In der klassischen Mechanik ist die Eulerkraft (benannt nach Leonhard Euler) die auf einen Körper wirkende Scheinkraft, die in einem rotierenden Bezugssystem oder allgemein beschleunigten Bezugssystem auftritt, wenn sich die Winkelgeschwindigkeit des Bezugssystems zeitlich ändert.
Der Name wurde 1949 von Cornelius Lanczos in seinem Buch The Variational Principles of Mechanics eingeführt, wobei er gleichzeitig darauf hinwies, dass zu dieser Zeit kein allgemein gebräuchlicher Name für diese Trägheitskraft existierte.
Allgemeines
Die Eulerkraft ist gegeben durch:
mit
- der Winkelgeschwindigkeit des Bezugssystems,
- der Winkelbeschleunigung des Bezugssystems,
- dem Ortsvektor des Punktes im Bezugssystem.
Die Eulerbeschleunigung (auch Azimutalbeschleunigung oder Transversalbeschleunigung; in der Physik ist die Bezeichnung „Eulerbeschleunigung“ kaum gebräuchlich) wird durch die Winkelbeschleunigung des Bezugssystems hervorgerufen:
Die Eulerbeschleunigung gibt in der Technischen Mechanik (daher der Index TM) den von abhängigen Teil der Führungsbeschleunigung an, die ein Punkt erfahren würde, der fest mit dem Bezugssystem verbunden ist. Er kommt durch die ungleichförmige Drehbewegung des Bezugssystems zustande.
Die oben definierte Eulerkraft ist der zugehörige Trägheitswiderstand:
Beispiele
Anfahrendes Karussell
Dies ist ein Beispiel für eine zeitliche Änderung der Rotationsgeschwindigkeit.
Ein Kind, das in einem Kinderkarussell auf einem Pferd sitzt, spürt beim Anfahren die Folgen der Trägheit, da es im Inertialsystem nicht gleichförmig bewegt wird. Es muss sich festhalten, um nicht herunter zu fallen. In einem beschleunigt rotierenden Bezugssystem mit Ursprung auf der Drehachse wird dies der Wirkung der Eulerkraft zugeschrieben. Die Richtung der Eulerkraft liegt hier in der Rotationsebene senkrecht zur Zentrifugalkraft. In diesem Beispiel mit fester Richtung der Drehachse ist die Eulerkraft nichts anderes als die Trägheitskraft , die ein Körper jeder Beschleunigung seiner Bewegung entgegensetzt ( ist die Masse des Körpers und die Beschleunigung ihrer Bahngeschwindigkeit).
Falls sich das Kind beim ruckartigen Anfahren nicht festhält, spürt es keine Trägheitskraft, rutscht aber nach hinten vom Pferd herunter. Von außen betrachtet bleibt seine Position unverändert, und das Pferd unter ihm fährt davon. Von einem Standpunkt in dem obigen beschleunigt rotierenden Bezugsystem aus erscheint das Kind aber nach hinten beschleunigt, was in diesem Bezugssystem als Folge der Eulerkraft interpretiert wird.
Kippen der Drehachse
Neigt sich bei gleichbleibender Drehgeschwindigkeit eines Karussells die Karussellachse zunehmend nach einer Seite, so erfährt die mitfahrende Person die Eulerkraft zweimal pro Umdrehung besonders stark. Die Eulerkraft ist immer dann maximal, wenn der Ortsvektor der Person gerade senkrecht auf der Ebene steht, in der die Neigung sich vollzieht. Zu diesem Zeitpunkt zeigt die Bahnkurve, zusätzlich zur Krümmung aufgrund der Drehbewegung in der augenblicklichen Bahnebene des Karussells, eine maximale Krümmung weg von der Bahnebene. Dagegen ist die Eulerkraft zu den Zeitpunkten Null, wenn die Bahnkurve der Person durch die Ebene geht, in der sich die Drehachse neigt. Dann entspricht der Zunahme der Neigung der Achse nur eine gleichförmige Geschwindigkeit senkrecht zur Bahnebene.
Historische Bemerkung zur Eulerkraft
Die Eulerkraft kann bis zu Leonhard Eulers Werk zurückverfolgt werden; seine gesamte Mechanik der starren Körper basiert darauf.
In seinem dritten, späten Hauptwerk zur Mechanik, der Theoria Motus Corporum Solidorum et Rigidorum, erstmals 1765 erschienen, entwickelt Euler einen neuartigen, elementaren Ansatz zur Begründung sämtlicher Kraftwirkungen auf ausgedehnte Körper mit starren Verbindungen, der sich von der Newtonschen Kraftdynamik für Punktmassensysteme abgrenzt. Konzeptuell entspricht Eulers Ansatz der Anwendung des Prinzips nach d’Alembert, das von der Statik eines Körpersystems ausgeht und für dynamische Einwirkungen verallgemeinert wird. Er besagt in Kurzform:
Bei jeder infinitesimalen Rotation eines Körpers um eine feste Achse, die nicht durch den Massenmittelpunkt des Körpers verläuft, wird ein dynamisches Gleichgewicht der Drehmomente auf jedes Massenelement des Körpers erzeugt. Die verlorene, kompensierende Trägheitskraft tritt dabei in Form der Eulerkraft auf, deren Betrag ist.
Ausgehend von dieser „elementaren“ Kraft gelingt Euler die Verallgemeinerung für beliebige starre Körper, indem er über die jeweils wirkenden statischen Flächenmomente integriert. Daran schließt sich in den darauffolgenden Kapiteln der Theoria Motus ein erstmals systematischer Stand der Mechanik starrer Körper an. Zu der damaligen Zeit gehörten vor allem folgende Bereiche dazu: der Schwerpunktsatz, der allgemeine Momentensatz, eine allgemeine Theorie der Trägheitsmomente, die Theorie des Schwingungsmittelpunktes und die Kreiseltheorie.
Eulers Verfahren, die gesamte Mechanik der starren Körper aus der Elementarkraft zu entwickeln, konnte sich in den darauffolgenden Mechanikwerken nicht durchsetzen. Schon frühzeitig etablierte sich vielmehr die Lagrangesche Fassung des d’Alembertschen Prinzips, nach der die Eulerkraft nur als abgeleitete Größe, die aus Zwangs- oder Führungskräften gebildet wird, vorkommt.
Belege
- ↑ Jerrold E. Marsden, Tudor S. Ratiu: Introduction to Mechanics and Symmetry: A Basic Exposition of Classical Mechanical Systems. Springer, 1999, ISBN 0-387-98643-X, S. 251 (google.de).
- ↑ Lanczos: The variational principles of mechanics. University of Toronto Press 1949, S. 103: “This third apparent force has no universally accepted name. The author likes to call it the ‘Euler force’ in view of the outstanding investigations of Euler in this subject.”
- ↑ Ralf Greve: Kontinuumsmechanik. Gabler Wissenschaftsverlage, 2003, ISBN 978-3-540-00760-9, S. 36 (google.de [abgerufen am 11. Mai 2012]).
- ↑ David Morin: Introduction to Classical Mechanics. With Problems and Solutions. Cambridge University Press, 2008, ISBN 0-521-87622-2, S. 469 (google.de).
- ↑ Grant R. Fowles, George L. Cassiday: Analytical Mechanics. 6. Auflage. Harcourt College Publishers, 1999, S. 178.
- ↑ Anmerkung: Man beachte, dass die analog gebildete Coriolisbeschleunigung in Physik und Technischer Mechanik mit entgegengesetzten Vorzeichen definiert wird.
- ↑ Richard H. Battin: An Introduction to the Mathematics and Methods of Astrodynamics. American Institute of Aeronautics and Astronautics, Reston, VA 1999, ISBN 1-56347-342-9, S. 102 (google.de).
- ↑ Leonhard Euler: Theoria Motus Corporum Solidorum et Rigidorum. Verlag Anton F. Röse, Rostock, Greifswald 1765. Online, abgerufen am 11. April 2022.
Neu herausgegeben in: Leonhardi Euleri Opera Omnia, Ser. 2 (Opera Mechanica et Astronomica), Vol. 3. Hrsg. v. Charles Blanc. Bern 1948. (Eneström-Nr. 289).
Die zweite Auflage von 1790 ist von demselben Herausgeber Röse um gleich mehrere nachgelassene Schriften als Anhänge erweitert worden. Jakob Philipp Wolfers hat diese Auflage schließlich ins Deutsche übersetzt:
J. Ph. Wolfers (Hrsg.): Leonhard Euler’s Mechanik oder analytische Darstellung der Wissenschaft von der Bewegung – Dritter Teil. Greifswald 1853. Textarchiv – Internet Archive. - ↑ Von Euler wird diese Trägheitskraft als eine „Elementarkraft“ eingeführt (vis elementaris), die eine zur Statik des Körpers „gleichgeltende Kraft“ (vis aequivalentis) bilden soll. Man siehe dazu Euler (1765) des vorherigen Belegs, § 279 (Scholion), S. 110 f. sowie § 297, S. 117 (Explicatio). Die Eulerkraft wird explizit in Kapitel III (De Motus Gyratorii Generatione, ab § 352, S. 137) aufgestellt und für beliebige Massenverteilungen verallgemeinert.
- ↑ Siehe zur Einführung vor allem Charles Blanc: Préface de l’éditeur. Op. Omnia II.3 (1948) des o. g. Belegs, S. VII–XXII. Der „erstmals systematische“ Stand der Mechanik starrer Körper wurde bspw. von István Szabó bemerkt, wenn es etwa in seinem Lehrbuch Einführung in die Technische Mechanik (Berlin/Göttingen/Heidelberg 51961) heißt, dass dieses Werk „schon alles Wesentliche dieses Gegenstandes enthält“.
- ↑ Man vergleiche dazu vor allem Lagranges ursprüngliche „analytische“ Darstellung des Drallsatzes, die in der ersten Auflage von 1788 noch gar nicht vorkommt:
Joseph-Louis Lagrange: Mécanique Analytique. Nouvelle Édition. Paris 21815. Tome Premier, seconde partie, § III, Seite 271 ff. (Propriétés relatives aux rotations produites par des forces d’impulsion). Online, abgerufen am 11. April 2022.