Tim Ingold FBA FRSE (eigentlich Timothy Ingold) (* 1. November 1948) ist ein britischer Anthropologe und emeritierter Professor für Sozialanthropologe an der Universität Aberdeen. In seinen frühen Arbeiten befasste er sich mit den Herdenkulturen der zirkumpolaren Völker, mit Themen wie Jagd, Opfer, Schamanismus und ganz allgemein mit der Mensch-Tier-Beziehung sowie mit Fragen der ökologischen Anpassung und sozialen Organisation. Später weitete er seine Forschungsinteressen stark aus und analysierte kritisch das Verhältnis zwischen 'Natur' und 'Kultur' anhand von Praktiken wie dem menschlichen Werkzeuggebrauch, der Architektur, der Kunst oder dem Spaziergehen.
Leben und Werk
Ingold, Sohn des Mykologen Terence Ingold und Bruder der Stadt- und Raumplanerin Patsy Healey, studierte aus Enttäuschung über die Leistungen der modernen Naturwissenschaft, aber auch um die wachsende Kluft zwischen Natur- und Sozialwissenschaften zu überbrücken, Sozialanthropologie in Cambridge. Er lehrte 1973–74 zunächst in Helsinki, wo er die ökologische Anpassung der samischen Rentierzüchter in Nordostfinnland und ihr Verhältnis zur Natur untersuchte, die sie nicht als ein unbeseeltes „Äußeres“ begreifen. 1976 verfasste er seine PhD-Thesis zu diesem Thema. 1990 wurde er Professor in Manchester, 1999 in Aberdeen. Er ist Mitglied der Royal Society of Edinburgh und der British Academy. 2015 erhielt er die Ehrendoktorwürde (Dr. h. c.) der Leuphana Universität Lüneburg, 2019 die Ehrendoktorwürde der Universität Lappland.
Ingold untersucht die Interaktion zwischen Mensch und Natur auf verschiedenen Ebenen und integriert philosophische, psychologische und biologische Aspekte in seiner Arbeit. Er ist ein Kritiker der Anwendung der klassischen Evolutionstheorie und Verhaltensforschung in der Soziobiologie. Zu seinen Theorien gehört die Annahme der Parallelität zwischen einem oder mehreren von den zirkumpolaren Völkern und vermutlich auch schon von altorientalischen Kulturen verehrten göttlichen Herren der (Wild-)Tiere einerseits und den menschlichen Herdenbesitzern andererseits. Beide unterstehen einer obersten Gottheit; beide haben das Recht zu töten, müssen dafür aber Opfer erbringen. Im Lichte dieser Theorie Ingolds erscheint beispielsweise der biblische Noah als ein von Gott eingesetzter Herrscher über das Tierreich.
Veröffentlichungen
- Hunters, pastoralists and ranchers: reindeer economies and their transformations. 1980.
- (Hrsg.): Key Debates in Anthropology. London: Routledge 1996 online (PDF; 1,7 MB)
- Making: Anthropology, Archaeology, Art and Architecture. London: Routledge 1996.
- mit David Riches und James Woodburn: Hunters and Gatherers. Vol. 1: History, Evolution and Social Change. Vol. 2: Property, Power and Ideology. Bloomsbury Academic 1997.
- Lines: A Brief History. London: Routledge 2016 [2007]. Vorschau online.
- Übersetzung: Eine kurze Geschichte der Linien. Göttingen: Konstanz University Press 2021. (aus dem Englischen von Quirin Rieder)
- Being Alive: Essays on Movement, Knowledge and Description. London: Routledge 2011.
- Making: Anthropology, Archaeology, Art and Architecture. London: Routledge 2013.
- The Life of Lines. London: Routledge 2015. Vorschau online.
- Anthropology an/as Education. London: Routledge 2017.
- Anthropology: Why it matters. Cambridge: Polity Press 2018.
- Übersetzung: Anthropologie: Was sie bedeutet und warum sie wichtig ist. Wuppertal: Peter Hammer 2019. (aus dem Englischen von Werner Petermann)
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ Tim Ingold: From science to art and back again: the pendulum of an anthropologist. In: Anuac. V. 5, 6. August 2016, S. 5–23 Paginazione, doi:10.7340/ANUAC2239-625X-2237 (unica.it [abgerufen am 13. April 2021]).
- ↑ Peter Marren: Professor C Terence Ingold: Foremost authority on the study of fungi whose work spanned eight decades. In: The Independent. 17. Juni 2010, abgerufen am 31. Juli 2017 (englisch).
- ↑ Leuphana Universität Lüneburg: Timothy Ingold. In: www.leuphana.de. Abgerufen am 27. April 2016.
- ↑ University of Lapland awards 18 honorary doctorates. In: www.ulapland.fi. Abgerufen am 17. Mai 2020.
- ↑ Bernhard Lang: Jahwe, der biblische Gott: Ein Porträt. Darmstadt 2002, S. 126