Lerntheorien sind Modelle und Hypothesen, anhand derer Lernvorgänge psychologisch beschrieben und erklärt werden sollen. Der komplexe Vorgang des Lernens wird dabei mit möglichst einfachen Prinzipien und Regeln erklärt. In der Lernpsychologie werden Theorien entwickelt und mit Hilfe empirischer Untersuchungen ihre Aussagekraft, Reichweite und Anwendbarkeit auf das Lernen und Lehren in unterschiedlichen Situationen und Kontexten überprüft.
Lerntheoretische Ansätze im Überblick
Ein Überblick von Cornelia Gräsel und Burkhard Gniewosz (2011) über die wichtigsten lerntheoretischen Ansätze und Aussagen zeigt, dass sich die meisten der vorhandenen Lerntheorien auf besondere, einzelne Formen des Lernens konzentrieren. Im Zuge der intensiven Auseinandersetzung mit der theoretischen Begründung und Erklärung von Lernen haben sich im 20. Jahrhundert beispielsweise behavioristische, kognitivistische und konstruktivistische Lerntheorien entwickelt.
Behavioristische Lerntheorien
Bei dem Behaviorismus wird das Verhalten (englisch behavior) eines Lebewesens untersucht. Dieses wissenschaftliche, theoretische Konzept stammt aus der Psychologie. Der Mensch als Ergebnis seiner Umgebung oder Umwelt steht im Mittelpunkt der behavioristischen Theorie. Für die Vertreter der behavioristischen Lerntheorie ist der geistige Informationsverarbeitungsprozess nicht von vorrangiger Bedeutung. Das Verhalten eines Individuums wird im Rahmen des Reiz-Reaktions-Modells betrachtet, demzufolge auf einen äußeren Reiz (Stimulus bzw. Input) zwangsläufig eine bestimmte Reaktion (Response bzw. Output) folgt. Das Gehirn wird lediglich als Reizverarbeitungsorgan betrachtet (sog. Blackbox). Im 20. Jahrhundert wurden insbesondere die folgenden behavioristischen Lerntheorien entwickelt:
- Klassischen Konditionierung (Koppelung von Reizen) – Vertreter: Iwan Petrowitsch Pawlow (1849–1936), John B. Watson (1878–1958)
- Operante Konditionierung (Reaktion auf Reize) – Vertreter: B.F. Skinner (1904–1990), Edward Lee Thorndike (1874–1949)
- Lernen am Modell – Vertreter: Albert Bandura (1925–2021)
Edward Lee Thorndike erforschte am Ende des 19. Jahrhunderts Problemlösen und die Rolle von Einsicht. In seinem paradigmatischen Experiment von 1898 setzte er Katzen in einen Käfig, der von innen durch Ziehen an einer Schnur zu öffnen war, legte außen Futter hin und maß die Zeit, die die Katzen zur Selbstbefreiung benötigten. Seine Beobachtungen und Schlussfolgerungen führten zur Theorie der instrumentellen Konditionierung.
Kurze Zeit später entstand die Theorie der Klassischen Konditionierung. Zufällig stieß 1905 der Physiologe Iwan Pawlow auf dieses Prinzip (zum Versuch: siehe auch Pawlowscher Hund). Eine klassische Konditionierung erfolgt, wenn ein ursprünglich neutraler Reiz (etwa ein Ton) einen Reflex, zum Beispiel Speichelfluss oder Lidschluss auslöst.
B. F. Skinner hat sich v. a. mit dem operanten Verhalten, also der Rückwirkung der Konsequenzen eines Verhaltens auf dasselbe, beschäftigt und das Prinzip der operanten Konditionierung beschrieben.
Diese Lernprinzipien wurden ab den 1960er Jahren in der Psychologie um die Prinzipien des Lernens am Modell und (mit Einschränkungen) des Lernens durch Einsicht ergänzt.
Kognitivismus
Der Kognitivismus betrachtet Lernen als Informationsverarbeitung und interessiert sich dafür, auf welche Art und Weise bzw. mit welchen Methoden Menschen Probleme lösen. Der Kognitivismus wurde insbesondere durch Entwicklung in den (informations-)technischen und mathematischen Wissenschaftsdisziplinen entwickelt und geprägt (z. B. Forschung zur Kybernetik, Informationstheorie und Künstlichen Intelligenz). Aus lerntheoretischer Sicht wird versucht, psychische Prozesse mithilfe technischer Modelle zu beschreiben (z. B. Shannon-Weaver-Modell). Lernende werden in dieser Theorieperspektive als informations- und symbolverarbeitende Systeme angesehen, die versuchen, ein gestelltes Problem zu lösen.
Konstruktivismus
Der Konstruktivismus geht von Selbstregulation von Lernprozessen im nicht-technischen Sinne aus. Wissen hängt mit Fragen der aktiven Bedeutungskonstruktion von Lernenden zusammen, ohne Objektivität vorauszusetzen. Eine besondere Ausprägung hat der Konstruktivismus im sogenannten Radikaler Konstruktivismus (z. B. nach Glasersfeld, 1996): Ausgangspunkt ist dabei die Annahme, dass alle Beobachtung und Wahrnehmung sowie alles Verstehen der Welt stets von der Beobachtungsperspektive abhängig ist. Lernende werden dabei als geschlossene, autonome Systeme betrachtet. Ihre Erkenntnisbildung ist immer ein biographisch bedingter und einmaliger Prozess, der in soziale Kontexte eingebettet ist, z. B. die gemeinschaftliche Co-Konstruktion und Co-Produktion von Wissen. In institutionellen Kontexten (z. B. Hochschule) werden zunehmend sozialkonstruktivistische Lerntheorien zur Gestaltung von Lehren und Lernen empfohlen.
Instruktionalismus
Der noch relativ junge Begriff der Instruktionspsychologie wird in der internationalen Literatur unter der Instructional Design Theory verhandelt. Beim Instruktionalismus wird dem Lernenden Wissen vermittelt, welches dieser passiv aufnehmen soll. Dieses vermittelte Wissen wird durch Übungen vertieft. Diese Lerntheorie folgt dem Modell des Behaviorismus, d. h., dass Reiz-Reaktionsmodelle verstärkt werden. Auf einen bestimmten Reiz wird eine Reaktion antrainiert. Es wird kaum auf Vorwissen, Erfahrungen oder Stärken des Lerners eingegangen.
Lernen durch Einsicht, Lernen am Modell
Die Lerntheorien des Kognitivismus beziehen Kognitionen und Emotionen mit ein. Eine kognitive Theorie ist beispielsweise die des Lernens durch Einsicht (kognitives Lernen).
Die Theorie des Lernens am Modell beruht darauf, dass viele Tiere und die Menschen durch Abschauen bei anderen lernen und das Gesehene in einfachen oder komplexen kognitiven Prozessen verarbeiten, wobei sie ein kognitives Konzept als Modell eigenen Verhaltens erstellen.
Die Bedeutung von Kognition zeigt sich in der sozial-kognitiven Theorie Albert Banduras:
Die Erwartung der eigenen Selbstwirksamkeit (englisch Self-Efficacy) ist hier ein zentraler Einfluss auf das Verhalten – ein anderer ist hier die aktuelle Gefühlslage.
Lernen am Modell, Imitationslernen und Identifikationslernen sind Formen des sozialen Lernens.
- Beim Lernen am Modell liegt die Attraktivität bei dem Erfolg der beobachteten Handlung.
- Beim Imitationslernen liegt die Attraktivität in der beobachteten Handlung.
- Beim Identifikationslernen liegt die Attraktivität in der beobachteten Person.
Das Instruktionslernen (Instruktionismus) gehört auch zu den kognitivistischen Lerntheorien und hat nichts mit dem behavioristischen Ansatz des Instruktionalismus zu tun.
Situativer Kontext / Transfer
Dass Lernen in bestimmten Situationen geschieht, ist der Ausgangspunkt für lerntheoretische Ansätze zum Situativen Lernen oder auch situiertem Lernen. Sie beruhen unter anderem auf der Beobachtung, dass Schüler das schulisch Gelernte zwar unter Umständen ganz ordentlich im Unterricht und Schule anwenden, jedoch in einer neuen oder andersartigen Situation (etwa beim Bezahlen im Geschäft) nicht zur Anwendung bringen (Kluft zwischen Wissen und Handeln).
Biokybernetisch-neuronale Lerntheorien
In letzter Zeit werden auch vermehrt biokybernetisch-neuronale Ansätze (Neurobiologie) formuliert, welche in erster Linie die Funktionsweise des menschlichen Gehirns und des Nervensystems beschreiben, siehe auch → Kognitionswissenschaft. Einen Gegenstand innerhalb der biokybernetisch-neuronalen Lerntheorien bilden die Spiegelneurone, die neben Einfühlungsvermögen (Empathie) und Rapportfähigkeit auch an neuronalen Grundfunktionen für das Lernen am Modell beteiligt sein könnten.
Maschinelles Lernen
Die statistische Lerntheorie nach Wladimir Wapnik und Alexey Chervonenkis untersucht die statistischen Eigenschaften von Lernalgorithmen (Maschinelles Lernen). Das Hauptziel ist, einen theoretischen Rahmen für das Problem der Inferenz zu bieten – d. h. für das Problem, aus einem Datensatz Wissen über zugrunde liegende Muster zu erlangen.
Kritik
Die Kritiker der Lerntheorien nennen zwei wesentliche Punkte: Zum einen weisen sie darauf hin, dass Lerntheorien nur abgeschautes / nachgemachtes Verhalten erklären können. Es gebe daher keine Erklärung für neues Verhalten, also für Innovation oder Kreativität. Zusätzlich handele es sich bei der Mehrzahl der beobachteten Lernvorgänge um die Verstärkung von Leistungen, die einen Mangelzustand (z. B. Hunger oder Durst) ausgleichen sollen. Kritiker sehen das volle Potenzial des Menschen aber erst dann verwirklicht, wenn übergeordnete Motive angestrebt werden (z. B. Streben nach Selbstverwirklichung). Diese werden – so die Kritiker – bei den Lerntheorien außer Acht gelassen. Einige der Einwände werden redundant, wenn die rein lerntheoretischen Ansätze um kognitive Prozesse erweitert werden, so etwa Banduras sozial-kognitive Lerntheorie.
Der kritische Rationalismus hält die einschlägigen Lerntheorien für unvollständig. Demnach besteht der eigentliche Lernprozess, den die einschlägigen Lerntheorien übersehen, in Wirklichkeit aus freier Setzung plus kritischer Prüfung. Sie beschrieben lediglich den Vorgang, durch den eine einmal so gelernte Theorie vom Bewusstsein in das Unbewusste verlagert werde, so dass z. B. eine erlernte Tätigkeit unbewusst und auf Abruf ausgeführt werden könne.
Siehe auch
Literatur
- Gordon Bower, Ernest Hilgard: Theorien des Lernens. 2 Bände. 5. Auflage. Stuttgart 1983/84.
- W. Edelmann: Lernpsychologie. Psychologie Verlags Union, Weinheim 2000.
- Guy Bodenmann, M. Perrez, M. Schär: Klassische Lerntheorien. Grundlagen und Anwendungen in Erziehung und Psychotherapie. Huber, Bern 2004.
- Heinz Reinders, Hartmut Ditton, Cornelia Gräsel, Burkhard Gniewosz (Hrsg.): Empirische Bildungsforschung. VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2011, ISBN 978-3-531-17847-9, doi:10.1007/978-3-531-93021-3_1 (springer.com).
- Philip Zimbardo, R. J. Gerrig: Psychologie. 18. Auflage. Pearson Verlag, München 2008.
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ Cornelia Gräsel, Burkhard Gniewosz: Überblick Lehr-Lernforschung. In: Empirische Bildungsforschung. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2011, ISBN 978-3-531-17847-9, S. 15–20, doi:10.1007/978-3-531-93021-3_1 (springer.com [abgerufen am 15. Juli 2023]).
- ↑ Karl Josef Klauer, Detlev Leutner: Lehren und Lernen: Einführung in die Instruktionspsychologie. 2., überarb. Auflage. Beltz, Weinheim, Basel 2012, ISBN 978-3-621-27667-2, S. 15–16.
- ↑ Peter Baumgartner, Sabine Payr: Lernen mit Software (= Lernen mit interaktiven Medien). 2. Auflage. Studien-Verlag, Innsbruck, Wien, München 1999, ISBN 978-3-7065-1444-6.
- ↑ Gabi Reinmann: Studientext Didaktisches Design. 5. korrigierte und ergänzte Auflage. Universität Hamburg, Hamburger Zentrum für Universitäres Lehren und Lernen, Hamburg 2015, S. 138.
- ↑ Francisco J. Varela, Siegfried J. Schmidt, Francisco J. Varela: Kognitionswissenschaft - Kognitionstechnik: eine Skizze aktueller Perspektiven (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft). 6. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2016, ISBN 978-3-518-28482-7.
- ↑ Gabi Reinmann, 2015, S. 140
- ↑ Ernst von Glasersfeld: Radikaler Konstruktivismus: Ideen, Ergebnisse, Probleme (= Suhrkamp Taschenbücher Wissenschaft). Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997, ISBN 978-3-518-28926-6.
- ↑ Gabi Reinmann, 2015, S. 140
- ↑ Unterrichtsmethoden im konstruktiven und systemischen Methodenpool, auf methodenpool.uni-koeln.de
- ↑ Sanne Dijkstra, Franz Schott, Robert D. Tennyson, Norbert M. Seel (Hrsg.): Instructional Design: International Perspectives. Volume I: Theory, Research, and Models. Erlbaum, Mahwah, NJ 1997, ISBN 978-0-8058-1398-2.
- ↑ Manfred Spitzer: Geist im Netz. Modelle für Lernen, Denken und Handeln. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1996, ISBN 3-8274-0109-7.
- ↑ Giacomo Rizzolatti, Corrado Sinigaglia: Empathie und Spiegelneurone: Die biologische Basis des Mitgefühls. Frankfurt am Main, Suhrkamp 2008, ISBN 978-3-518-26011-1.
- ↑ Gregory Hickok: Warum wir verstehen, was andere fühlen: Der Mythos der Spiegelneuronen. Carl Hanser Verlag, München 2015, ISBN 978-3-446-44326-6.
- ↑ Philip Zimbardo: Psychologie. Pearson Verlag, München 2008, ISBN 978-3-8273-7275-8.