Die Primatenarchäologie (engl.: primate archaeology) ist ein interdisziplinäres naturwissenschaftliches Fachgebiet, in dem insbesondere Paläoanthropologen, Anthropologen und Prähistoriker mit jenen Verhaltensbiologen (Primatologen) kooperieren, die Schimpansen und andere Primaten erforschen. Ziel dieser Zusammenarbeit ist vor allem, das Entstehen und die Geschichte der frühesten belegbaren materiellen Kultur bei Primaten (das Herstellen von Werkzeugen) zu erforschen, und zwar sowohl bei den frühen Hominini – den Vorfahren des anatomisch modernen Menschen – als auch bei den ihm evolutiv nahestehenden Großen Menschenaffen.
Die Bezeichnung Primatenarchäologie wurde im Juli 2009 von einer internationalen Forschergruppe in einem Review-Artikel unter dem knappen Titel „Primate archaeology“ in der Fachzeitschrift Nature geprägt. Diese Veröffentlichung entstand im Nachgang zu zwei Symposien unter dem Titel „Palaeoanthropology meets Primatology“, die im April 2007 und im Oktober 2008 am Leverhulme Centre for Human Evolutionary Studies an der University of Cambridge stattgefunden hatten. Zuvor war bereits 2008 in einer Fachveröffentlichung die einengendere Bezeichnung Chimpanzee archaeology („Schimpansen-Archäologie“) verwendet worden.
Forschungsziele
Eine verstärkte Kooperation von Archäologen, Primatologen und Paläoanthropologen hatte sich als zweckmäßig und überfällig erwiesen, nachdem erkannt worden war, dass die ältesten den Hominini zugeschriebenen Steinwerkzeuge vom Oldowan-Typ, steinerne Schlagwerkzeuge von heute lebenden Schimpansen und selbst Steinwerkzeuge heute lebender Rückenstreifen-Kapuziner erhebliche Ähnlichkeiten aufweisen. Bereits im Jahr 2002 hatten Julio Mercader und Christophe Boesch zudem eine „Schimpansenwerkstatt“ ausgegraben, die später auf ein Alter von 4300 Jahren datiert wurde. Aus der genauen Analyse solcher Parallelen erhoffen sich die Forscher, das Entstehen der Werkzeugkultur beim Menschen und des hierzu nötigen Verhaltens rekonstruieren zu können. Das Zusammenführen von Methoden der Archäologie und der Verhaltensbiologie ermögliche zudem auch einen ganzheitlichen Blick auf die evolutionäre Anpassung der anatomischen Merkmale der Gattung Homo an den Gebrauch von Werkzeugen.
In der Vergangenheit hatten nur wenige Archäologen den Werkzeuggebrauch heute lebender Primaten beobachtet, umgekehrt hatten nur wenige Primatenforscher an archäologischen Ausgrabungen teilgenommen. In dem 2009 als Gründungsdokument angelegten Review-Artikel wurden daher vier vorrangige Zielsetzungen für die Primatenarchäologie ausgewiesen:
- Archäologische und primatologische Methoden sollen gleichzeitig angewandt werden, wenn der Werkzeuggebrauch von nicht-menschlichen Primaten analysiert wird, um sowohl aus anthropozentrischem als auch aus 'primatozentrischem' Blickwinkel den Werdegang des Verhaltens zu analysieren;
- vergleichende Studien zwischen unterschiedlichen Arten (zwischen homininen und nicht-homininen Arten) mit einander ähnelndem Werkzeuggebrauch sollen zur Klärung der Frage beitragen, welche Auswirkungen der Werkzeuggebrauch auf soziale, physiologische und biomechanische Aspekte dieser Arten sowie auf deren Umweltbedingungen hat;
- die Verhaltensweisen der Angehörigen von Primatenarten, die keine Werkzeuge benutzen, sollen untersucht werden, um Anhaltspunkte zu gewinnen, unter welchen – beispielsweise ökologischen – Bedingungen sich deren Verhaltensmuster entwickelten, mit dem Ziel, Rückschlüsse zu ziehen auf das Verhalten ausgestorbener Arten der Hominini, bei denen ungeklärt ist, ob sie Werkzeuge benutzten;
- schließlich soll erforscht werden, ob sich der bei den heute lebenden Arten zu beobachtende Werkzeuggebrauch unabhängig voneinander (also konvergent) entwickelte oder ob bereits der letzte gemeinsame Vorfahre von beispielsweise Schimpansen und Hominini Werkzeuge herstellte.
Erste Befunde
Als „eines der ersten umfassenden empirischen Beispiele für das neue Fachgebiet der Primatenarchäologie“ wurde im Juni 2013 in der Fachzeitschrift Nature auf eine Langzeitstudie hingewiesen, die sich mit dem Werkzeuggebrauch der Rückenstreifen-Kapuziner in Brasilien befasste. Beim Beobachten dieser Kapuzineraffen war unter anderem aufgefallen, dass sie Steine über große Entfernungen transportieren. Dies war noch zwei Jahre zuvor als ein Alleinstellungsmerkmal der frühen Vorfahren des anatomisch modernen Menschen beschrieben worden; alle anderen Merkmale der Oldowan-Steinwerkzeuge seien nicht eindeutig von jenen unterscheidbar, die von heute lebenden nicht-menschlichen Primaten hergestellt werden.
Aufsehen erregt hatte zuvor bereits die im Jahr 2002 im afrikanischen Regenwald entdeckte, 4300 Jahre alte „Schimpansenwerkstatt“. Ein weiteres Beispiel für Forschung auf dem Gebiet der Primatenarchäologie sind Studien im Lebensraum von Javaneraffen aus Myanmar (Macaca fascicularis aurea), von denen seit 120 Jahren belegt ist, dass sie Steine als Werkzeug benutzen; hier hoffen die Forscher, in älteren Erdschichten auf Spuren des Werkzeuggebrauchs zu stoßen.
2023 berichteten Forschende des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie aus Thailand, dass im Nationalpark Ao Phang-nga heimische Javaneraffen Steinartefakte schaffen, „die Steinwerkzeugen früher Vertreter der Gattung Homo ähneln.“ Die Affen benutzen Steine als „Hammer“ und „Amboss“, um hartschalige Nüsse zu knacken, wobei diese Steine häufig zerbrechen. Die teils scharfkantigen Absplitterungen und die unbrauchbar gewordenen Hammer- und Amboss-Steine – mehr als tausend analysierte Objekte – ähneln den Wissenschaftlern zufolge den Hominini zugeschriebenen Artefakten aus den Pliozän und dem frühen Pleistozän.
Siehe auch
Literatur
- Alejandra Pascual-Garrido, Susana Carvalho und Katarina Almeida-Warren: Primate archaeology 3.0. Review in: American Journal of Biological Anthropology. Online-Vorabveröffentlichung vom 6. September 2023, doi:10.1002/ajpa.24835.
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Weblinks
- Primatenarchäologie. Auch von Schimpansen gibt es „steinzeitliche“ Funde. Auf: derstandard.at vom 15. Juli 2007.
- Die Schimpansen-Steinzeit. Westafrikanische Schimpansen knacken Nüsse mit Steinwerkzeugen bereits seit Tausenden von Jahren. Auf: mpg.de vom 13. Februar 2007.
- International Scientists Establish New Branch Of Archaeology. (Memento vom 8. Januar 2015 im Internet Archive) Im Original erschienen auf redorbit.com vom 15. Juli 2009.
- Die Affen-Archäologen. Forscher graben nach Werkzeugen prähistorischer Primaten. Auf: sueddeutsche.de vom 17. Mai 2010.
- Evolutionary Origins of Technological Behavior: A Primate Archaeology Approach to Chimpanzees. Video auf der Website der University of Cambridge.
Belege
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- ↑ William C. McGrew und Robert A. Foley: Palaeoanthropology meets primatology. In: Journal of Human Evolution. Band 57, Nr. 4, 2009, S. 335–336, doi:10.1016/j.jhevol.2009.07.002
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- ↑ Michael Haslam et al., Primate Archaeology, S. 339
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- ↑ Alex Kasprak: ‚Monkey archaeology‘ hints at primate culture. In: New Scientist. Band 230, Nr. 3078, 2016, S. 9; auf newscientist.com vom 10. Juni 2016 erschienen unter Monkey archaeology reveals macaque’s own Stone Age culture.
- ↑ Steinwerkzeuge von Affen und frühen Menschen überraschend ähnlich. Auf: idw-online.de vom 10. März 2023.
- ↑ Tomos Proffitt et al.: Wild macaques challenge the origin of intentional tool production. In: Science Advances. Band 9, Nr. 10, 2023, doi:10.1126/sciadv.ade8159.