Ignaz Reiss (* 1899 in Podwołoczyska, Galizien, Österreich-Ungarn, heute Ukraine, als Nathan Markowitsch Poretzki; † 4. September 1937 in Lausanne, Schweiz) war ein sowjetischer Agent. Er stammte aus einer jüdischen Familie und war ein führender Mitarbeiter des sowjetischen Militärgeheimdienstes GRU in Paris und der Schweiz. 1937 sagte er sich öffentlich von dem Sowjetsystem unter Stalin los. Kurze Zeit später wurde er von einem Kommando des NKWD in der Schweiz ermordet.
Politik
Reiss trat 1919 der polnischen KP bei, arbeitete aber von Wien für den im Aufbau befindlichen Apparat der Komintern. Danach gehörte Reiss im Westen zu einem Spitzenkader des Aufklärungsdienstes der Roten Armee. Leute wie Reiss verstanden sich nicht als Agenten, sondern als „Soldaten der Weltrevolution“. Als Reiss einen Befehl aus Moskau erhielt, nach Moskau zurückzukehren, tauchte er unter. Er hatte gute Gründe zu fürchten, dass er dort vor Gericht gestellt und/oder ermordet werden sollte. Reiss nahm Kontakt zu Trotzkis Verbündeten auf und teilte ihnen mit, dass Stalin entschieden habe, den Trotzkismus außerhalb der Sowjetunion zu liquidieren. Er bekannte sich öffentlich zu Leo Trotzki und flüchtete in die Schweiz.
Vorher hatte er in einem offenen Brief an das Zentralkomitee in Moskau seine Kritik an der Partei geäußert und zur Unterstützung von Leo Trotzki aufgerufen.
Am 3. September 1937 wurde Reiss von einem Kommando der Auslandsabteilung des NKWD aufgefunden und in der Nacht auf den 4. September auf einer Lausanner Chaussee durch mehrere Kugeln ermordet. Die mit ihm befreundete Agentin Gertrud Schildbach hatte ihn in eine Falle gelockt. Die schweizerische und französische Polizei verdächtigte Sergei Efron und Mark Zborowski, an diesem Attentat beteiligt gewesen zu sein.
Wenige Monate nach Reiss brach auch der Revolutionär der ersten Stunde Walter Kriwitzki, der aus dem gleichen ostgalizischen Dorf wie Reiss stammte, mit der kommunistischen Partei der UdSSR. Die Führung der OGPU hatte vorher von ihm verlangt, Reiss zu ermorden.
Kriwitzki sagte sich von Stalin los und offenbarte seinen Agentenstatus dem französischen Staat. Dieser ließ ihn unter Polizeischutz stellen. Kriwitzki flüchtete dann mit seiner Frau nach Paris und dann an die französische Riviera, später in die USA. Elizabeth Poretsky (Elisabeth Poretzki), die Witwe von Ignaz Reiss/Poretzki, veröffentlichte 1968 ein Erinnerungsbuch an ihren Mann, s. Abteilung Literatur.
Auszeichnungen
- Rotbannerorden (1928)
Literatur
- Isaac Deutscher: Trotzki. Der verstoßene Prophet 1929–1940. Kohlhammer. Stuttgart 1963
- Elizabeth K. Poretsky: Our Own People. A memoir of Ignaz Reiss and his friends. London University Press, London 1969.
- Peter Huber: Stalins Schatten in der Schweiz. Schweizer Kommunisten in Moskau: Verteidiger und Gefangene der Komintern. Chronos Zürich 1994, ISBN 3-905311-29-1
- Peter Huber: Reiss, Ignaz. In: Historisches Lexikon der Schweiz. 6. November 2011
- Peter Huber: Die Ermordung des Ignaz Reiss in der Schweiz (1937) und die Verhaftung dissidenter Schweizer Spanienkämpfer durch den Geheimapparat der Kommintern. In Hermann Weber (Historiker, 1928) mit Dietrich Staritz, Siegfried Bahne und Richard Lorenz: Kommunisten verfolgen Kommunisten. Stalinistischer Terror und „Säuberungen“ in den kommunistischen Parteien Europas seit den dreißiger Jahren. Akademie-Verlag, Berlin 1993, ISBN 3-05-002259-0. S. 68–86.
- Wadim S. Rogowin: 1937 – Jahr des Terrors. Mehring Verlag 1998, ISBN 3-88634-071-6
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ Bertrand M. Patenaude: Trotzki. Der verratene Revolutionär. Propyläen, Berlin 2010, ISBN 978-3-549-07377-3, S. 140f.
- ↑ Eintrag Ignaz Reiss in dem Historischen Lexikon der Schweiz.
- ↑ Bertrand M. Patenaude: Trotzki. Der verratene Revolutionär. Propyläen, Berlin 2010, ISBN 978-3-549-07377-3, S. 171f.
- ↑ Peter Huber: Die Ermordung des Ignaz Reiss in der Schweiz (1937) und die Verhaftung dissidenter Schweizer Spanienkämpfer durch den Geheimapparat der Komintern. In Hermann Weber u. a.: Kommunisten verfolgen Kommunisten. Stalinistischer Terror und „Säuberungen“ in den kommunistischen Parteien Europas seit den dreißiger Jahren. Akademie-Verlag, Berlin 1993, ISBN 3-05-002259-0, S. 73ff.
- ↑ Ich war in Stalins Dienst. Übersetzung ins Deutsche Fritz Heymann, Allert de Lange, Amsterdam 1940, S. 277.