Die Kabylen (Eigenbezeichnung kabylisch iqbayliyen, auch izouaouen; Tifinagh-Schrift: ⵍⵇⴱⴰⵢⵍ Leqbayel, arabisch القبائل, DMG al-qabāʾil ‚die Stämme‘) sind eine in der in Nordost-Algerien gelegenen Kabylei lebende Subgruppe der Berber. Ihre Sprache ist das Kabylische. Die Ethnie zählt etwa 5,5 Millionen Angehörige, wovon knapp die Hälfte in andere Regionen Algeriens umgesiedelt oder in das Ausland, hauptsächlich nach Frankreich, ausgewandert ist.

Religion

Die Kabylen sind weit überwiegend sunnitische Muslime, deren Glauben jedoch einen hohen Anteil an traditionellen berberischen Vorstellungen enthält. Vertreter der kabylischen Nationalbewegung stellen ihre berberische Identität der „arabisch-islamischen“ Kultur gegenüber.

Kolonialismus und Ethnografie

Vom französischen Kolonialismus in Algerien ab 1830 wurde die Behauptung verbreitet, die Kabylen seien „ein nordisches Volk“, im Gegensatz zu den „semitischen“ Arabern. Die Kabylen seien nämlich direkte Nachfahren der Vandalen. Damit verbunden waren im Hinblick auf die Politik des Teile und herrsche auch Theorien über angeblich minderwertige Eigenschaften der Araber gegenüber höherwertigen Eigenschaften der Kabylen. Viele französische Militär- und Zivilbeamte teilten diese Sichtweisen. Die Kabylen wurden von ihnen bei der Stellenvergabe, im Bildungswesen, bei Steuern und politischer Teilhabe gezielt den arabischen Algeriern vorgezogen. Der Unterricht in kabylischer Sprache wurde gefördert, der Arabischunterricht an kabylischen Schulen wurde hingegen verboten. Die Franzosen bestanden darauf, dass die Rechtsprechung für Kabylen und arabische Algerier getrennt stattfand, wobei auf Druck der Franzosen das islamische Recht zugunsten des traditionellen Gewohnheitsrechts der Kabylen zurückgedrängt wurde. Der zuvor häufig fließende Übergang von einer kabylisch-algerischen zu einer arabisch-algerischen Identität verschwand zugunsten nunmehr offizieller Kategorisierungen.

In den 1960er Jahren setzte sich der Soziologe Pierre Bourdieu in ethnografischen Studien zur Kabylei mit dem Geschlechterverhältnis auseinander. In dieser Gesellschaftsstruktur stellte er den Gegensatz von männlich/weiblich als das wichtigste Klassifikationsprinzip heraus. Frauen werden mit bestimmten negativen, Männer mit positiven Eigenschaften verbunden. Die Frau wird als eine „negative, einzig durch Mangel definierte Entität konstruiert“. Männlichkeit wird assoziiert mit kriegerischen Akten, mit der Abkehr vom Mütterlich-Weichlichen und mit Stärke und Schutz durch hartes Durchgreifen gegenüber Gesetzesbrechern, welche die Einheit des Clans bedrohen. Der kabylischen Frau hingegen ist das „Niedrige, Krumme, Kleine, Kleinliche, Unwichtige bestimmt“, wodurch sie dazu verurteilt ist, „jeden Augenblick der herabgeminderten Identität, die ihnen gesellschaftlich zugewiesen ist, den Anschein eines natürlichen Ursprungs zu verleihen“. Somit repräsentiert der Mann die öffentliche, offizielle, äußere Sphäre und beansprucht für sich die spektakulären und gefährlicheren Tätigkeiten. Die Frau hingegen bleibt beschränkt auf den häuslichen, privaten Bereich und verrichtet die unsichtbaren, niedrigeren Arbeiten.

Berühmte Kabylen sind Lalla Fatma N'Soumer (1830–1863), Krim Belkassem (1922–1970), Belkacem Lounes (* 1955), Ferhat Mehenni (* 1951) und Zinédine Zidane (* 1972).

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Le Kabyle Algérie. Centre de Recherche Berbere, 2011
  2. Mohand Tilmatine: French and Spanish colonial policy in North Africa: revisiting the Kabyle and Berber myth. In: International Journal of the Sociology of Language, Nr. 239. De Gruyter, 2016, S. 95–119, hier S. 110f
  3. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 Zachary Lockman: Contending Visions of the Middle East – The History and Politics of Orientalism. In: Eugene L. Rogan (Hrsg.): Contemporary Middle East. 2. Auflage. Band 3. Cambridge University Press, Cambridge 2010, ISBN 978-0-521-11587-2, S. 90 f.
  4. Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis. Auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1976, ISBN 3-518-27891-6 (franz. 1972)
  5. Bridget Fowler: Pierre Bourdieus Die männliche Herrschaft lesen. Anmerkungen zu einer intersektionellen Analyse von Geschlecht, Kultur und Klasse. In: Ulla Bock, Irene Dölling, Beate Krais (Hrsg.): Prekäre Transformationen. Pierre Bourdieus Soziologie der Praxis und ihre Herausforderungen für die Frauen- und Geschlechterforschung. Wallstein, Göttingen 2007, S. 141.
  6. Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2005, S. 51.
  7. Fowler, Bridget (2007): Pierre Bourdieus Die männliche Herrschaft lesen. Anmerkungen zu einer intersektionellen Analyse von Geschlecht, Kultur und Klasse. In: Ulla Bock, Irene Dölling, Beate Krais (Hrsg.): Prekäre Transformationen. Pierre Bourdieus Soziologie der Praxis und ihre Herausforderungen für die Frauen- und Geschlechterforschung. Göttingen: Wallstein Verlag. S. 146
  8. Bourdieu, Pierre (2005): Die männliche Herrschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 51
  9. Bourdieu, Pierre (2005): Die männliche Herrschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 58
  10. Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft. In: Irene Dölling, Beate Krais (Hrsg.): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1997, S. 162.
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