Kalām

Kalām (arabisch كلام ‚Rede, Gespräch, Debatte‘) bezeichnet im Islam die Wissenschaft, welche die Fähigkeit verleiht, die eigenen Glaubenslehren mit rationalen Argumenten zu begründen und Zweifel von ihnen abzuwenden. Diejenigen Gelehrten, die diese Fähigkeit schulten und religiöse Streitgespräche mit Andersgläubigen führten, wurden Mutakallimūn (wörtlich „Sprecher, Wortführer“, Singular Mutakallim) genannt.

Nach ersten Anfängen in der spätumaiyadischen Zeit erlebte der Kalām seinen Aufstieg in der frühen Abbasiden-Zeit, als der Kalif al-Mahdī Mutakallimūn beauftragte, Bücher gegen die Anhänger iranischer Religionen zu verfassen, und der barmakidische Wesir Yahyā ibn Chālid Kalām-Diskussionen mit Angehörigen verschiedener Religionen und Konfessionsgruppen in seinem Haus abhielt. Als die eigentlichen „Meister des Kalām“ galten bis zum 10. Jahrhundert die Muʿtaziliten. Später entstanden mit der Aschʿarīya und der Māturīdīya auch zwei bedeutende sunnitische Kalām-Schulen. Sie brachten den Kalām insbesondere gegenüber der erstarkenden neuplatonischen und aristotelischen Philosophie in Stellung und erhoben die „Kalām-Wissenschaft“ (ʿilm al-kalām) zur ranghöchsten Wissenschaft des Islams. Einige der Argumente der Mutakallimūn fanden im Mittelalter auch Eingang in jüdische und christliche theologische Diskussionen. Nachdem sich die Kalām-Wissenschaft in der frühen Neuzeit im Wesentlichen auf das Studium von Handbüchern und Kommentaren beschränkte, traten ab dem späten 19. Jahrhundert in Britisch-Indien und im Osmanischen Reich verschiedene Reformdenker auf, die zur Gründung eines „neuen Kalām“ aufriefen, der sich an den Lehren der modernen westlichen Philosophie orientieren sollte.

Neben seiner apologetischen Funktion dient Kalām auch der Reflexion über die Grundlagen der Religion sowie über ontologische Fragen. Fast alle Mutakallimūn vertraten ein atomistisches Weltbild. Demnach ist die Welt aus kleinsten Teilchen zusammengesetzt, den Atomen, die nicht mehr teilbar sind. Die sichtbare Wirklichkeit entsteht erst dadurch, dass Gott diese Teilchen mit Akzidentien versieht und zu Körpern zusammensetzt. Nach aschʿaritischer Auffassung geschieht dies in jedem Augenblick aufs Neue. Nach Richard M. Frank ist die primäre Funktion des Kalām die Rationalisierung der islamischen Glaubenslehren, wie sie sich aus Koran und Sunna ergeben und von „orthodoxen Gläubigen“ verstanden werden. Häufig wird Kalām mit „Theologie“ übersetzt, allerdings gibt es in der islamischen Wissenschaftslehre neben dem Kalām noch eine eigene theologische Wissenschaft, al-ʿilm al-ilāhī genannt, die in der aristotelischen Wissenschaftstradition verankert ist und deren Verhältnis zur Kalām-Wissenschaft von den islamischen Gelehrten ausgiebig diskutiert wurde.

Die Gründer der sunnitischen Rechtsschulen und die schiitischen Imame übten heftige Kritik am Kalām und verboten die Beschäftigung mit ihm, weswegen traditionalistische muslimische Gelehrte ihn bis heute ablehnen. Auch von Seiten der Philosophen wurde der Kalām scharf kritisiert.

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