Pelagianismus ist im Christentum die Lehre, dass die menschliche Natur nicht durch die Erbsünde ganz verdorben worden sei, sondern schließlich, als von Gott geschaffen, gut sein müsse, wenn man nicht unterstellen wolle, ein Teil der Schöpfung Gottes sei böse. Im Kern lehrt die nach ihrem angeblichen Begründer Pelagius benannte Doktrin also, es sei grundsätzlich möglich, ohne Sünde zu sein (posse sine peccato esse). In zugespitzter Form handelt es sich um eine Lehre der Selbsterlösungsmöglichkeit und -fähigkeit des Menschen.
Begründer
Es ist strittig, ob der Mönch und Moralist Pelagius († um 418) diese Lehre selbst vertreten hat oder ob nicht erst sein Anhänger und Rezipient Caelestius diese Lehre aus pelagianischen Schriften entwickelt hat. Als sich die Diskussion mehr und mehr auf die Frage der Erbsünde zuspitzte, war der apulische Bischof Julianus von Eclanum der bedeutendste theologische und philosophische Vertreter des Pelagianismus.
Die Lehre des Pelagius
Der Pelagianismus lehrt, dass die menschliche Natur – von Gott stammend – auch göttlich sei und dass der sterbliche Wille in der Lage sei, ohne göttlichen Beistand zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Adams Sünde sei zwar ein schlechtes Beispiel für seine Nachkommen gewesen, habe aber nicht die Konsequenzen gezeitigt, die der Erbsünde zugerechnet werden. Der Mensch trage demzufolge die volle Verantwortung für sein Seelenheil und seine Sünden.
Die Gnade Gottes wird daher im Pelagianismus im Vergleich zu anderen theologischen Schulen nur zweitrangig und gegenüber dem freien Willen des Menschen nur als Ergänzung (quasi als hilfreiche Unterstützung des menschlichen Handelns) angesehen. Auch die Rolle Jesu Christi wird anders gesehen als in der kirchlich rezipierten Theologie: Er habe der Menschheit ein gutes Beispiel gegeben und sei damit Adams schlechtem Beispiel entgegengetreten.
Pelagianischer Streit
Der Pelagianismus wurde von Augustinus von Hippo bekämpft und durch verschiedene Päpste, lokale Synoden und abschließend auf dem Konzil von Ephesos im Jahre 431 als Häresie verurteilt. Dieser sogenannte Pelagianische Streit war für die Westkirche wichtig, während der Pelagianismus in der Ostkirche trotz anfänglicher Unterstützung durch Theodor von Mopsuestia und Nestorius nie eine wesentliche Rolle gespielt hat.
Der Konflikt erstreckte sich über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten. Einziges exaktes Datum ist nur die Beendigung durch das Konzil von Ephesos im Jahr 431. Der Beginn der Auseinandersetzung wird um das Jahr 410 vermutet, als Caelestius, ein Gefährte des Pelagius, sogenannte Sechs Sätze und Pelagius selbst seine Schrift De Natura (Über die Natur) veröffentlichte.
Weil diese Lehre die Freiheit des menschlichen Willens und darin eingeschlossen die Möglichkeit eines sittlich-vollkommenen Lebens mit der Erbsündenlehre des Augustinus kollidierte und damit auch die Notwendigkeit der Säuglingstaufe bestritt, ließ Augustinus Pelagius und Caelestius bereits 411 von einer Synode in Karthago als Häretiker verurteilen.
Als Augustinus erfuhr, dass Pelagius im Osten versuchte, wieder in die Kirche aufgenommen zu werden, wandte er sich 415 an Hieronymus, um durch dessen Unterstützung eine Verurteilung der pelagianischen Lehre auch im Osten zu erreichen. Trotz Hieronymus’ Bemühungen trat das Gegenteil ein: Eine Synode unter Vorsitz des Bischofs von Jerusalem rehabilitierte Pelagius und Caelestius. Später rechtfertigten die griechischsprachigen Bischöfe Palästinas ihre Entscheidung damit, sie hätten die auf Latein vorgebrachten Vorwürfe der afrikanischen Bischöfe nicht recht verstanden. Augustinus sorgte jedenfalls dafür, dass zwei nordafrikanische Regionalsynoden nochmals die Lehren sowohl des Pelagius wie auch des Caelestius verurteilten.
Nach der Verurteilung des Pelagianismus durch Papst Zosimus widmete sich Augustinus im Jahre 418 erneut der pelagianischen Lehre von Sünde und Gnade und verfasste die Schrift De gratia Christi et de peccato originali. Sein bedeutendster, ihm rhetorisch wie intellektuell mindestens ebenbürtiger und oft sogar überlegen wirkender Gegenspieler in dieser Auseinandersetzung war der Bischof Julianus von Eclanum, der sich geweigert hatte, die von Papst Zosimus gegen Pelagius verfasste Epistola Tractatoria zu unterzeichnen, und deswegen abgesetzt wurde. Die Autorität des Augustinus bewirkte allerdings, dass weitere lokale Synoden die pelagianischen Lehren verurteilten, bis schließlich mit dem Konzil von Ephesos (431) der Pelagianische Streit mit einer endgültigen Verurteilung dieser Lehre beendet wurde.
Eine Modifikation des Pelagianismus, die jedoch die Lehrverurteilungen des Konzils von Ephesos berücksichtigte, wurde als Semipelagianismus, als halber Pelagianismus, bekannt. Wegen semipelagianischer Lehren hatte Augustinus schon den Mönchsvater Johannes Cassianus (um 360–435) angegriffen und sich gegen Thesen in dessen Schrift De incarnatione Christi contra Nestorium gewandt. Die semipelagianischen Lehren wurden zwar knapp 100 Jahre später auf der Synode von Orange (529) verurteilt, blieben jedoch in der Kirche Galliens und insbesondere Irlands – und von dort aus in der iro-schottischen Mission – als unterschwelliger Einfluss noch in den folgenden Jahrhunderten erhalten.
Folgen, Wirkungsgeschichte und Kritik
Augustinus sah sich durch die Auseinandersetzungen veranlasst, seine Gnadenlehre weiter zu entfalten. Dies geschieht vor allem in den Schriften Von der Sünden Lohn und von der Vergebung und der Kindertaufe und Vom Geist und vom Buchstaben.
Die meisten Reformatoren, insbesondere Johannes Calvin (1509–1564) in seiner Institutio, betonten den Fall, den Fluch und die völlige Verdorbenheit des Menschen im Anschluss an Augustinus und verwarfen den Pelagianismus. In Anlehnung an die biblischen Aussagen sprachen sie weniger von der Erbsünde als von Befleckung mit der Sünde von Geburt an und von der Trennung von Gott als dem geistlichen Tod.
Der deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) ging mit seinem sittlichen Ideal und dem kategorischen Imperatif weit über den Pelagianismus und den Sozinianismus hinaus. Die praktische Vernunft ermögliche die menschliche Autonomie und Freiheit ohne Einschränkung und schliesse jeden Gnadeneinfluss aus.
Gegen die Doktrin der Erbsünde wandte sich der Evangelist der Heiligungsbewegung Charles Grandison Finney (1792–1875) und verbreitete erneut eine tendenziell pelagianische Sichtweise. Er meinte, dass die Menschen frei wählen können und sich für oder gegen Gott entscheiden können. Dagegen stellte sich im 20. Jahrhundert der evangelikale Anglikaner James I. Packer und nannte den Pelagianismus die natürliche Häresie eifriger Christen, die an Theologie kein Interesse hätten.
Papst Franziskus verwendete im Jahr 2018 den Begriff Neu−Pelagianismus um aufzuzeigen, dass viele Menschen im Westen des 21. Jahrhunderts dank den kulturellen Errungenschaften und den wissenschaftlichen Erkenntnissen den Eindruck hätten, ihr Leben bewusst und glücklich auch ohne Gott gestalten zu können und eine Art Selbsterlösung anzustreben.
Die englische Spezialistin für mittelalterliche Geschichte, Ali Bonner, bezeichnete im Jahr 2022 den Pelagianismus als einen Mythos, da griechische Autoren lange vor Pelagius diese Lehren entwickelt und aufgeschrieben hätten. Es bestehe eine große Diskrepanz zwischen den Vorwürfen von Augustinus und dem Inhalt von Pelagius‘ Schriften. Von den 14 falschen Lehrpunkten, die Augustinus ihm vorhielt, finde man in den Schriften des Pelagius etwa nur die Hälfte. Denn Pelagius habe kein neues Lehrsystem erfunden, sondern Augustinus habe ihn anstelle griechischer Kirchenväter der Häresie beschuldigt und an ihm seine Überlegenheit, Stärke und Einfluss demonstriert.
Literatur
Quellen
- A. Augustinus: Schriften gegen die Pelagianer; hrsg. von S. Kopp u. a.; Würzburg 1955 ff.
- A. Bruckner (Hrsg.): Die vier Bücher Julians von Aeclanum an Turbantius. Ein Beitrag zur Charakteristik Julians und Augustins; Neue Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche, 8; Berlin 1910.
Sekundärliteratur
- Marc Bergermann: Historia Pelagiana. Wahrnehmung und Darstellung des pelagianischen Streites in der protestantischen Kirchenhistoriographie des 18. Jahrhunderts, Mohr Siebeck, Tübingen 2021, ISBN 978-3-16-159070-2.
- Ali Bonner: The Myth of Pelagianism. Oxford University Press, Oxford 2018, ISBN 978-0-19-726639-7.
- G. Bonner: Augustine and modern research on Pelagianism; Villanova 1972.
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- Volker Henning Drecoll: Pelagianismus – eine konstruierte Häresie? Ein Forschungsbericht, in: Historische Zeitschrift, 18, 2023.
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Weblinks
- Der Mythos des Pelagianismus, Dr. Flowers im Gespräch mit Dr. Ali Bonner, Website apologia.info 18. Februar 2022 (abgerufen am 11. September 2023).
- Pelagianismus, Website heiligenlexikon.de (abgerufen am 11. September 2023).
- Catholic Encyclopedia: Pelagius and Pelagianism (englisch, abgerufen am 11. September 2023).
- Gisbert Greshake: Pelagianismus, Semipelagianismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie online (doi:10.24894/HWPh.2978, abgerufen am 13. September 2023).
- Metzler Lexikon Philosophie: Pelagianismus, Website spektrum.de (abgerufen am 11. September 2023).
Einzelnachweise
- ↑ Johannes Calvin: Die Übertragung der Sünde von einer Generation zur nächsten (Institutio 2-01-07); Die erste Sünde als Erbsünde (Institutio 2-01-05), Website calvinismus.ch 2009–2012 (abgerufen am 13. September 2023)
- ↑ Emil Höhne: Darstellung und Beurteilung des Kantschen Pelagianismus, Forgotten Books, 2018, ISBN 978-1-334-29464-8
- ↑ Hanniel: Standpunkt: Wir leiden unter dem pelagianischen Menschenbild, Website hanniel.ch 4. Juni 2015 (abgerufen am 13. September 2023)
- ↑ Stichwort: Neu-Pelagianismus und Neu-Gnostizismus Website domradio.de (abgerufen am 11. September 2023)
- ↑ Der Mythos des Pelagianismus, Dr. Flowers im Gespräch mit Dr. Ali Bonner, Website apologia.info 18. Februar 2022 (abgerufen am 11. September 2023)
- ↑ https://doi.org/10.1515/hzhz-2023-0018