Heracleia, auch Heraclea, war eine Stadt nordöstlich der Lagune von Venedig, die in ost-römischer Zeit entstand und zeitweise zur Hauptstadt der Lagune aufstieg. Zu Ehren des oströmischen Kaisers Herakleios benannte man die, wie man glaubte, unter ihm neu gegründete Stadt, die auch als Civitas Nova Eracliana bekannt ist. Sie nahm die Flüchtlinge aus dem von Langobarden um 639 (das genaue Jahr ist nicht bekannt, es wird auch 640 und 641 angegeben) zerstörten Opitergium auf, der letzten Festung des Reiches im Umkreis der Lagune.
In Heracleia residierte 726 bis 737 Ursus, der wohl erste Doge von Venedig. Auch seine beiden legendären Vorgänger stammten angeblich von dort. Fünf Jahre lang, etwa von 737 bis 742, regierten nach dem Tod des Ursus, jeweils für ein Jahr, fünf Magistri militum. Doch im Jahr 742 wurde Deusdedit, Ursus‘ Sohn, zum zweiten Dogen erhoben, der die Hauptstadt nach Methamaucum verlegte (747?).
Die ländlichen Siedlungen wurden sehr viel später aufgegeben, das Bistum erst 1433 aufgehoben. Keine archäologische Fundstätte lässt sich bisher mit der in den schriftlichen Quellen vielfach genannten Stadt in Verbindung bringen. „The town still remains to be found“, wie Juergen Schulz 2010 konstatierte. Die Verbindung zur Insel Melidissa, wie die Stadt angeblich vor der Umbenennung nach dem oströmischen Kaiser Herakleios hieß, ist legendär.
Quellenlage
Während über das Frühmittelalter fast nur archäologische Untersuchungen möglich sind, setzt um 1000, also mehr als zwei Jahrhunderte nach dem Niedergang Heracleias, mit der Istoria Veneticorum des Johannes Diaconus die schriftliche Überlieferung ein. So schreibt der Verfasser, der die zwölf Inseln Venedigs aufführt, zu Heracleia: „Quarta quidem insula estat, in qua dudum ab Eraclio imperatore fuerat civitas magnopere constructa, sed vetustate consumpta, Venetici iterum illam parvam composuerunt. Postquam autem Opiterine civitas a Rothari rege capta est, episcopus illius civitatis auctoritate Severiani pape hanc Eraclianam petere ibique suam sedem confirmare voluit.“ (I, 6). Dort war also unter Kaiser Herakleios eine großangelegte Stadt entstanden, deren Bauwerke jedoch im Laufe der Zeit einen Niedergang erlebten. Erst als Opitergium von den Langobarden unter Rothari erobert worden war, gestattete Papst „Severian“ – gemeint ist wohl Papst Severinus – dem dortigen Bischof, seinen Sitz nach Heracleia zu verlegen.
Aus einer Inschrift von der Insel Torcello aus dem Jahr 639 geht hervor, dass ein Offizier namens Mauritius dort umfangreiche bauliche Arbeiten ausführen ließ.
Langobarden, Aufstieg zur Hauptstadt
Mit den Langobarden hatten sich die Machtverhältnisse in Italien drastisch verändert, und in einem jahrzehntelangen Prozess wichen die oströmisch-byzantinischen Siedlungen immer weiter vor den Langobarden zurück, die seit 568 Italien zu erobern begonnen hatten. Nachdem die Langobarden 639 und endgültig 667 auch Opitergium (Oderzo) erobert und nunmehr zerstört hatten, flohen dessen Bewohner nach Heraclea, das zu einer Art Hauptstadt der Lagune wurde. Zudem wurde es unter Magnus von Oderzo Bischofssitz und Ausgangsort zahlreicher Kirchengründungen auf den venezianischen Inseln. Es setzte sich bald der Name Civitas Nova durch. Kirchliches Oberhaupt der Stadt war der Patriarch von Grado, politisch unterstand sie, wie der gesamte Dukat Venedig, dem oströmisch-byzantinischen Kaiserreich.
Deusdedits Vater Ursus residierte mehr als ein Jahrzehnt in Heracleia. Doch kam er 737 im Zuge von Kämpfen, deren Ursachen sich nicht mehr sicher feststellen lassen, ums Leben. Zu seiner Zeit kam es immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Bewohnern der Inseln und auch mit den Nachbarn in Jesolo. Vermutlich bestand ein Zusammenhang zum Bilderstreit, der in Konstantinopel von Kaiser Leo III. ausgelöst worden war, und der in Italien zu Widerstand gegen die Bilderzerstörung führte.
735 oder 739/740 waren die Venezianer in der Lage, eine Flotte zu bauen, mit deren Hilfe es ihnen gelang, das von Langobarden eroberte Ravenna zurückzuerobern, den Sitz des byzantinischen Exarchen und damit Oberherrn der italienischen Gebiete. Dazu müssen die Häfen in der Lagune über entsprechende bauliche und organisatorische Strukturen verfügt haben. Dies wiederum dürfte ihre Stellung im Wettstreit mit Heracleia gestärkt haben. Gherardo Ortalli nahm an, dass die pro-byzantinischen Familien sich dabei eher an die alte „Hauptstadt“ Heraclea gebunden fühlten. Die gegnerische Parteiung bestand demnach aus denjenigen Familien, die ihr Zentrum in Methamaucum sahen, und die eine stärkere Autonomie anstrebten. Allerdings spricht die exponierte Lage Malamoccos am Meer eher gegen diese These.
In jedem Falle erfolgte unter Deusdedit der Umzug nach Methamaucum. Auch nach ihm wurde die Residenz nicht wieder nach Eraclea zurückverlegt, um schließlich 810/11 dauerhaft nach Rialto verlegt zu werden. Bereits Mitte des 8. Jahrhunderts sollen die letzten Bewohner Heracleia, das zunehmend verlandete, verlassen haben.
Deusdedit wurde um 755 nach 13 Jahren durch Galla gestürzt und geblendet. Dies geschah in einer Zeit, als Ravenna (750/751) endgültig von den Langobarden erobert worden war, und sich der Papst um Hilfe nicht mehr an die bisherige Schutzmacht Byzanz, sondern an Pippin wandte, der sich 751 zum König der Franken erhoben hatte. Damit war die Lagune von Venedig gleichsam eine überaus weit entfernte, isolierte Insel des Byzantinerreiches geworden.
Auf Galla folgte kaum ein Jahr später Domenico Monegario im Amt, der aus Methamaucum stammte, und der nun seinerseits Galla blenden ließ. Dem neuen Dogen wurden zwei Tribunen zur Seite gestellt, um seine Regierungstätigkeit zu kontrollieren. Möglicherweise stand dabei die Gruppe der Landbesitzer aus dem Norden derjenigen der Bewohner der inneren Lagune gegenüber, die eher von Fischfang, Salz und Handel lebten. Dort aber ballten sich wohl die Schiffbaustätten, ohne die die Rückeroberung Ravennas undenkbar gewesen wäre. Auch Dominicus wurde am Ende, wie alle seine Vorgänger, gestürzt und geblendet.
Dominicus‘ Nachfolger Mauritius, dem wiederum sein Sohn Johannes nachfolgte, versuchte eine (erste) Dynastiegründung. Mauritius stammte aus „Civitas Nova“, also aus Heracleia. Dennoch hielt er am Herrschaftssitz Methamaucum fest. Nach Johannes Diaconus wurde er „consul et imperialis dux Venetiarum provinciae“.
Archäologische Suche, ländliche Siedlungen
Heracleia wurde erst in den 1970er Jahren, so glaubte man zunächst, wiederentdeckt, die Ausmaße ließen erst Luftbilder erkennen, die ab 1977 bekannt wurden. Sie führten zu Spekulationen über spätrömische Siedlungen. 1987 und 1988 erfolgten Ausgrabungen, die Artefakte aus der Zeit zwischen dem 1. Jahrhundert v. Chr. und dem 5./6. Jahrhundert n. Chr. zutage förderten. Das untersuchte archäologische Areal misst 1200 mal 600 m und befindet sich zwischen dem heutigen Eraclea und San Donà di Piave. Die Struktur der Siedlung schien Ähnlichkeiten zum heutigen Venedig aufzuweisen. So sollte ein etwa 50 m breiter zentraler Kanal die zunächst für eine Stadt gehaltene Anlage durchzogen haben; davon abzweigende Nebenkanäle hätten demnach die Inseln, auf denen sich Heracleia erstreckte, verbunden. Dazwischen erstreckten sich allerdings sehr ausgedehnte Gärten, so dass bald nicht der Eindruck einer städtischen Siedlung entstand. In der Kaiserzeit lag der Meeresspiegel dabei mindestens zwei Meter tiefer als heute, während die Funde aus dem 3. bis 6. Jahrhundert belegen, dass dieser Meeresspiegel nur noch 1,45 Meter tiefer lag.
Die obigen Siedlungen, die entlang eines Flusslaufes nachweisbar sind, standen in Kontakt mit Opitergium und Altinum. Dabei verringerte sich die Zahl der Siedlungen zwischen dem 2. und dem 4. Jahrhundert von 7 bis 10 Stätten auf 2 bis 3. Die Villen hatten sich derweil zu Latifundien ausgedehnt. 1954 fanden sich Überreste des Bischofssitzes aus dem späten 7. Jahrhundert, wie man glaubte. Doch alles in allem kann es sich nicht um eine Stadt gehandelt haben, sondern eher um ein intensiv agrarisch genutztes Gebiet, das außer einem Baptisterium keine zentralen Baulichkeiten aufwies. Auf dieser ökonomischen Basis fand wohl die Gründung Heracleias statt.
Literatur
- Diego Calaon: Cittanova Eracliana, in: Joachim Henning (Hrsg.): Post Roman Towns, Trade and Settlement in Europe and Byzantium, Bd. 1: The Heirs of the Roman West, De Gruyter, Berlin / New York 2007, S. 88–93 (Digitalisat).
- Pierluigi Tozzi, Maurizio Harari: Eraclea Veneta, in: Enciclopedia dell’Arte Antica, Classica e Orientale, Secondo Supplemento 1971–1994, Band 3: Ḥabūba Kabira–Neoatticismo, Istituto della Enciclopedia Italiana, Rom 1995, S. 481 f.
- Sandro Salvatori: Civitas Nova Eracliana: risultati delle campagne 1987–1988 e prospettive generali, in: Antichità Altoadriatiche 26 (1990) 299–309 (Digitalisat).
- Isabella Borghero, Tiziana Marinig: Prime valutazioni cronologico-funzionali sulla presenza romana nell’area di Cittanova, in: Venezia Arti 3 (1989) 148–152 (Digitalisat).
- Pierluigi Tozzi: La scoperta di una città scomparsa, Eraclea veneta, Edizioni New Press, 1984.
- Pierluigi Tozzi, Maurizio Harari: Eraclea Veneta. Immagine di una città sepolta, Grafica Step cooperativa, Parma 1984.
Weblinks
- Hans-Jürgen Hübner: Die Lagune von Venedig
Anmerkungen
- ↑ Juergen Schulz: The Origins of Venice: Urbanism on the upper Adriatic coast, in: Studi Veneziani 61 (2010) 15–56, hier: S. 43 f.
- ↑ Diego Calaon: La Venetia maritima tra il VI e il IX sec.: mito, continuità e rottura / Venetika (Venetia maritima) med 6. in 9. stoletjem: mit, kontinuiteta in zaton, in: Dalla catalogazione alla promozione dei beni archeologici. I progetti europei come occasione di valorizzazione del patrimonio culturale veneto / Od katalogiziranja do promocije arheoloških dobrin. Evropski projekti kot priložnost za vrednotenje kulturne dediščine Veneta, Venedig 2014, S. 53–66, hier: S. 54.
- ↑ Le origini di Venezia. L'epigrafe lapidea del 639 nella chiesa di Santa Maria Madre di Dio a Torcello, Locus/Globus, Storia e cultura nel territorio tra Piave e Livenza.
- ↑ Gherardo Ortalli: Venezia dalle origini a Pietro II Orseolo, in: Storia d'Italia, Bd. 1, Turin 1980, S. 364, 367–373, hier: S. 367 f.
- ↑ Roberto Bianchin: Scoperta la Città-Madre di Venezia, in: La Repubblica, 2. September 1984.
- ↑ Johannes Diaconus, Istoria Veneticorum I, 17.