Kurt Ströer (* 17. Juni 1921 in Glauchau; † 26. April 2013 in Chemnitz) war ein Diakon und Jugendwart der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens. Wegen seines besonderen Engagements wirkte er als Vorbild und gilt in Sachsen – neben Fritz Reschke – als ein „Vater der evangelischen Jugendarbeit“. Im Rahmen seiner Seelsorge beging er jedoch auch spirituellen und sexuellen Missbrauch an mindestens 34 minderjährigen Jugendlichen.

Leben

Ströer wuchs in sächsischen Glauchau auf als einziges Kind eines Karrosseriestellmachers und einer Heimarbeiterin. Seine Eltern waren nicht kirchlich verankert, ließen Kurt jedoch nach volkskirchlicher Sitte taufen und konfirmieren. Er schreibt über sie: „So indifferent sich meine Eltern zum Thema Glaube und Kirche verhielten, so besaßen sie andereseits [...] politisch[...] eine erstaunlich konsequente Haltung. Ihnen habe ich letztendlich zu danken, dass ich in keine nationalsozialistische Jugendorganisation eintrat und schon sehr jung ziemlich »klare Sicht« bekam.“ Ströer schildert, dass er vom Alter von 11 Jahren an bewusst am evangelischen Gemeindeleben teilnahm und was er kurz nach seiner Konfirmation erlebte: „...überraschend [...] eine tiefe Buße und zuleich einen herrlichen Neuanfang. Ich [...] habe nacherlebt, was bei Maleachi Kapitel 2, Vers 20 (im alten Luthertext) gemeint sein könnte: »...und sie werden hüpfen wie die Mastkälber.«“

Während seiner Einsätze im 2. Weltkrieg fiel Ströer auf durch seine Angewohnheit, täglich in der Bibel zu lesen und wegen seiner Fertigkeiten in Maschineschreiben und Steno erhielt er mehrmals (zuerst beim Reichsarbeitsdienst, später beim Bodenpersonal der Luftwaffe) die Vergünstigung der Tätigkeit im Innendienst. Indem er dies als lebensrettende Bevorzugung zu schätzen lernte, entwickelte er daraus ein christliches Sendungsbewusstsein: „Überwältigend wurde mir klar: »Kurt, du bist fest eingeplant [...] an ganz anderer Stelle und in alle Ewigkeit im Weltenplan des großen Gottes ›als lebendiger Stein in seinem Haus‹!«“

Nachdem Ströer im weiteren Kriegsverlauf durch eine Schussverletzung das rechte Auge verloren hatte, musste er für langwierige Lazarettaufenthalte in Baden-Württemberg bleiben. Anschließend kehrte er in seine Heimatstadt Glauchau zurück, arbeitete aber nicht wieder in seinem erlernten Beruf als Weber sondern sieben Jahre lang in der Kirchenkanzlei, und absolvierte innerhalb dieser Zeit auch eine 11-monatige Kurzausbildung zum Diakon in Moritzburg.

Jugendwart

Von 1956 bis 1986 war Kurt Ströer für den Kirchenbezirk Karl-Marx-Stadt II Jugendwart mit Sitz in Wittgensdorf. Wegen seiner Begabung der lebendigen Vermittlung von Glaubensinhalten hatten seine Jugendgruppen großen Zulauf. Auch die musikalischen Teile seiner Veranstaltungen gestaltete er weitestgehend allein in sehr ansprechender Form:

Kurts unübetroffene Musikalität an jedem Tasteninstrument riss auch die unbegabtesten Sänger mit. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass er zu jeder Jahreslosung einen Kanon komponierte, deren Anzahl vermutlich ein eigenes Heft füllen dürfte.

Mindestens 1473 Jugendliche bekehrten sich in seinen seelsorgerlichen Gesprächen zu einem Leben mit Gott, und 229 von ihnen ergriffen auch einen kirchlichen Beruf als Pfarrer, Kantor oder Gemeindepädagoge. Über das evangelikale Wirken während dieser Zeit schreibt Ströers Biografieherausgeber Rainer Dick (gegen Ende von Ströers Dienstjahren ev.-luth. Landesjugendwart in Sachsen, später beim CVJM Bayern):

Seine direkte und dringliche Verkündigung war manchem Pfarrer ein Stein des Anstoßes. Oft ist er angefeindet und verleumdet worden. [...] Im Laufe der Jahre wurde dann die Zahl seiner Kritiker weniger. In »seinem« Kirchenkreis waren am Ende seiner Dienstzeit fast nur Pfarrer, die seine geistliche Linie bejahten und unterstützten.

Ströers Rhetorik hatte nach Berichten vieler Zeitzeugen einen stark polarisierenden Charakter, manche bescheinigten ihm gar eine Tendenz zum Sektiererischen, was hier durch Harald Bretschneider erwähnt wird:

Eine ganze Generation von Diakonen und Pfarrern hat Kurt Ströer als ihren geistlichen Vater. Manchmal beschimpft, mitunter belächelt, immer wieder hinterfragt als »Ströer-Sekte«, haben sie engagiert, fleißig und treu unserer Kirche gedient. Rainer Dick, Albrecht Kaul, Martin Lerchner, Jörg Pfund, Martin Schirrmeister und viele andere sind zu nennen. Nicht zuletzt auch ich, der eigenwillige »Freimaurer«.

Die meisten Ko-Autoren von Ströers Biografie „Gespräche unter drei Augen“ (2000) betonten explizit Ströers Schwerpunkt Einzelbeichte, so beispielsweise auch Joachim Schöne: „Da konnte man ihn schon mal necken mit »Na, wie steht es denn, Kurt? Auf die Knie, Buße, Buße!?« Er ertrug diese liebevolle Persiflage auf seinen umstrittenen und meist so erfolgreichen Stil.“ Sie alle verschwiegen jedoch verschämt Ströers sehr einseitige thematische Ausrichtung, zur öffentlichen Erörterung kommt jene erst mehr als 20 Jahre später:

Einzelbeichte wurde dort zum Kriterium authentischen Christseins, dazu Themen der Sexualität, also Ehe, Ehebruch, vor- und außereheliche Sexualkontakte, Masturbation. Es habe ein duales Schema klarer Gegensätze gegeben zwischen „Gerettet“ und „Verloren“.

Kritik

Es wurden ab Ende der 1970er Jahre vereinzelt und ab 2012 vermehrt Hinweise darauf gegeben, dass es durch Ströer bei der Seelsorge zu sexuellen Übergriffen (beispielsweise Zungenküsse) und spirituellem Missbrauch (beispielsweise Höllendrohungen) kam. 2013 hat Ströer kurz vor seinem Tod die Taten eingeräumt und sie wurden auch im Rahmen der Diakonengemeinschaft Moritzburg erörtert, aber nicht nach außerhalb der Kirche publiziert.

Der EvLKS-Kirchenleitung wird nun vorgeworfen, die ihr bekannten gewordenen Vergehen Ströers gegen seine Schutzbefohlenen absichtlich noch fast 10 Jahre lang verheimlicht zu haben. Erst ab Dezember 2021 wurde über die Medien die Öffentlichkeit informiert, zunächst nur durch Betroffene, und erst in Reaktion dazu dann auch durch die Kirche. Daraufhin meldeten sich bis Frühjahr 2023 insgesamt 34 Opfer Ströers.

Aufarbeitung der Geschehnisse

Im Jahr 2022 hat die Landeskirche mit der Aufarbeitung des Falls begonnen. Landesjugendpfarrer i. R. Harald Bretschneider und Landesbischof Tobias Bilz sagen, dass sie früher (beide waren als Jugendliche selbst Teilnehmer in Ströers Gruppen) nichts von den Taten wussten. Die Aufrechnung von Ströers Verdiensten gegen das Leid der Betroffenen schließt der Bischof ausdrücklich aus.

Frank Manneschmidt, heute Superintendent des Kirchenbezirks, in dem Ströer einst wirkte, meint: „…Kurt Ströers Verkündigung, so wie sie von Betroffenen, aber auch von vielen anderen im Nachhinein beschrieben wird, lässt sich inhaltlich mit lutherisch-reformatorischer Theologie schwerlich in Einklang bringen. Denn weder sind die Themen Sexualität und Okkultismus […] die Mitte der Heiligen Schrift, noch kann sein moralisches Sünden-, Gesetzes- und Evangeliumsverständnis mit dem reformatorisch-theologischen Verständnis der Rechtfertigungslehre in Übereinstimmung gebracht werden.“ Und Manneschmidt stellt dazu fest, dass „…Ströers zuweilen angstmachende und moralisch drohende Verkündigung unmittelbar mit seinen sexuellen Übergriffen verbunden war – Wort und Tat also bei ihm aufs engste miteinander verzahnt waren“ und dass darum „…nicht nur von körperlichem und seelischem, sondern auch von geistlichem Missbrauch die Rede“ ist.

Literatur

Dick/Gotter (Hrsg.): Gespräche unter drei Augen. Lebenslinien von Kurt Ströer. Johannis 2000, ISBN 978-3-501-01410-3.

Einzelnachweise

  1. http://idea.de/Frei-/Kirchen/detail/vater-des-saechsischen-cvjm-gestorben-fritz-reschke-65167
  2. http://sonntag-sachsen.de/2022/05/tiefe-abgrunde-aufarbeitung-der-schatten-einer-lichtgestalt
  3. Dick/Gotter (Hrsg.): Gespräche unter drei Augen. Lebenslinien von Kurt Ströer. Johannis 2000, ISBN 3-501-01410-4, S. 20
  4. Dick/Gotter (Hrsg.): Gespräche unter drei Augen. Lebenslinien von Kurt Ströer. Johannis 2000, ISBN 3-501-01410-4, S. 23–24
  5. Dick/Gotter (Hrsg.): Gespräche unter drei Augen. Lebenslinien von Kurt Ströer. Johannis 2000, ISBN 3-501-01410-4, S. 34–35
  6. http://schneider-breitenbrunn.de/2013-05/vater-saechsischer-jugendarbeit-heimgegangen
  7. Dick/Gotter (Hrsg.): Gespräche unter drei Augen. Lebenslinien von Kurt Ströer. Johannis 2000, ISBN 3-501-01410-4, S. 35–50
  8. Ehrenfried Winkler in: Dick/Gotter (Hrsg.): Gespräche unter drei Augen. Lebenslinien von Kurt Ströer. Johannis 2000, ISBN 3-501-01410-4, S. 72
  9. http://mdr.de/kultur/videos-und-audios/audio-radio/audio-1941908.html 07:37–07:50
  10. http://mdr.de/kultur/videos-und-audios/audio-radio/audio-1941908.html 03:25–03:38
  11. Dick/Gotter (Hrsg.): Gespräche unter drei Augen. Lebenslinien von Kurt Ströer. Johannis 2000, ISBN 3-501-01410-4, S. 54–55
  12. Harald Bretschneider in: Dick/Gotter (Hrsg.): Gespräche unter drei Augen. Lebenslinien von Kurt Ströer. Johannis 2000, ISBN 3-501-01410-4, S. 14
  13. Dick/Gotter (Hrsg.): Gespräche unter drei Augen. Lebenslinien von Kurt Ströer. Johannis 2000, ISBN 3-501-01410-4, S. 88
  14. http://dnn.de/mitteldeutschland/chemnitz-diakon-kurt-stroeer-und-der-sexuelle-missbrauch-CHTI5AOXZ5GK3AWPN4XI6LT4JE.html
  15. 1 2 http://freiepresse.de/der-lange-schatten-des-jugendwarts-artikel11866564
  16. http://mdr.de/kultur/videos-und-audios/audio-radio/audio-1941908.html 05:11–05:31
  17. http://mdr.de/kultur/videos-und-audios/audio-radio/audio-1941908.html 03:10–03:19
  18. http://mdr.de/kultur/videos-und-audios/audio-radio/audio-1941908.html 05:59–06:37
  19. Lutz Scheufler: „Sie wussten es spätestens seit 2012! Warum kam es nicht zur Aufklärung unter dem damaligen Bischof Bohl und Landesjugendpfarrer Tobias Bilz?…“
  20. http://evlks.de/handeln/hilfe-und-unterstuetzung/praevention-intervention-und-hilfe-bei-sexualisierter-gewalt/aufarbeitung
  21. http://mdr.de/kultur/videos-und-audios/audio-radio/audio-1941908.html 04:15–05:10
  22. http://www.sonntag-sachsen.de/2022/19/betroffene-nicht-allein-lassen
  23. http://kirchenbezirk-chemnitz.de/umgang-mit-sexualisierter-gewalt
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