Otto Bähr (* 2. Juni 1817 in Fulda; † 17. Februar 1895 in Kassel) war ein deutscher Jurist und Politiker.
Leben und Wirken
Bähr war Sohn eines Regimentsarztes und studierte Rechts- und Kameralwissenschaften in Göttingen, Marburg und Heidelberg. Im Jahr 1848 war er Mitglied einer Kommission zur Ausarbeitung einer Zivilprozessordnung in Kurhessen. Im Jahr 1849 wurde er Obergerichtsrat in Kassel. In der innenpolitischen Auseinandersetzung unterstützte er die Gegner von Ludwig Hassenpflug. Er wurde daher 1851 nach Fulda strafversetzt, konnte aber später wieder nach Kassel zurückkehren. Im Jahr 1857 erhielt Bähr die Ehrendoktorwürde der Universität Marburg. Angebote und Berufungen verschiedener Universitäten lehnte Bähr jedoch stets ab. Im Jahr 1863 wurde er zum Oberappellationsgerichtsrat ernannt. Mit der Einverleibung von Kurhessen in den preußischen Staat wurde Bähr in den preußischen Justizdienst übernommen. Er wurde an das Oberappellationsgericht für die neuen Provinzen berufen, das später mit dem Kammergericht verschmolz. Von 1879 bis 1881 war er Reichsgerichtsrat am Reichsgericht in Leipzig. Er musste das Amt schließlich wegen eines Nervenleidens aufgeben.
Bähr war auch als Autor zahlreicher einflussreicher juristischer Schriften tätig. Er trat dabei auch als Kritiker zeitgenössischer Tendenzen in der Rechtswissenschaft hervor, beispielsweise vertrat er, aufgehängt am „Kölner/Frankfurter Telegraphenfall“ – entgegen der zeitgenössisch vorherrschenden Meinung – die stark diskutierte theoretische Frage, ob bei irrig abgegebenen Willenserklärungen, der Schutz des Erklärenden (Wille) oder zum Schutz des Verkehrsbedürfnisses auf den Horizont des Erklärungsempfängers (Erklärung) abzustellen sei, die Erklärungstheorie. Bedeutsam ist seine 1864 erschienene Schrift Der Rechtsstaat. Eine publicistische Skizze, die grundlegend für die Ausprägung des modernen Begriffs des Rechtsstaates war.
Von 1867 bis 1870 war Bähr zunächst Mitglied des Norddeutschen und dann von 1871 bis 1880 des deutschen Reichstages. Außerdem war er von 1867 bis 1879 Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses. In den Parlamenten vertrat er den Reichstagswahlkreis Regierungsbezirk Kassel 2 (Stadt- und Landkreis Kassel – Landkreis Melsungen). Er gehörte den Fraktionen der nationalliberalen Partei an. Bähr war 1875/76 Mitglied der Reichsjustizkommission.
Schriften
- Die preußischen Gesetzentwürfe über die Rechte an Grundvermögen. Jena 1870.
- Der Rechtsstaat. Eine publicistische Skizze. Wigand, Cassel/ Göttingen 1864.
- Die Anerkennung als Verpflichtungsgrund. Civilistische Abhandlung. Cassel 1855.
Literatur
- Birgit Binder: Otto Bähr (1817–1895). Richter von universellem Geist, Mittler zwischen Dogmatik und Praxis. Lang, Frankfurt am Main u. a. 1983.
- Bernhard Mann: Biographisches Handbuch für das Preußische Abgeordnetenhaus 1867–1918 (= Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Band 3). Droste, Düsseldorf 1988, ISBN 3-7700-5146-7, Nr. 52.
- Karl-Heinz-Nickel, Harald Schmidt, Florian Tennstedt, Heide Wunder: Kurzbiographien. In: Georg Wannagat (Hrsg.): Kassel als Stadt der Juristen (Juristinnen) und der Gerichte in ihrer tausendjährigen Geschichte. Heymann, Köln u. a. 1990, ISBN 978-3-452-21555-0, S. 375 (PDF-Datei; 12,8 MB).
- Albert Teichmann: Bähr, Otto. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 47, Duncker & Humblot, Leipzig 1903, S. 747 f.
Weblinks
- Literatur von und über Otto Bähr im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Baehr, Otto in der Datenbank der Reichstagsabgeordneten
- Biografie von Otto Baehr. In: Heinrich Best: Datenbank der Abgeordneten der Reichstage des Kaiserreichs 1867/71 bis 1918 (Biorab – Kaiserreich)
- Amtspresse Preußens
- Baehr, Otto. Hessische Biografie. (Stand: 17. Januar 2023). In: Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen (LAGIS).
Einzelnachweise
- ↑ Martin Schermaier: Die Bestimmung des wesentlichen Irrtums von den Glossatoren bis zum BGB (= Forschungen zur Neueren Privatrechtsgeschichte. Band 29). Böhlau Verlag Wien/Köln/Weimar 2000, Abschnitt 10, Die Irrtumsrechtliche Diskussion zwischen Erklärungs-, Vertrauens- und Willenstheorie, S. 537–606 (551 f.).
- ↑ Hans-Peter Haferkamp: Der Kölner/Frankfurter Telegraphenfall, in: Ulrich Falk, Michele Luminati, Mathias Schmoeckel (Hrsg.): Fälle aus der Rechtsgeschichte, München 2008, S. 254–265 (online).
- ↑ Bernd Haunfelder, Klaus Erich Pollmann: Reichstag des Norddeutschen Bundes 1867–1870. Historische Photographien und biographisches Handbuch (= Photodokumente zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Band 2). Droste, Düsseldorf 1989, ISBN 3-7700-5151-3, Foto S. 60, Kurzbiographie S. 373.
- ↑ Fritz Specht, Paul Schwabe: Die Reichstagswahlen von 1867 bis 1903. Eine Statistik der Reichstagswahlen nebst den Programmen der Parteien und einem Verzeichnis der gewählten Abgeordneten. 2. Auflage. Verlag Carl Heymann, Berlin 1904, S. 148; vgl. auch A. Phillips (Hrsg.): Die Reichstagswahlen von 1867 bis 1883. Statistik der Wahlen zum Konstituierenden und Norddeutschen Reichstage, zum Zollparlament, sowie zu den fünf ersten Legislatur-Perioden des Deutschen Reichstages. Verlag Louis Gerschel, Berlin 1883, S. 96; vergleiche auch Kurzbiographie in: Georg Hirth (Hrsg.): Deutscher Parlaments-Almanach. 9. Ausgabe vom 9. Mai 1871. Verlag Franz Duncker, Berlin 1871, S. 155.
- ↑ Bernhard Mann (Bearb.) unter Mitarbeit von Martin Doerry, Cornelia Rauh, Thomas Kühne: Biographisches Handbuch für das Preußische Abgeordnetenhaus 1867–1918 (= Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Band 3). Droste, Düsseldorf 1988, ISBN 3-7700-5146-7, S. 52; zu den Wahlergebnissen vergleiche Thomas Kühne: Handbuch der Wahlen zum Preußischen Abgeordnetenhaus 1867–1918. Wahlergebnisse, Wahlbündnisse und Wahlkandidaten (= Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Band 6). Droste, Düsseldorf 1994, ISBN 3-7700-5182-3, S. 642–644.