Als Laternentürme (französisch tour-lanterne; englisch lantern-tower) werden zum Kircheninnern hin offene und durch eine Laterne belichtete Türme über der Vierung mit einem quadratischen oder seltener auch polygonalen Querschnitt bezeichnet. Runde Türme oberhalb der Vierung werden meist als Tambours oder als Zimborien (spanisch cimborrio) bezeichnet; die Abgrenzungen sind in manchen Fällen schwierig.
Architektur
Wurden in der mittelalterlichen Architektur die Gewölbe des Langhauses und des Querschiffs (Transept) einer Kirche oft ohne besondere Akzentuierung der Vierung in gleicher Höhe weitergeführt, so gibt es doch ebenfalls eine erhebliche Anzahl von Beispielen, bei denen dieser architektonisch und ehemals auch liturgisch wichtige Bereich einer Kirche eine Betonung durch Erhöhung, teilweise auch durch Belichtung erfährt. Dies wurde durch Kuppelkonstruktionen, Tambours, Querriegel (massif barlong) oder Laternentürme erreicht.
Statik
Die Konstruktion von Vierungstürmen und – in noch höherem Maße – von Laternentürmen war im Mittelalter stets gleichbedeutend mit einem großen statischen Wagnis. Gewicht und Gewölbeschub des Turms im Zusammenspiel mit den Tücken des Bodens waren oft nicht kalkulierbar – so stürzten denn auch einige Laternentürme ein oder wurden nach dem Auftreten von Rissen durch Gewölbe stabilisiert, die in Höhe der übrigen Kirchenschiffsgewölbe eingezogen wurden (vgl. Mont-St-Michel, Salisbury, Gent).
Innerer Aufbau
Ein mittelalterlicher Laternenturm ist im Norden Europas im Innern meist zweigeschossig – mit Ausnahme des Vierungsturms der Kathedrale von Peterborough, die mit einer flachen Holzdecke versehen ist. Die untere Ebene bleibt wegen der üblicherweise dahinter befindlichen Dachstühle des Langhauses und des Querschiffs unbelichtet, während durch die Fenster der oberen Ebene von allen Seiten – als „überirdisch“ empfundenes – Licht einströmt.
Im Süden Europas sind Laternentürme meist nur eingeschossig, z. B. Ste-Foy de Conques, Prieuré St-Nicolas de Civray in Frankreich oder die Kathedralen von Salamanca und Zamora sowie die Kollegiatkirche von Toro in Spanien.
Die Architekten moderner Laternentürme erlauben sich allerdings größere gestalterische Freiheiten (→ Weblinks).
Gewölbe
Vielleicht waren die ersten Laternentürme (Mont-St-Michel, Jumièges) noch flachgedeckt (vgl. Ely, Westvierung oder Wimborne Minster) oder von Gratgewölben bedeckt. Nach der Einführung von Rippengewölben gegen Ende des 11. Jahrhunderts (Durham, Speyer, eventuell auch Mont-Saint-Michel und Lessay) wurden die quadratischen Laternentürme mit achtteiligen Rippengewölben geschlossen; die weitaus selteneren oktogonalen Bauten erhielten acht- oder sechzehnteilige Gewölbe. Vor allem in England erfuhr die Gewölbekunst in den Stilepochen des Decorated Style (ca. 1240–1330) und des Perpendicular Style (ca. 1330–1530) eine reichhaltige Entwicklung hin zu Stern-, Netz- und Fächergewölben.
Geschichte
Vorgängerbauten
Als wichtigster spätantiker Vorläufer kann das Vierungs-Oktogon des gegen Ende des 5. Jahrhunderts erbauten Symeonsklosters (Qal’at Sim’an) in Syrien angesehen werden, das wahrscheinlich überdacht und eigenständig belichtet war. Ein weiterer in diesem Zusammenhang zu nennender Bau ist die im Jahre 547 geweihte Kirche San Vitale in Ravenna; hier ist das zentrale Oktogon durch einen belichteten Tambour erhöht. Seit dem Neubau der großen Kuppel (558–562) der Hagia Sophia in Konstantinopel wird diese durch einen umlaufenden Fensterkranz belichtet. Weitere wichtige Bauten im Hinblick auf eine Belichtung des Vierungsbereichs sind die byzantinischen Kreuzkuppelkirchen.
Das aus karolingischer Zeit (806) stammende Oratorium von Germigny-des-Prés hat den wohl ersten Laternenturm auf quadratischem Grundriss, der aber ohne direkte Nachfolge blieb.
Datierung
Da einige Laternentürme nicht fertiggestellt oder aber nach Einstürzen rekonstruiert wurden, sind exakte Datierungen äußerst schwierig und so werden diesbezügliche Fragen auch in der Literatur geflissentlich umgangen. Diese Problematik wird noch verstärkt durch bauliche Veränderungen infolge des sich wandelnden Zeitgeschmacks: So stammen die Gewölbe oft aus einer späteren Zeitepoche als der Turm selbst.
Nord- und Mitteleuropa
Laternentürme des nördlichen oder normannischen Typs finden sich nur in einigen wenigen Regionen Mitteleuropas.
Deutschland
In der spätromanischen Architektur des Rheinlands gibt es einige interessante Beispiele (z. B. St. Quirinus in Neuss, oder St. Ludgerus in Essen-Werden), die aber einem völlig anderen Typus folgen als die weitaus bekannteren normannischen Exemplare.
Frankreich
Normandie
Die wohl frühesten mittelalterlichen Laternentürme stammen aus dem 11. Jahrhundert und finden sich in der Normandie. Als Beispiele hierfür gelten die Abtei des Mont-Saint-Michel (Vierungsturm im 15. Jahrhundert durch ein eingezogenes Gewölbe geschlossen), die Abtei Jumièges (nur noch als Ruine erhalten) sowie die ehemalige Abteikirche Saint-Étienne in Caen (in den Hugenottenkriegen (1566) und nach schweren Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg (1944) eingestürzt, jedoch beide Male wieder aufgebaut). Spätere normannische Kathedralen und Abteikirchen knüpfen an diese Tradition an (Beispiele: Abtei von Hambye; Abteikirche St. Georges de Boscherville; Coutances, Kathedrale und die Kirche St-Pierre; die Kathedrale und die Kirche St. Taurin in Evreux; die Kathedrale und die Abteikirche St-Ouen in Rouen; die Abteikirche Ste-Trinité in Fécamp; die ehemalige Kollegiatkirche von Auffay, die Kirche St-Germain in Argentan u. a.).
Die Frage, woher die normannischen Auftraggeber und Architekten des 11. Jahrhunderts ihre Anregungen für den Bau von Laternentürmen bezogen, ist bislang unbeantwortet. Sowohl cluniazensische (Cluny II) als auch ottonische Bauten (z. B. St. Michael in Hildesheim) kämen als zeitliche Vorläufer in Frage, doch waren diese wahrscheinlich zum Kirchenschiff hin geschlossen. Über die ursprüngliche architektonische Gestaltung des Vierungsbereichs der etwa gleichzeitig entstandenen salischen Kaiserdome von Mainz, Worms und Speyer ist wegen späterer Umbauten und Restaurierungen nicht viel bekannt.
Île-de-France
Von allen gotischen Kathedralen Frankreichs außerhalb der Normandie hat nur die Kathedrale von Laon (1155–1235) einen Laternenturm, der zweifellos von normannischen oder frühen englischen Vorbildern beeinflusst ist. Die nur etwa 30 Kilometer von Laon entfernte ehemalige Abteikirche Saint-Yved in Braine verfügt ebenfalls über einen derartigen Turm. Vielleicht hatte auch die Kathedrale von Beauvais einen Laternenturm, der jedoch – nur wenige Jahre nach seiner Vollendung – im Jahre 1573 einstürzte und nie wieder aufgebaut wurde; die heutige Vierung ist von einem Gewölbe geschlossen.
Burgund
Weitab von den normannischen und nordfranzösischen Bauten gelegen, aber nur rund 150 km von Lausanne und Neuchâtel (siehe unten) entfernt, wird die Vierung der um 1225 begonnenen Kirche Notre-Dame in Dijon von einem Laternenturm überragt, der ursprünglich wohl geplant war, jedoch unvollendet blieb und in wesentlichen Teilen erst im 19. Jahrhundert errichtet wurde.
England
Von den normannischen Bauten ging eine große Vorbildwirkung auf englische Abteikirchen und Kathedralen aus (Beispiele: Durham; Canterbury; Westminster Abbey; Salisbury (zur Stabilisierung des Turms eingewölbt); York; Lincoln; Peterborough; Bury St. Edmunds u. a.). Die Kathedrale von Ely hat gleich zwei Vierungen: Während die westliche Vierung von einem echten Laternenturm (mit einer bemalten hölzernen Flachdecke im Innern) bekrönt wird, gehört das viel berühmtere östliche Vierungsoktogon nur bedingt in diese Auflistung, da es zur Gänze in Zimmermannsarbeit konstruiert ist und im Äußeren nicht von einem Turm überhöht wird.
Die Gewölbe der englischen Laternentürme sind unbestrittene Höhepunkte spätgotischer Wölbekunst: Stern-, Netz- und Fächergewölbe wurden miteinander kombiniert und zu architektonischen Schmuckstücken zusammengefügt.
Flandern
Im Mittelalter bestanden vielfältige Beziehungen zwischen der Normandie und Flandern (siehe: Wilhelm der Eroberer und Herzog Wilhelm I. von Flandern), die offensichtlich nicht ohne Auswirkungen auf die Architektur Flanderns blieben: So hatte die Sint-Niklaaskerk in Gent (13. Jh.) ursprünglich einen zum Kircheninnern hin geöffneten Laternenturm, der später durch ein eingezogenes Gewölbe geschlossen wurde, welches inzwischen jedoch wieder entfernt wurde.
Auch die nach oben offene Vierung der Liebfrauenkathedrale in Antwerpen (14.–17. Jh.) sollte wohl ursprünglich von einem Laternenturm bekrönt werden; im 17. Jahrhundert wurde sie jedoch mit einer oktogonalen, belichteten und mehrgeschossigen barocken Haube geschlossen.
Schweiz
Die um das Jahr 1190 geweihte Kathedrale Notre-Dame in Lausanne hat einen Laternenturm, der allerdings erst in den Jahren 1873–1876 fertiggestellt wurde und sich an Laon orientiert.
Nur rund 70 km von Lausanne entfernt findet sich in der Kollegiatkirche Neuenburg in Neuchâtel ein noch aus dem Mittelalter stammender Laternenturm mit einem für diese Zeit üblichen achtteiligen Rippengewölbe; im 19. Jahrhundert fanden Restaurierungen statt.
Südeuropa
Südlich der Alpen und der Pyrenäen wurden die Vierungen von Sakralbauten regelmäßig durch Gewölbe oder Kuppeln (meist auf belichtetem runden oder achteckigem Tambour) geschlossen.
Italien
In Italien werden alle belichteten Aufbauten über dem Vierungsbereich als tiburio bezeichnet.
Spanien
In Spanien werden alle belichteten Aufbauten über dem Vierungsbereich als cimborrio (katalanisch cimbori) bezeichnet. Besonders erwähnenswert sind die spätromanischen Vierungstürme von Salamanca oder Toro (Kastilien) sowie die spätgotischen Zimborien der Kathedralen von Burgos, Tarazona und Valencia, die jedoch unter den spanischen Kathedralen durchaus Sonderstellungen einnehmen.
Kastilien
Sehr eigenwillig, aber in diesem Zusammenhang unbedingt erwähnenswert, ist der nach einem vorangegangenen Einsturz im 16. Jahrhundert neu erbaute und nach oben offene Laternenturm (cimborrio) der Kathedrale von Burgos mit einem durchbrochenen Sterngewölbe, welches wohl in hohem Maße auch von maurischen Vorbildern beeinflusst ist (vgl. Große Moschee von Taza, Marokko).
Die Vierung der neuen Kathedrale von Salamanca (16. Jh.) wird im Äußeren von einem oktogonalen Tambour überhöht, dessen zweigeschossiger innerer Aufbau jedoch stark an den eines Laternenturms erinnert. Bereits die Alte Kathedrale von Salamanca und die von Zamora sowie die Kollegiatkirche von Toro hatten Konstruktionen, die zwischen belichtetem Tambour und Laternenturm anzusiedeln sind.
Katalonien
Viele größere Kirchen Kataloniens verfügen über eingeschossige Laternentürme (z. B. die Kathedralen von Lleida, Barcelona und Tarragona oder die Klosterkirche von Sant Cugat del Vallès u. a.).
Auch bei der Kathedrale von Valencia öffnet sich ein oktogonaler Laternenturm (Cimbori) über der Vierung. Bei dem aus dem 16. Jahrhundert stammenden Aufsatz werden sogar beide Ebenen durch Fensteröffnungen belichtet.
Moderne Laternentürme
Auch im 19. und 20. Jahrhundert wurden noch Kirchenneubauten mit Laternentürmen errichtet. Während der Turm der Kathedrale von Truro, Cornwall, ganz dem spätmittelalterlichen Stilempfinden verhaftet ist, eröffneten sich den Architekten des 20. Jahrhunderts auf Grund des technischen Fortschritts und größerer ästhetischer Freiheiten völlig neue Gestaltungsmöglichkeiten (Beispiele: Basilika Sainte-Thérèse in Lisieux, St. Joseph in Le Havre; die Kathedrale von Liverpool, Kathedrale von Blackburn, Kathedrale von Sheffield oder St. Stephanus in Bütgenbach).
Siehe auch
Literatur
- Henrik Karge: Die Kathedrale von Burgos und die spanische Architektur des 13. Jahrhunderts. G. Mann, Berlin 1989, ISBN 3-7861-1548-6
- Günter Kowa: Architektur der englischen Gotik. DuMont, Köln 1990, ISBN 3-7701-1969-X
- Norbert Nußbaum, Sabine Lepsky: Das gotische Gewölbe. Die Geschichte seiner Form und Konstruktion. Deutscher Kunstverlag, Berlin-München 1999, ISBN 3-422-06278-5
- Frank Rainer Scheck, Johannes Odenthal: Syrien. Hochkulturen zwischen Mittelmeer und Arabischer Wüste. DuMont, Ostfildern 2011, ISBN 978-3-7701-3978-1, S. 283–289
- Werner Schäfke: Die Normandie. DuMont, Köln 1990, ISBN 3-7701-1141-9
- Werner Schäfke: Englische Kathedralen. DuMont, Köln 1989, ISBN 3-7701-1313-6
- Werner Schäfke: Frankreichs gotische Kathedralen. DuMont, Köln 1979, ISBN 3-7701-0975-9
- Rolf Toman (Hrsg.): Die Kunst der Gotik. Architektur – Skulptur – Malerei. Köln 1998, ISBN 3-89508-313-5