Der Kindlifresserbrunnen (dialektal Chindlifrässerbrunne) ist einer der Brunnen in Bern, der Schweizer Bundesstadt. Er gehört zur Hauptgruppe der Figurenbrunnen des 16. Jahrhunderts in der Berner Altstadt.

Geschichte

Der Brunnen wurde 1545 von Hans Gieng an der Stelle eines hölzernen Brunnens aus dem 15. Jahrhundert errichtet. Der ursprünglich Platzbrunnen genannte Brunnen ist 1666 erstmals schriftlich als Kindlifresserbrunnen belegt. Der Brunnen wurde 1997 im Rahmen der Sanierung der Tramlinien auf dem Kornhausplatz leicht verschoben. Beim Versetzen kam auf dem Boden des Brunnenbeckens die Jahrzahl MDXXXXV (1545) zum Vorschein.

Die Brunnenfigur ist eine auf ein Postament lehnende Kinderschreckfigur (Kinderfresser, im Englischen Oger), die gerade ein nacktes Kind verschlingt. In einem umgehängten Sack befinden sich weitere Kinder. Der Kinderfresser trägt einen spitzen Hut mit eingerollter Krempe. Die Brunnenskulptur steht auf einer mit Girlanden behängten korinthischen Säule. Das untere Ende des Säulenschafts ziert ein Bärenzug. Der Bärenzug setzt sich aus wehrhaft gekleideten Bären zusammen. Die Bären tragen Musketen, Helme, Schwerter, Fähnlein, eine Weinkanne, Kugelbeutel und Bandeliere mit Schweizerkreuzen.

Deutung

Der Kinderfresser ist eine weit verbreitete Kinderschreckfigur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Die Figur wird jeweils mit einer Umhängetasche dargestellt, in welche die unartigen Kinder gesteckt werden, was beim Kindlifresserbrunnen ebenso der Fall ist. Die Form des Hutes der Figur dürfte auf Georg Pencz’ grafische Darstellung des Saturn (Kronos) aus dem Jahr 1531 zurückzuführen sein. Kronos wird in der bildenden Kunst auch als Verschlinger von Kindern dargestellt. Die Brunnenfigur darf jedoch nicht als eindeutige Kronos-Darstellung angesprochen werden, da dieser jeweils nur mit einem Kind dargestellt wird und ihm in Giengs Skulptur klar die Sichel als Attribut fehlt. Andernteils wird der Kinderfresser nicht mit Hut dargestellt. Es ist daher anzunehmen, dass der aus Schwaben stammende Freiburger Bildhauer Hans Gieng in seiner Kinderschreckfigur zeitgenössische ikonographische Elemente des Kinderfressers und des Saturn verschmolzen hat. Das wird bereits auf einem Holzschnitt aus Nürnberg von 1492 getan, wo der ausdrücklich als Saturn gekennzeichnete Kinderfresser einen Judenhut trägt und einen Judenring am Kleid hat.

Im Volksmund kursieren diverse Deutungen zum Kindlifresserbrunnen, etwa die, dass der Hut des Kinderfressers ein Judenhut sei, die Figur ein Jude, die an einen angeblichen, in Bern verübten Ritualmord (Rudolf von Bern) erinnere. Roy Oppenheim unterstützt die Ritualmord-Deutung; durch die Deutungen als Kinderschreck oder Saturn werde der judenfeindliche Hintergrund verschleiert.

Andere wiederum sahen im Kinderfresser eine Fasnachtsfigur. Das ist unwahrscheinlich, denn die bernische Obrigkeit hatte die Fasnacht nach der Reformation 1529 zu unterbinden versucht und hätte daher kaum eine Fasnachtsfigur als Brunnenskulptur in Auftrag gegeben.

Weiteres

In der jiddischen Kurzgeschichte Der Kinderli-Freser aus der Serie Chlomot fun a Wanderer von David Einhorn führt der Ich-Erzähler ein Gespräch mit dem Kindlifresser, der sich nächtens zärtlich um die Kinder kümmert und sich bei abgenommener Maske als ein im Mittelalter hingerichteter Jude herausstellt, der tagsüber als Brunnenfigur seine antisemitisch inspirierte Fratze aufsetzen muss. Der Kindlifresserbrunnen spielt eine wichtige Rolle im Roman L’ogre (deutscher Titel: Der Kinderfresser, übersetzt von Marcel Schwander) von Jacques Chessex. Er ist darin ein Sinnbild für den Vater des Ich-Erzählers, der ihm seine Kindheit, seine erste Liebe und letztlich seinen Lebenswillen geraubt hat.

Trinkwasser

Das Trinkwassernetz von Energie Wasser Bern (ewb) versorgt den Brunnen mit Trinkwasser, dessen Qualität regelmässig überprüft wird.

Literatur

  • Paul Hofer: Die Kunstdenkmäler des Kantons Bern. Die Stadt Bern – Stadtbild · Wehrbauten · Stadttore · Anlagen · Denkmäler · Brücken · Stadtbrunnen · Spitäler · Waisenhäuser. Hrsg.: Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte (= Die Kunstdenkmäler der Schweiz. Band 28). Band 1. Birkhäuser Verlag, Basel 1952, Die Stadtbrunnen. II. Figurenbrunnen des 16. Jahrhunderts. 6. Kindlifresserbrunnen, S. 276–283 (467 S., biblio.unibe.ch [PDF; 68,9 MB; abgerufen am 30. Januar 2018]).
  • Berchtold Weber: Kindlifresserbrunnen. In: Burgerbibliothek Bern (Hrsg.): Historisch-topographisches Lexikon der Stadt Bern (= Schriften der Berner Burgerbibliothek). Bern 2016 (archives-quickaccess.ch [abgerufen am 4. Februar 2018]).
  • Joseph Victor Widmann: Das Festgedicht. Komödie in zwei Teilen. 1873 (books.google.lv).
  • Hans Mödelhammer: Der Kinderfresser und andere Beiträge zu Volkskunde und Symbolik. Eine Reise in die Vergangenheit. Puchheim 2001.

Siehe auch

Commons: Kindlifresserbrunnen – Sammlung von Bildern

Einzelnachweise

  1. Kapitel 3: Öffentliche Bauten. In: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde. Band 63, Heft 2–3, 2001, ISSN 0005-9420, S. 106–107 (doi:10.5169/seals-247040#296).
  2. Der Bärenzug erscheint erstmals in Diebold Schillings Spiezer Chronik (s. Commonsdatei).
  3. Georg Pencz: Folge der «Planetenbilder», Saturn. Holzschnitt, 1531, 36,9 × 23,3 cm (Berlin, Kupferstichkabinett, zeno.org).
  4. Léon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus. I. Von der Antike bis zu den Kreuzzügen. 2., unveränderte Auflage. Georg Heintz, Worms 1979, ISBN 3-921333-99-7, S. 54.
  5. Roy Oppenheim: Apropos «Black Lives Matter»: Warum protestiert eigentlich niemand gegen den Kindlifresser-Brunnen? In: St. Galler Tagblatt. 23. Juli 2020, abgerufen am 26. Juli 2020.
  6. Bernhard Ott: Ist diese Brunnenfigur judenfeindlich? (Memento vom 6. August 2020 im Internet Archive). In: Der Bund, 5. August 2020.
  7. Di yidishe velt. Nr. 2, 1913, S. 48–60.
  8. Trinkwasserqualität. Die Trinkwasserqualität in der Stadt Bern wird regelmässig überprüft. In: bern.ch. Informationsdienst der Stadt Bern, 17. November 2015, abgerufen am 6. Februar 2018.
  9. Protagonisten sind neben dem Kindlifresser Frau Berna, der grosse Christoffel und der Bär.

Koordinaten: 46° 56′ 54,5″ N,  26′ 51″ O; CH1903: 600675 / 199711

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