Der Eisenbahnunfall von Esslingen war ein Frontalzusammenstoß zweier Personenzüge in der westlichen Einfahrt des Bahnhofs Esslingen (Neckar) am 13. Juni 1961. 35 Menschen starben.

Ausgangslage

Infrastruktur

Der Abschnitt der Bahnstrecke Stuttgart–Ulm ist bei Esslingen am Neckar viergleisig ausgebaut. Ein Gleispaar dient dem Fernverkehr, eines dem Stuttgarter Vorortverkehr, dem Vorläufer der S-Bahn Stuttgart. Die Gleise des Vorortverkehrs waren in Oberbau und Unterbau erneuerungsbedürftig. Deshalb fanden Gleisbauarbeiten zwischen den Bahnhöfen Esslingen und Stuttgart-Obertürkheim statt und die Strecke war nur eingleisig befahrbar. Der gesamte Zugverkehr wurde über das Gleis Stuttgart–Esslingen geleitet, das Gleis Esslingen–Stuttgart war für die Bauarbeiten westlich der Ausfahrt des Bahnhofs Esslingen gesperrt.

Wegen der dichten Belegung der Strecke mit Zugfahrten entschloss sich die Deutsche Bundesbahn, die Züge nicht über die Weichenverbindung, die unmittelbar am Bahnsteigende bestand, auf das Gleis der Gegenrichtung wechseln zu lassen, sondern dies erst weiter westlich über eine Bauweiche geschehen zu lassen. Diese Überleitung wurde mit einem zusätzlichen Signal gesichert, das vom Bahnsteig aus aber nicht zu erkennen war. Zwischen dem Ausfahrsignal am Bahnsteig und dem Signal, das die Baustellenweiche sicherte, entstand so ein zusätzlicher Blockabschnitt, „Vorrückabschnitt“ genannt. Dieses Vorgehen resultierte aus der dichten Streckenbelegung und sparte ein bis zwei Minuten Verzögerung, half also die Verspätungen, die die Baustelle verursachte, zu reduzieren. Dafür gab es weder Vorschriften noch einen Präzedenzfall und auch der Begriff „Vorrückabschnitt“ war für diesen speziellen Fall neu geschaffen worden.

Die Züge

Der erste Zug – Nt 3902 – der von den beiden dreiteiligen Triebzügen ET 55 07 und 03 geleistet wurde, war nach Stuttgart Hauptbahnhof unterwegs. Er wurde um 16:47 Uhr am Bahnsteig in Esslingen bereitgestellt. Die Bremsprobe hatte er absolviert. Der Triebfahrzeugführer musste für die Weiterfahrt den Führerstand wechseln. Dafür hatte er planmäßig nur zwei Minuten Zeit und beeilte sich so sehr, dass er seine Aktentasche und seine Mütze in dem nun rückwärtigen Führerstand vergaß. Allerdings – das war aber weder Triebfahrzeug- noch Zugführer bekannt – war die Abfahrt baustellenbedingt auf 16:52 Uhr verschoben. In den letzten Tagen auf anderen Strecken eingesetzt, war er von den baulichen Veränderungen an der Strecke nicht unterrichtet. Das Verzeichnis der Langsamfahrstellen hatte er wohl nicht zur Kenntnis genommen: Das Heft befand sich – offensichtlich unbenutzt – in seiner Aktentasche.

Der zweite Zug – Nt 3885 – war gebildet aus den ebenfalls dreiteiligen Triebwagen-Einheiten ET 65 012 und 002 und von Stuttgart Hauptbahnhof (ab: 16:32) nach Süßen unterwegs.

Unfallhergang

Der Zugführer erteilte den Abfahrauftrag, als das am Bahnsteig neu installierte Signal schließlich „Fahrt frei“ zeigte, und stieg in den Zug, wo er sich sofort daran machte, die Wagenzettel auszufüllen, was ihm wegen der am Bahnsteig scheinbar gebotenen Eile zuvor nicht möglich war. Der Triebfahrzeugführer nahm den Abfahrauftrag des Zugführers wahr und setzte den Zug in Bewegung. Dabei verließ er sich vollständig auf den erteilten Abfahrauftrag, ohne weiter auf die Signale zu achten, insbesondere nahm er das Vorsignal für das Hauptsignal, das die Einfahrt in den eingleisigen Abschnitt sicherte, nicht wahr. In der nachträglichen Untersuchung wurde vermutet, dass das geschah, weil er aus reiner Gewohnheit fuhr und hier kein Vorsignal erwartete. So beschleunigte er viel zu schnell. Das fiel dem Beamten im Stellwerk 2 auf, der sofort das Stellwerk 1 anrief. Dieses passierte der Triebwagen aber schon mit einer Geschwindigkeit, die ein rechtzeitiges Bremsen vor dem Signal nicht mehr ermöglichte. Der Beamte in Stellwerk 1 versuchte noch durch Handzeichen den Triebfahrzeugführer zum Bremsen zu veranlassen. Zugleich nahm er die Einfahrt für Nt 3885 zurück, dessen Zugspitze aber bereits am Signal vorbeigefahren war. Auch Gleisarbeiter versuchten, durch Handzeichen den Triebfahrzeugführer auf seinen Fehler aufmerksam zu machen, was aber auch nicht gelang. Erst auf Höhe des „Halt“ zeigenden Signals, das die Einfahrt in den eingleisigen Abschnitt sicherte, begann er bei knapp 80 km/h zu bremsen.

Der Triebfahrzeugführer des Nt 3902 konnte den entgegenkommenden Zug erst in letzter Sekunde sehen, da er zuvor durch einen abgestellten Bauzug verdeckt war. Er rief noch eine Warnung in den vordersten Fahrgastraum. Um 16:54 Uhr prallten die beiden Vorortzüge frontal aufeinander. Der Zusammenstoß erfolgte unmittelbar hinter der für den eingleisigen Betrieb eingebauten Bauweiche. Der Nt 3902 war dabei noch etwa 50 km/h schnell.

Folgen

35 Menschen starben, darunter auch beide Triebfahrzeugführer, 36 weitere Menschen wurden schwer verletzt. Der Sachschaden betrug knapp 334.000 Deutsche Mark.

Das Rote Kreuz, Bundeswehrsoldaten und eine US-amerikanische Sanitätseinheit, die mit 30 Krankenwagen angerückt war, bemühten sich um die Verletzten.

Zunächst richtete sich der Verdacht der Ermittlungsbehörden gegen Triebfahrzeug- und Zugführer. Letzterem wurde vorgeworfen, seiner Pflicht der Mitbeobachtung der Signale nicht nachgekommen zu sein. Im Laufe der Ermittlungen stellte sich jedoch heraus, dass unzureichende Unterweisungen, teilweise sich widersprechende Vorschriften und ungenügende Sicherungsmaßnahmen den Unfall mit verursacht hatten. Individuelle Schuld festzustellen, sei es bei dem Zugführer, sei es bei anderen Verantwortlichen, fiel der Justiz daher schwer. Nach fast siebenjährigem Verfahren bei Staatsanwaltschaft und Landgericht Stuttgart stellte das Gericht das Verfahren ein.

Literatur

  • Hans Joachim Ritzau: Von Siegelsdorf nach Aitrang. Die Eisenbahnkatastrophe als Symptom – eine verkehrsgeschichtliche Studie. Landsberg 1972, DNB 730007049.
  • Joa Schmid: Göppingen/Esslingen: Das Leid bleibt unvergessen. In: Göppinger Kreisnachrichten / Neue Württemberger Zeitung. 18. Juni 2011, archiviert vom Original am 4. Februar 2014;.
  • "Was wurde daraus": Zugunglück in Esslingen. SWR Retro – Abendschau, 9. November 1961. In: ARD Mediathek. Südwestrundfunk;

Einzelnachweise

  1. Hans Joachim Ritzau: Von Siegelsdorf nach Aitrang. Die Eisenbahnkatastrophe als Symptom – eine verkehrsgeschichtliche Studie. Landsberg 1972, DNB 730007049, S. 122 f.
  2. 1 2 Hubert G. Königer: Unfall 1961 in Esslingen. In: Drehscheibe Online. 15. Juni 2006, abgerufen am 24. Juli 2023.
  3. 1 2 Hans Joachim Ritzau: Von Siegelsdorf nach Aitrang. Die Eisenbahnkatastrophe als Symptom – eine verkehrsgeschichtliche Studie. Landsberg 1972, DNB 730007049, S. 126.
  4. Hans Joachim Ritzau: Von Siegelsdorf nach Aitrang. Die Eisenbahnkatastrophe als Symptom – eine verkehrsgeschichtliche Studie. Landsberg 1972, DNB 730007049, S. 137.
  5. Joa Schmid: Göppingen/Esslingen: Das Leid bleibt unvergessen. In: Göppinger Kreisnachrichten / Neue Württemberger Zeitung. 18. Juni 2011, archiviert vom Original am 4. Februar 2014; abgerufen am 24. Juli 2023.
  6. 1 2 Hans Joachim Ritzau: Von Siegelsdorf nach Aitrang. Die Eisenbahnkatastrophe als Symptom – eine verkehrsgeschichtliche Studie. Landsberg 1972, DNB 730007049, S. 122.

Koordinaten: 48° 44′ 28,7″ N,  17′ 14,2″ O

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