionen vor. Die Qualität des Straßenraumes für Fußgänger und Aufenthalt solle hier absoluten Vorrang haben. Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine Sachverständigenkommission des deutschen Bundestages 1965.

Kritik

Anfang der 1970er Jahre wurde die autofreundliche Verkehrspolitik der Städte in Deutschland zunehmend skeptischer betrachtet. Kritiker wie Hans Dollinger machten die Dominanz des Automobils für soziale Fehlentwicklungen, etwa die Unfalltoten und die Erlahmung städtischen Lebens, verantwortlich.

Heutzutage wird überwiegend vertreten, dass diese Planungskonzeption zu einseitig war, da sie viele Menschen außer Acht ließ. Insbesondere werden dem Konzept die negativen Auswirkungen des Straßenverkehrs in Innenstädten wie der Beitrag des Straßenverkehrs zu einer hohen Feinstaubbelastung, Lärm und Gefährdung von Fußgängern und Radfahrern angelastet. Aus Sicht des Gender-Mainstreaming wird kritisiert, dass das Leitbild der funktionsgetrennten und autogerechten Stadt bei der Mobilität fast ausschließlich den automobilen Berufsverkehr von mehrheitlich Männern wahrgenommen habe; dabei seien Anforderungen der überwiegend von Frauen geleisteten Versorgungsarbeit und erst recht ihrer Verknüpfung mit der Erwerbsarbeit weitgehend ausgeblendet worden.

Gegenkonzepte

Als Gegenkonzept wurde von anderen Stadt- und Verkehrsplanern und Verkehrssoziologen mittlerweile die autofreie Stadt bzw. das autofreie Wohnen definiert. In Städten wie Köln werden mittlerweile Konzepte diskutiert, um einen Kompromiss zwischen einer Steigerung der Lebensqualität für die Bewohner und einer gleichzeitigen Beibehaltung einer guten Erreichbarkeit auch für den Straßenverkehr zu finden.

Eine der Folgen von Funktionsentmischung in der autogerechten Stadt ist eine strenge Regulierung des Verkehrs, in der – theoretisch – alles Verhalten mit Verkehrsschildern, Markierungen und getrennten Verkehrsflächen vorgegeben wird. Dies wird von Kritikern als Entmündigung der Bevölkerung gesehen und für fehlende Rücksichtnahme auf andere Verkehrsteilnehmer verantwortlich gemacht. Als Gegenkonzept hat sich das Shared-Space-Konzept entwickelt, das ein weniger reguliertes Nebeneinander von motorisiertem und nicht-motorisiertem Verkehr – und Stadtleben im Generellen – ermöglichen soll.

Neuer Urbanismus

Der Neue Urbanismus ist ein übergreifendes Thema in der Entwicklung heutiger Stadtbilder, die gezielt von den Leitlinien der autogerechten Stadt abrückt. Nach dem Erkennen der strukturellen Fehler der vor allem seit der Moderne und der Charta von Athen entstandenen aufgelockerten Siedlungen (bzw. Trabantenstädte) mit Funktionstrennung und überdimensionierten Verkehrsachsen kommt es seit den 1980er Jahren mit dieser Urbanismusbewegung (die u. a. mit Team 10 ihren Anfang nahm) zur Wiederentdeckung der Blockrandbebauung und Mischnutzung von Quartieren und damit städtischer Dichte. Demnach unterstütze diese früher durch die Siedlungsplaner beklagte urbane Bebauungsart die Vorzüge städtischen Lebens in Verbindung mit gesunder sozialer und wirtschaftlicher Durchmischung und einer erheblichen Einsparung von Ressourcen (Anfahrtswege, Heizkosten, Infrastrukturkosten usw.) gegenüber den verschwenderischen Siedlungen.

Andere Länder

Frankreich

Georges Pompidou, französischer Staatspräsident von 1969 bis zu seinem Tod 1974, trieb die Modernisierung Frankreichs entschieden voran. Wiederholt rief er seine Landsleute auf, nicht in Sentimentalität zu verharren. Mit zunehmender Industrialisierung verlagerten sich viele Arbeitsplätze weg von der Landwirtschaft in die Industrie. Pompidou förderte insbesondere die Autoindustrie und den privaten Verkehr. In diesem Sinne wurden in vielen Städten Stadtviertel großteils abgebrochen, um Platz für Schnellstraßen zu schaffen.

Literatur

Einzelnachweise

  1. Ein ungeliebtes Erbe: Stadt und Auto. Bauwelt, abgerufen am 17. März 2022.
  2. Christoph Bernhardt: Verkehrsplanung: Die autogerechte Stadt ist eine Untote. Der Tagesspiegel, abgerufen am 17. März 2022.
  3. Le Corbusier: La Charte d’Athènes. Paris: Éditions de Minuit, 1957, S. 79, 83.
  4. Barbara Schmucki: Der Traum vom Verkehrsfluss. Frankfurt a. M.: Campus, 2001, S. 136f. ISBN 978-3-593-36729-3; Volltext bei Google Books
  5. Vgl. z. B. Hans Dollinger: Die totale Autogesellschaft. Carl Hanser Verlag, München 1972, ISBN 978-3-7632-1622-2.
  6. Susanna von Oertzen; Ingrid Haasper: Key competence. Gender : HAWK-Ringvorlesung 2007/2008. LIT Verlag, Münster 2008, ISBN 3-8258-1402-5, S. 115–116 (257 S.).
  7. Charta des New Urbanism – deutsche Übersetzung der engl. Charter of the New Urbanism
  8. Niklaus Meienberg: Das Schmettern des gallischen Hahns: Reportagen aus Frankreich. Limmat, Zürich 1987, ISBN 978-3-85791-123-1.
This article is issued from Wikipedia. The text is licensed under Creative Commons - Attribution - Sharealike. Additional terms may apply for the media files.