Der Begriff degressive oder fallende Proportionalität beschreibt die Beziehung zwischen zwei Größen, wenn beim Steigen der einen Größe die andere Größe ebenfalls steigt, dies jedoch mit zunehmender Größe immer weniger.

Von Bedeutung ist das Konzept im Zusammenhang mit der Verteilung der Sitze im Europäischen Parlament auf die Abgeordneten der einzelnen EU-Mitgliedstaaten. Es beschreibt in Art. 14 Abs. 2 EU-Vertrag den Grundsatz, dass bevölkerungsreichere Staaten grundsätzlich mehr Sitze im Parlament erhalten als bevölkerungsärmere, bevölkerungsärmere jedoch mehr Sitze pro Einwohner als bevölkerungsreichere. Der Unterschied des Einwohner-Abgeordneten-Verhältnisses zwischen zwei Ländern wird als Disproportionalitätsfaktor bezeichnet.

Auch einige andere politische Systeme bedienen sich de facto des Prinzips der degressiven Proportionalität, auch wenn der Begriff hier üblicherweise nicht gebraucht wird:

Sinn und Problematik

Das Prinzip der degressiven Proportionalität wird meist dann angewandt, wenn politische Einheiten (Mitgliedstaaten) von sehr unterschiedlicher Größe in eine einzelne Institution integriert werden sollen. Es soll eine angemessene Repräsentation der kleineren Mitgliedstaaten ermöglichen, ohne dass dadurch die gemeinsame Institution eine nicht mehr arbeitsfähige Größe annimmt. So würden im Europäischen Parlament mit seinen 751 Abgeordneten Malta oder Luxemburg bei einer Sitzverteilung in direkter Proportionalität zur Einwohnerzahl selbst aufgerundet höchstens einen Abgeordneten stellen können. Umgekehrt würde das Parlament jedoch aus mehreren Tausend Abgeordneten bestehen, wenn die Zahl der Parlamentarier aus den kleinen Ländern beibehalten und die aus den großen Ländern bis zur direkten Proportionalität aufgestockt würde.

Als Kompromiss zwischen diesen beiden Möglichkeiten wurde daher für das Europäische Parlament eine Mindestgröße der nationalen Delegationen festgelegt, die gewährleisten soll, dass auch die Parteienvielfalt der kleineren Staaten repräsentiert werden kann. Zugleich wurde eine Maximalzahl benannt, durch die auch die Zahl der Abgeordneten einwohnerreicherer Länder nicht beliebige Größe annehmen kann.

Allerdings widerspricht das Prinzip der degressiven Proportionalität der demokratischen Grundregel, nach der grundsätzlich jede Wählerstimme das gleiche Gewicht haben soll. Auch das deutsche Bundesverfassungsgericht stellte in seinem Lissabon-Urteil 2009 fest, dass das Europäische Parlament entgegen dem Anspruch von Art. 10 EU-Vertrag kein demokratisches Repräsentationsorgan eines souveränen europäischen Volkes sei, da die Gleichheit aller Staatsbürger bei der Ausübung des Wahlrechts eine der wesentlichen Grundlagen einer freiheitlich-demokratischen Staatsordnung darstelle. Dieser Zustand ist Teil der Kritik am institutionellen Demokratiedefizit der Europäischen Union.

Daher wurden immer wieder Alternativvorschläge für das Europawahlrecht diskutiert, insbesondere die Einführung europaweiter Parteilisten, durch die die Sitzverteilung nach Ländern entfallen würde. Für eine solche Reform wäre allerdings eine Änderung der EU-Verträge notwendig, für die es bislang keinen Konsens unter den nationalen Regierungen gibt.

Modus der Sitzzuteilung im Europäischen Parlament

Die genaue Sitzzahl der einzelnen EU-Mitgliedstaaten wurde politisch ausgehandelt und lässt sich nicht eindeutig in einer mathematischen Funktion beschreiben. Im Allgemeinen orientiert sich die Sitzzuordnung seit dem Vertrag von Lissabon an folgendem Modus:

  • zunächst bekommt jeder Mitgliedstaat ungeachtet seiner Bevölkerungszahl 6 Sitze.
  • Hinzu kommt etwa ein Sitz pro Tranche von 500.000 Einwohnern bei einer Bevölkerung zwischen 1 Million und 10 Millionen sowie
  • ein weiterer Sitz je Tranche von 1 Million Einwohnern bei einer Bevölkerung ab 10 Millionen.

Nach diesem Schlüssel bilden Deutschland als das bevölkerungsreichste und Malta als das bevölkerungsärmste Land der EU die Extremfälle: auf Deutschland (82,5 Mio. Einwohner) entfallen 96 Sitze, d. h. ein Sitz auf 859.000 Einwohner, auf Malta (0,4 Mio. Einwohner) 6 Sitze, d. h. ein Sitz auf 67.000 Einwohner. Im Durchschnitt kommt europaweit ein Sitz auf rund 665.000 Einwohner.

Diese Rechnung umfasst jedoch sämtliche Einwohner des Landes, also auch Nicht-EU-Ausländer, die bei Europawahlen kein Stimmrecht besitzen. Zudem werden die Sitzzahlen nicht automatisch an veränderte Bevölkerungszahlen angepasst; aufgrund des unterschiedlichen Bevölkerungswachstums der einzelnen Mitgliedstaaten können sich die Relationen daher im Lauf der Zeit verändern.

Bei der Europawahl 2009, die noch nach dem im Jahr 2000 ausgehandelten Schlüssel des Vertrags von Nizza erfolgte, waren Spanien (50 Sitze auf 46 Mio. Einwohner, d. h. 917.000 Einwohner pro Sitz) und Luxemburg (6 Sitze auf 0,5 Mio. Einwohner, 82.000 Einwohner pro Sitz) die beiden Extreme; durchschnittlich kam ein Sitz auf 679.000 Einwohner.

Die folgende Tabelle zeigt die Einwohner-Abgeordneten-Verhältnisse nach dem Vertrag von Lissabon. Angegeben ist bei den Verträgen das Datum des Inkrafttretens.

Land Abgeordnete
(Vertrag von Nizza) 2003-02-01
Abgeordnete
(Vertrag von Lissabon) 2009-12-01
Abgeordnete
(Nach Brexit) 2020-02-01
Einwohner
(Millionen) (von 2021)
Bürger pro Abgeordnete
(Nach Brexit)
Europäische Union 736751 705447,2634.326
 Belgien 2222 2111,6552.381
 Bulgarien 1718 176,9405.882
 Dänemark 1313 145,8414.286
 Deutschland 9996 9683,2866.667
 Estland 66 71,3185.714
 Finnland 1313 145,5392.857
 Frankreich 7274 7967,7856.962
 Griechenland 2222 2110,7509.524
 Irland 1212 135384.615
 Italien 7273 7659,2778.947
 Lettland 89 81,9237.500
 Litauen 1212 112,8254.545
 Luxemburg 66 60,6100.000
 Malta 56 60,583.333
 Niederlande 2526 2917,5603.448
 Österreich 1719 198,9468.421
 Polen 5051 5237,8726.923
 Portugal 2222 2110,3490.476
 Rumänien 3333 3319,2581.818
 Schweden 1820 2110,4495.238
 Slowakei 1313 145,5392.857
 Slowenien 78 82,1262.500
 Spanien 5054 5947,4803.390
 Tschechien 2222 2110,7509.524
 Ungarn 2222 219,7461.905
 Vereinigtes Königreich 2020 Austritt erklärt 7273 ---
 Zypern 66 60,9150.000

Schwellenwert je Land für Europäische Bürgerinitiativen

Die Werte in der mit (0) indizierten Spalte stammen aus der obigen Tabelle und damit wohl aus 2008, Kroatiens Einwohnerzahl jedoch aus 2016.

Die Werte in den mit (1) indizierten Spalten stammen aus dem Artikel Europäische_Bürgerinitiative#Ablauf_einer_Bürgerinitiative

Die Werte in den mit (2) indizierten Spalten stammen aus von der Webseite der Europäischen Bürgerinitiative

Land Einwohner
(Millionen) (1) (von 2008?)
Schwellenwert EBI = SEBI(1) SEBI / Einw.(1) Schwellenwert EBI = SEBI(2)
Europäische Union 501,11.000.0000,20 %1.000.000
 Belgien 10,816.5000,15 %15.750
 Bulgarien 7,513.5000,18 %12.750
 Dänemark 5,59.7500,18 %9.750
 Deutschland 81,874.2500,09 %72.000
 Estland 1,34.5000,34 %4.500
 Finnland 5,49.7500,18 %9.750
 Frankreich 64,755.5000,09 %55.500
 Griechenland 11,316.5000,15 %15.750
 Irland 4,59.0000,20 %8.250
 Italien 60,354.7500,09 %54.750
 Kroatien seit 1. März 2013 in der EU 4,198.250
 Lettland 2,26.7500,33 %6.000
 Litauen 3,39.0000,30 %8.250
 Luxemburg 0,54.5000,90 %4.500
 Malta 0,44.5001,08 %4.500
 Niederlande 16,619.5000,11 %19.500
 Österreich 8,414.2500,17 %13.500
 Polen 38,238.2500,10 %38.250
 Portugal 10,616.5000,16 %15.750
 Rumänien 21,524.7500,13 %24.000
 Schweden 9,315.0000,16 %15.000
 Slowakei 5,49.7500,18 %9.750
 Slowenien 2,06.0000,29 %6.000
 Spanien 46,040.5000,09 %40.500
 Tschechien 10,516.5000,16 %15.750
 Ungarn 10,016.5000,17 %15.750
 Vereinigtes Königreich 2020 Austritt erklärt 62,054.7500,09 %54.750
 Zypern 0,84.5000,40 %4.500

Einzelnachweise

  1. BVerfG, 2 BvE 2/08 vom 30. Juni 2009, Absatz-Nr. 282ff.
  2. EurActiv, 13. Oktober 2008: Europaabgeordneter: „Umfassende“ Wahlreform bis 2014 „dringend benötigt“ (Memento des Originals vom 26. November 2009 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis..
  3. Vgl. Europäische Demografie EU27 Bevölkerung (Memento vom 21. August 2010 im Internet Archive) (PDF-Datei; 180 kB)
  4. Da die Europawahl 2009 noch entsprechend dem Vertrag von Nizza durchgeführt wurde, bleiben Deutschland die drei wegfallenden Sitze bis zur Europawahl 2014 erhalten. Das Europäische Parlament hat bis 2014 vorübergehend 754 Abgeordnete.
  5. Abschaffung der Steuerbefreiung für Flugzeugtreibstoff. eci.ec.europa.eu, archiviert vom Original am 21. September 2019; abgerufen am 20. April 2020.  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
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