Proteste im Libanon 2019–20
Die Proteste im Libanon 2019 (arabisch الاحتجاجات اللبنانية) sind eine Reihe von Demonstrationen in der libanesischen Hauptstadt Beirut und anderen Städten des Landes, die sich zunächst gegen Kostenerhöhungen im öffentlichen Dienst und im Energiesektor sowie gegen die Korruption im Land und den Regierungschef Saad Hariri richten. Sie brachen am Donnerstag, den 17. Oktober, aufgrund der inzwischen aufgegebenen Pläne der Regierung aus, neue Steuern zu erheben, einschließlich auf WhatsApp-Telefonate. Telefondienste sind im Libanon extrem teuer. Die Branche wurde, wie nahezu alle lukrativen Wirtschaftszweige, von regierungsnahen Großindustriellen monopolisiert.
Proteste im Libanon |
Jedoch haben sie sich seitdem zu einer Welle der Wut der Demonstranten gegen die politische Klasse entwickelt, die der Korruption beschuldigt wird.
Die Staatsverschuldung stieg in den Jahren 2019 und 2020 auf über 150 Prozent des BIP und die Ratingagenturen stuften libanesische Staatsanleihen als Junk ein. Die Angst vor einem Zahlungsausfall hat die Sorgen der libanesischen Bürger, die über die schlechte Qualität der öffentlichen Dienstleistungen verärgert sind, noch verschärft. Die Einwohner leiden häufig unter täglichem Strommangel und unreinem Wasser. Es sind die größten Massenproteste seit der Zedernrevolution 2005, an denen sich Libanesen aus allen gesellschaftlichen und religiösen Gruppen beteiligen.
Die Menschen haben im Rahmen einer Welle beispielloser Proteste, die den Rücktritt der Regierung forderten, u. a. die Straßen mit Barrieren und Sit-ins gesperrt. Demonstranten bilden am 27. Oktober eine Menschenkette durch den ganzen Libanon. Der Libanon wurde von mittlerweile 1696 Tagen „Protest gegen eine politische Klasse erfasst, die der Korruption, der Misswirtschaft der Staatsfinanzen und des wirtschaftlichen Zusammenbruchs beschuldigt wurde, der seit dem Bürgerkrieg von 1975–90 nicht mehr zu beobachten war.“ Angesichts tagelanger Proteste hat der libanesische Regierungschef Hariri am Dienstag (29. Oktober) den Rücktritt seiner Regierung angekündigt.
Trotz der Ruhe, die das Land einen Tag nach dem Rücktritt von Premierminister Saad Hariri erlebte, schrieb Asharq al-Awsat, setzten am Mittwochabend (30. Oktober) die Proteste im Libanon erneut ein, nachdem Nachrichten kursierten, Hariri könnte erneut eine Regierung anführen. Eine Reihe von Demonstranten blockierte einige Straßen im ganzen Land; sie forderten die Parteien auf, sich auf ein Kabinett von Technokraten zu einigen, die in der Lage sind, Wirtschaftsreformen umzusetzen. Libanons Anti-Korruptions-Demonstranten strömten am Sonntag (3. November) auf den Riad-al-Solh- und Märtyrer-Platz in Beirut, um an einer zentralen Demo teilzunehmen, die als „Sonntag der Einheit“ und gleichzeitig „Sonntag des Drucks“ bezeichnet wurde.
Die landesweiten Proteste hatten in der dritten Woche einen ersten Sieg erzielt, als die amtierende Regierung zurückgetreten war. Präsident Michel Aoun nahm sich jedoch Zeit, um den Prozess zur Bildung einer neuen Regierung einzuleiten. Demonstranten fordern rasche Bewegung in Richtung einer neuen Regierung unabhängiger Technokraten. Proteste, die sich ursprünglich auf schlechte Infrastrukturen und miserable öffentliche Dienstleistungen konzentrierten, entwickelten sich schnell zu einem beispiellosen landesweiten Vorstoß, eine Elite zu vertreiben, von der Demonstranten sagen, dass sie das Land seit Jahrzehnten wie ein Kartell regiert. Doch die massive Protestbewegung im Libanon in ihrer vierten Woche sei noch weit von ihrem „Ziel eines systemischen Wandels“ entfernt, schrieb Mona Khneisser.
Nach Beobachtung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik beschränken sich im Gegensatz zu früheren Protestwellen die aktuellen Proteste nicht auf Beirut. „Sie finden dezentral in sämtlichen Regionen unabhängig von deren religiöser Zusammensetzung oder der jeweils politisch dominierenden Kraft statt. Die Proteste sind auch insofern einzigartig, als sie dezidiert säkulare Themen und Anliegen vertreten und die herrschende politische Klasse in ihrer Gesamtheit ablehnen.“ Der Slogan Kellon Ya’ni Kellon („alle bedeutet alle“) ist zu einem Marschruf über alle Demonstrationen hinweg geworden. Dies markiert einen Wendepunkt in der Stimmung des Volkes und eine Zurückweisung der politischen Klasse und ihrer konfessionellen Politik. Sie befürchten den Verlust ihrer Macht, auch weil viele Demonstranten Slogans skandieren, die stark an den Arabischen Frühling von 2011 erinnern: Al-Shaab yurid Isqat al-Nizam („Das Volk will den Sturz des Regimes“) und Thawra, Thawra („Revolution, Revolution“).
Fast vier Wochen nach Beginn der landesweiten Proteste, die den Sturz der herrschenden Elite fordern, wurden die von den Demonstranten geforderten radikalen Veränderungen nicht durchgeführt. Die friedlichen Proteste gegen Korruption und Sektierertum haben den Libanon gelähmt und eine Wirtschaftskrise verschärft, die das Land an den Rand der Zahlungsunfähigkeit gebracht hat. Die Spannungen im Libanon haben am Dienstag (12. November) noch einmal zugenommen, nachdem Präsident Michel Aoun die Demonstranten aufgefordert hatte, nach Hause zu gehen, was eine neue Welle von Demonstrationen auslöste, bei denen ein Mann von einem Soldaten erschossen wurde, der das Feuer eröffnete, um die Menschen, die südlich der Hauptstadt Beirut die Straßen blockierten, zu zerstreuen. Nach dem ersten Toten bei den Protesten im Libanon wächst die Wut auf die Führung des Landes. Am 19. November kam es zu einer weiteren Eskalation des Konflikts, als Demonstranten das Parlamentsgebäude blockierten und mit der Polizei zusammenstießen. Mit Menschenketten wollte man die Abgeordneten von Gesetzesbeschlüssen abhalten, von denen Kritiker befürchten, dass sie Amnestie für vergangene Korruption darstellen könnten. Nach wochenlangen friedlichen Protesten im Libanon wurde die Hauptstadt am 25./26. November von einer Welle der Gewalt erfasst; Anhänger schiitischen Milizen von Hisbollah und Amal griffen Demonstranten an. Am 14./15. Dezember kam es zu erneuten Angriffen dieser Gruppen.
In Folge der Proteste wurde der Universitätsprofessor und der ehemalige Bildungsminister Hassan Diab als Nachfolger von Saad Hariri am 19. Dezember 2019 zum Regierungschef ernannt. „Hierbei spielte es eine signifikante Rolle, dass er sunnitischer Muslim ist, denn sonst wäre seine Wahl nicht möglich gewesen“, schrieb die Wochenzeitung der Freitag. „Inwiefern Diab die Forderungen der Protestierenden umsetzen, das politische Klima verändern, der ökonomischen Krise und Korruption im Land entgegenwirken sowie die politischen Lager befrieden kann, bleibt abzuwarten. Fest steht jedoch, dass sein Spielraum unter diesen Umständen eingeschränkt ist.“ Seit dem 21. Januar 2020 hat der Libanon eine neue Regierung. „Aber Beobachter geben ihr kaum eine Chance, den Staatsbankrott abzuwenden. Zu lange hat die korrupte politische Klasse das Land geplündert“, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Durch den Lockdown in Folge der COVID-19-Pandemie im Libanon verschärfte sich die ökonomische Situation und führte Ende April – ausgehend von Tripoli – zu einem erneuten Ausbruch von Gewalt. Wenige Tage nach der Explosionskatastrophe im Hafen von Beirut gingen Tausende Libanesen auf die Straße und drückten ihre Wut auf die politische Führung aus.