Schönwetterkapitän
Nicht nur für große strukturelle Probleme in der Schiffskonstruktion, globale Schlechtwetterfronten, zur Rettung vor dem Abstellgleis „Trockendock“, zum Kampf für die Freisetzung der Schiffsbesatzung auf tobender See und zur Rechtfertigung dieser vor der verbleibenden Mannschaft braucht man gestählte Persönlichkeiten wie den Schönwetterkapitän.
Der psychische Druck
Wenn man nicht gegen tosenden Wind kreuzen muss, weil man stets nur in günstigen Klimabereichen verkehrt, wo zehntausend Seemeilen lang eitel Sonnenschein und magenfreundliche Wassertemperaturen herrschen, braucht man eine spezielle Ausbildung für das Ertragen lauer Gleichförmigkeit. Wenn es auf Dauer keine Klippen zum Umschiffen gibt, zeigt sich das andere Gesicht der See in besonders teuflischer Gestalt. Es fällt für die sprichwörtlichsten Haudegen aus dem Dunstkreis populärer Abenteuerliteratur unendlich schwer, dass der einst im ruinösen Wettbewerb stehende Kohlefrachter mit potentiell meuternder, versoffener Besatzung nun zum Postkarten-Lagunenfotomotiv als subventioniertes Ferienschiff mit Swimmingpools auf dem Feriendeck degeneriert ist. Das Personal trägt schließlich blitzsaubere Show-Uniformen, weil es den ganzen Tag nichts anderes tut, als „Danke“ und „Bitte“ zu sagen und trägt übergewichtigem Geldadel das Kaffee-Service nach. Die Auftragsbücher sind für die Freizeitgesellschaft bis ins Jahr 2050 prall gefüllt, so dass man schier perspektivlos auf Einheitsrouten der Rente entgegendümpelt: die weiße Uniform bildet sich zum Fallstrick für ehemalige feuchte Träume abenteuerlustiger Jungen mit Taschenlampe unter der Bettdecke.
All dieser enorme psychische Druck des Kapitäns, nicht ständig bereitstehen oder schwierige Entscheidungen um Leben oder Tod der Fracht fällen zu müssen, kann sein Pendant nur in stoischer Ruhe - auf schmalen Schultern verteilt - finden, die Talent, einer anspruchsvollen Ausbildung und hartem Training bedarf. Dies alles hilft dann bei der Erfüllung vertraglicher Verpflichtungen, abends mit gemeinen Gästen an runden Esstischen im Schiffsrestaurant sitzen zu müssen, um sich gegenseitig nicht nur gepflegt, sondern auch amüsiert zu langweilen, schon nach dem zweiten Glas Prosecco "Nein" sagen zu können und um spätestens halb zehn Uhr im Bett zu sein.
Der Fluch der guten Tat
Klassisch ausgebildete Kapitäne werden solche Schönwetterzustände noch nicht einmal in Logbücher aufnehmen, ignorieren den Mannschafts-Fitnessraum und lösen Probleme da, wo sie auch sind. Schonungslose Heiterkeit wird als ein Buch mit sieben Siegeln betrachtet. Die Logbücher von Schönwetterkapitänen, eingebunden in kostbares Leder, konzentrieren sich mit aufwendigen Handzeichnungen unverstellter Natur und üblichem Klatsch und Tratsch zwischen Angehörigen der Offiziersklasse auf andere Schwerpunkte - belassen Probleme da, wo sie sind. Wenn man aufmerksam genug ist, gibt es auch immer etwas zu schreiben. Man hat bei diesem speziellen Engagement aber dafür zu sorgen, dass Beziehungsgeflechte und die Diskussion dieser mit dem Ausguck Ausblick auf künftige Entwicklungen das Nervenkostüm nicht zu sehr belasten: „Beziehungs-Stress“ behandeln gestandene Schönwetterkapitäne mit Ayurveda–Ganzkörpermassagen, freilich oft mit einfachen Mitteln durch Jungmatrosen und leichtem Dieselöl improvisiert und mittels naturheilkundlicher Zutaten und Maßnahmen wie Johanneskraut-Badezusätzen, speziellen Atemtechniken und homöopathischen Heiltee-Mischungen ergänzt.
Ausbildung und Anforderungsprofil
Der Betrieb in den vielen unproblematischen Bezirken der Weltmeere als Ausdruck unserer globalen Vernetzung muss gewährleistet bleiben. Sonst passiert ja dort nichts. Dafür sind sich viele Führungspersönlichkeiten einfach zu schade. Es wird das Auge in Bezug auf die fatale Brücken-Unterbesetzung für Badesee-Rundfahrten, in venezianischen Häfen und für Binnenschifftouren bei Hochwasser geschärft.
Hartgesottene Männer werden geschaffen, die aus eingeschlafenen Füßen eine Tugend machen und so Lagerkoller vermeiden helfen. So ist von dem großen Potential zur Verfügung stehender Kapitäne nur ein kleiner Teil geeignet, da die Ausbildung zum Schönwetterkapitän, deren Ziel fast konträr zu dem normaler Kapitäne steht, trotz allem sehr anspruchsvoll ist. Man sagt sogar, man könne es nicht lernen, man hat „es“. Es wird immer wieder festgestellt, dass als wichtigste Voraussetzung ein instinkthaftes Gespür für sicheres Fahrwasser dient. Und in anderen Fällen eben sitzen bleiben zu können, wenn ungeduldige, vielleicht sogar panische Stimmen durch die Bordkommunikationsanlage tönen; dieses gewisse Näschen, um nicht zu sagen, diese Kaltschnäuzigkeit, einem Raubtier gleich, das den Gegner riecht, um rechtzeitig unbeschadet Reißaus nehmen und aus sicherer Entfernung beim Verzehr der abgesoffenen abgejagten Beute zusehen zu können.
Leumund
Die besonderen Erfahrungen – gerade auch der Kollegen mit einem selbst – sind auf der Richterskala ein gutes Indiz für das außerordentliche Talent des Wegschauens, aber gleichzeitigen Handelns und komplettieren das Anforderungsprofil der Praxis an den Zögling. So ist ein einwandfreier Leumund, dass zum Beispiel das Schiff beim Ablegen mittschiffs von einer Kaimauer aufgerissen, der Kapitän aber bereits auf einem Rettungsboot in Richtung des nahen Hafens rudernd gesichtet wurde, unabdingbar.
Vorsorge statt Nachsorge
Die Ausstattung und Bedienung privilegierter Ein-Mann-Rettungsboote wird im Verlauf unzählige Male "geübt". Schönwetterkapitäne lernen, beste Beziehungen zu Helikopterpiloten und in nördlichen Regionen auch zu Eisbrecherbesatzungen aufzubauen, um sich im Fall der Fälle rechtzeitig unbeschadet retten lassen zu können und somit mit seiner wertvollen Arbeitskraft weiterhin der Reederei zur Verfügung zu stehen. Sicherheit ist alles, gerade auch auf hoher, glatter See. Geradlinige Routen, um zwar mehrere tausend Seemeilen zu sparen, aber Stürme und Gewitter in Kauf nehmen zu müssen, sind nur etwas Lottospieler. Vorsicht und Überleben hat neben der Schonung der Rentenkasse den Vorteil, bei den Beisetzungsfeierlichkeiten der Besatzung in vorderster Reihe stehen, verunglückte Männer im Krankenhaus mit Fresskörben beschenken und alle Image-Schäden und Ersatzansprüche durch die drastische Schilderung äußerst unglücklicher Umstände von der Geschäftsführung abwenden zu können. Schauspielerisches Talent muss also unbedingt gegeben sein.
Selbstdarstellung
„Ruhige See“ ist eben nicht nur eine ruhige See, sondern sie muss in ruhige, glatte, spiegelglatte und stille See kategorisiert werden, die überdies als vollkommene Bühne zur Selbstdarstellung fungiert. Wenn es kein anderer tut, ist man gezwungen, sich selbst richtig in Szene zu setzen und eine angenehme Gewichtung zwischen Schein und Sein zu installieren. Da Schönwetterkapitäne im Schadensfalle meist schon in Sicherheit sind, braucht es sehr viel Fantasie, die Unabdingbarkeit des eigenen Verhaltens ins richtige Licht zu rücken: es geht regelmäßig nicht um die Mannschaft, die austauschbar ist, nicht um das Schiff, das austauschbar ist, aber um sich als kleinstes und feinstes, also wertvollstes Rädchen im Getriebe. Es wird nur deswegen regelmäßig verkannt, weil es so perfekt arbeitet.
Äußerlichkeiten
Die Ausbildung konzentriert sich in diesem Bereich auf Fitnessübungen: Schönwetterkapitäne können sehr leicht an ihrer meist zu umfangreich wirkenden Oberbekleidung erkannt werden. Vornehmlich werden Norwegerpullover getragen, was nicht nur Burschikosität, ja vielleicht auch Männlichkeit, auf jeden Fall aber eine latente Grundaktionsfreudikeit suggeriert. Vor allem bieten sie genug Platz, um die Schwimmweste versteckt ständig am Leib tragen zu können.
Einsatzverhalten und -gebiete
Zur Vermeidung von Pflegeschäden verhätschelter Belegschaft und psychischen Problemen, die auch immer wieder an Käfigtieren beobachtet werden, braucht es kommunkativ begabte Führungspersönlichkeiten. Damit die gelangweilte Mannschaft nicht mit Äxten aufeinander losgeht, ist eine pädagogische Vorausbildung in einem Kinderhort von großem Vorteil. So gehören raffiniert gestaltete Spieleabende, Exkursionen in Hobbyastronomie und Lichtsignal-Chatten mit anderen Schiffen zum Inventar der Trickkiste.
Vermeidung von Unwetterregionen
Die Quadratur des Bermudadreieckes ist längst wissenschaftlich nachgewiesen worden. Dies hat auch versicherungstechnischen Belang: - diese sprichwörtliche Heimat aller Havarien ist nämlich nicht nur fast überall, sondern immer auch dort, wo man es auch braucht, um mittels kurzfristiger Überversicherung alte Pötte zu modernen Hightech-Schiffen zu machen. Verschlagene, tapfere Seebären entpuppen sich als willfährige Erfüllungsgehilfen, das Inventar der Reederei zu erneuern. Dann werden sie, konsterniert, gegen lieb blickende, glatt rasierte Schiffsführer ausgetauscht, die nicht ohne eine Spielekonsole für lange Mannschaftsabende und warme Kuschel-Unterwäsche für kühle Nächte die Brücke betreten. Nichts ändert sich schneller als ein Konzept und so ist aus dem Fischtrawler ein Traumschiff geworden, dass nun tropischen Zielen entgegensteuert.
Kompetenz bei Entscheidungsresistenz
Wichtige Entscheidungen gehören grundsätzlich delegiert, um einen zu haben, auf den man es schieben kann, wenn, ja, wenn man mit seiner Unsicherheit Recht behalten sollte und die Katastrophe eintreten sollte. Man versteht es, wichtige, existentielle Fragen um das Wohl der Mannschaft, des Schiffs oder der Reederei in alltägliche Anweisungen alltäglichen Tonfalls zu kleiden, versehen mit einem Schuß typischer Vorgesetzten-Ungeduld, um einerseits auf schnelle Erledigung zu drängen, aber nicht den Argwohn des Mitarbeiters mit der Sackkatze zu erregen.
Rhetorik scheint hier alles: man hat gelernt, das man den Ton vor den Worten versteht, das man Angst, aber auch Ungeduld riechen und Lob schmecken kann und nutzt diese Erkenntnisse auf der Klaviatur des Mitarbeiter-Nervenkostüms.
Abgerundet wird dieser Verhaltensautomatismus in schwierigem Fahrwasser mit kondolenzartiger Strenge und Kälte, bei der Frage nach dem Grund für dieses Unglück, das ja wohl nur ein Volltrottel verschuldet haben könne. Zum Schluß wird die Sau geopfert, bevor sie überhaupt gehetzt wurde. Man schüttelt leise den Kopf und statuiert, wenn man von dieser Kompetenzüberschreitung des Mitarbeiters oder der generellen intellektuellen Überforderung des Stellvertretenden auch nur etwas hätte ahnen können, dies niemals zugelassen hätte.
Promiskuitive Narzismus-Buhlerei
Vice versa sieht es bei (ungeahnten) glücklichen Verläufen aus: Die zuvor im Stillen erpressten Entscheidungen werden augenblicklich umgefärbt und annektiert. Sie befinden sich nun als leuchtender Schmuck am Revers, als Orchidee im Einsteckloch, als Opalring am kleinen, aber gespreizten Finger, als Analfissur beim Vorgesetzten durch den eigenen Brillanten-Ohrring. Man schaut gütig auf die Belegschaft, denen solche Genialität stets versagt bleiben wird. Geniesserisch nimmt man in ganz kleinen Schlücken die Belobigungen hin und verkleinert die "eigenen" Leistungen bescheiden, nachdem die erste Ganzkörpermassage im Süden gelandet, wieder gen Norden gewandert und die Gehaltserhöhung unterschrieben ist. Dies aber nur, um die Neige so lange wie möglich aufhalten zu können, wie Eichhörnchen Wintervorräte anlegen.
Wer letztlich lobt, ist egal, wichtig aber, dass es von Vertretern des Beuteschemas "Volk" kommt, damit kritische Stimmen sich als offensichtlich arme Irre outen - bei so vielen Begeisterten, die ihren schamlos im Rampenlicht onanierenden Kapitän lieben! "Nebenbei" empfiehlt man sich gegenüber höheren Mächten wirksam, unbedarft: "man rechnet ja nicht damit, befördert zu werden"!.