Pflicht (englisch duty) oder Rechtspflicht (englisch legal obligation) sind im Recht die einem Rechtssubjekt durch Rechtsnormen oder Vertrag auferlegten Verhaltensregeln.

Allgemeines

Pflicht und Rechtspflicht sind Rechtsbegriffe, die im Recht sehr häufig vorkommen, alleine als Pflicht oder als Wortbestandteil im BGB 945 Mal, im EStG 701 Mal oder im HGB 292 Mal. Der Philosoph Immanuel Kant bezeichnete 1798 die rechtliche Pflicht als die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung vor dem Gesetz. Die Rechtspflicht ist dem Rechtswissenschaftler Hans Kelsen zufolge die primäre und eigentliche subjektive Erscheinungsform des Rechts.

Die wesentliche Funktion eines Rechtssatzes besteht darin, dass er eine Rechtspflicht statuiert. Rechtspflicht ist die vom Recht einem Rechtssubjekt auferlegte Pflicht zu einem Tun, Dulden oder Unterlassen. Der die Pflicht Übernehmende hat sein Verhalten so einzurichten, wie es ihm vorgeschrieben wird. Sie ist ein von der Rechtsordnung an Personen gerichteter und von diesen zu befolgender Befehl. Dabei ist das Ziel der Rechtsordnung nicht der Gehorsam des Pflichtigen, sondern die Herstellung des gewünschten Zustandes. Bestimmte Sachverhalte werden im Gesetz als unerwünscht beschrieben, werden sie dennoch verwirklicht, droht eine Rechtsfolge. Zur Vermeidung der Rechtsfolge sollen die Normadressaten gezwungen werden, das unerwünschte Verhalten zu unterlassen.

Etymologie und Geschichte

Das Wort Pflicht ist bei Notker III. um das Jahr 1000 als althochdeutsch „phliht(e)“ bezeugt. In heutiger Schreibweise erschien das Wort ersichtlich erstmals 1454 im Lehnsrecht des Sachsenspiegels. Josua Maaler wies 1561 unter dem Stichwort Pflicht auf „Pflicht und Amt“ hin, allerdings kam die Amtspflicht erstmals 1691 bei Kaspar von Stieler vor. Samuel von Pufendorf gilt als Begründer der Pflichtenlehre, die er 1672 entwickelte und dabei davon ausging, dass Rechte für das Individuum nur im Rahmen der Pflichtenbindung bestehen und zur Erfüllung der Pflichten dienen. Das Wort Rechtspflicht tauchte erstmals 1705 bei Christian Thomasius auf, der zwischen der sittlichen Pflicht („Gewissenspflicht“) und der Rechtspflicht trennte. Rechtsbindung entstand für ihn durch äußeren Zwang (lateinisch obligatio externa). Er vereinte eine als Rechtspflicht gedachte Pflicht durch die Unterscheidung zwischen innerer (moralischer) und äußerer (rechtspositiver) Verbindlichkeit von Recht dergestalt, dass nicht mehr eine innere Bindung, sondern dass alleine eine an den konkreten Rechtsbefehl maßgeblich sein könne. Seit 1796 Johann Gottlieb Fichte die Rechtspflicht wieder aufgriff, ist das Wort Pflicht Bestandteil vieler Komposita wie der vertragstypischen Hauptleistungspflicht, Nebenleistungspflicht, Nebenpflicht, Pflichtteil, Sorgfaltspflicht, Pflichtverletzung oder Pflichtverteidiger. Kant differenzierte 1797: „Pflicht ist diejenige Handlung, zu welcher jemand verbunden ist“, die Rechtspflicht ist Kant zufolge diejenige, „zu deren Leistung man gezwungen werden kann“.

Im Jahre 1912 verneinte der Philosoph Julius Binder die Existenz einer Pflicht, denn „die Pflicht ist kein juristischer Begriff“. Er benutzte anstatt dessen das Wort Haftung. Aus der Pflicht leitet sich auch der Rechtsbegriff der Verpflichtung ab, ein gebunden sein an eine Pflicht.

Rechtspflicht

Ob Pflicht und Rechtspflicht im Rechtssinne inhaltlich übereinstimmen, ist in der Fachliteratur umstritten. Rechtsnormen jedenfalls differenzieren bei beiden Rechtsbegriffen nicht. Die „Anerkennungstheorien“ gehen davon aus, dass die Verbindlichkeit des Rechts aus der Anerkennung, Achtung oder Billigung der Rechtsnormen durch die Rechtssubjekte stammt. Aus Sicht des Rechtssubjekts heißt die Bindung durch Normen Rechtspflicht, aus Perspektive der Normen Rechtsgeltung. Unter Rechtspflicht versteht man alle durch Rechtsnormen auferlegte Verhaltensregeln für die hiervon betroffenen Normadressaten. Rechtspflicht ist die zu einem bestimmten Verhalten gebietende Rechtsnorm. Eine Rechtspflicht kann bestehen, ohne dass eine moralische Pflicht besteht. Jeder Rechtspflicht steht ein Recht gegenüber. „Eine Rechtspflicht hat daher immer auch eine Unrechtsunterlassung zum Gegenstand“. Von Rechtspflicht sprechen wir, wenn eine zivilrechtliche Konfliktentscheidung ein bestimmtes Verhalten als gesollt bezeichnet und zur Durchsetzung dieses Verhaltens Zwang zur Verfügung stellt. Eine Pflicht kann damit zugleich Pflicht aufgrund guter Sitte und Rechtspflicht sein, etwa die Pflicht zur Erfüllung eines Vertrages. Nach Kant entsprechen die vollkommenen Pflichten den Rechtspflichten, die unvollkommenen den Tugendpflichten.

Pflichten in einzelnen Rechtsgebieten

Beispielhaft werden die Rechtsgebiete Zivilrecht, Strafrecht und öffentliches Recht aufgeführt.

Zivilrecht

Staatliche Verhaltenssteuerung erfolgt auch mittels Privatrecht. Häufig gewährt das Recht nicht nur Rechte, sondern auch korrespondierende Pflichten Dritter, welche den Kernbestand dieser Rechte schützen sollen. Im Schuldrecht wird die Rechtspflicht als Verbindlichkeit bezeichnet. Im Regelfall resultieren aus einem Schuldverhältnis Leistungspflichten, wobei die eine Leistung fordernde Partei Gläubiger heißt und die eine Leistung erbringende Partei Schuldner genannt wird. Aus dem Schuldverhältnis ist somit der Gläubiger berechtigt, vom Schuldner eine Leistung zu fordern (§ 241 Abs. 1 Satz 1 BGB). Der schuldrechtliche Anspruch des Gläubigers wird im Gesetz als Forderung bezeichnet, mit ihr korrespondiert die Verbindlichkeit des Schuldners, einer Pflicht zur Gegenleistung. Verletzt der Schuldner seine Leistungspflicht, so kann der Gläubiger Ersatz des hierdurch entstandenen Schadens verlangen. Dies gilt nicht, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat.

Meist umfasst ein Schuldverhältnis mehrere Leistungspflichten. Beim Kaufvertrag wird beispielsweise in § 433 Abs. 1 BGB der Verkäufer einer Sache verpflichtet, dem Käufer die Sache zu übergeben und ihm das Eigentum an der Sache zu verschaffen. In § 433 Abs. 2 BGB schließlich wird der Käufer verpflichtet, dem Verkäufer den vereinbarten Kaufpreis zu zahlen und die gekaufte Sache abzunehmen. Diesen Pflichten einer Vertragspartei stehen die korrespondierenden Ansprüche der anderen Vertragspartei gegenüber. Pflicht und Anspruch sind die subjektiv-rechtlichen Ausprägungen einer Gesetzesnorm, so dass letztlich gilt: kein Anspruch ohne Rechtspflicht. Der Anspruch ist stets mit einer Pflicht verbunden; es gibt jedoch auch Rechtspflichten ohne korrespondierende Ansprüche, sie kommen im öffentlichen Recht und Staatsrecht häufig vor (unvollkommene Pflichten). Anspruch und Pflicht sind korrespondierende Begriffe, die jedoch nicht kongruent sind. Deshalb kann vom Bestehen einer (Unterlassungs-)Pflicht nicht auf einen korrespondierenden Anspruch geschlossen werden.

Strafrecht

Im Strafrecht kennt man Pflichtdelikte, bei denen die Verletzung einer außerstrafrechtlichen Pflicht im Vordergrund steht. Es handelt sich um Straftatbestände mit einer Täterschaft, bei welcher jemand die ihm aus seiner sozialen Rolle erwachsende Pflicht missbraucht oder vernachlässigt und hierdurch eine tatbestandsmäßige Rechtsgüterverletzung herbeiführt. Beispiele sind Verstöße gegen familienrechtliche Pflichten (§§ 170, § 171, § 221 Abs. 1 Nr. 2 oder § 225 StGB) oder § 326 Abs. 1 und 2 oder § 339 StGB. So bedroht § 170 Abs. 1 StGB jemand mit Strafe, wenn er sich einer gesetzlichen Unterhaltspflicht entzieht, so dass der Lebensbedarf des Unterhaltsberechtigten gefährdet ist oder ohne die Hilfe anderer gefährdet wäre. Letzten Endes kann jedes Delikt als Pflichtdelikt angesehen werden, denn hinter jedem strafrechtlichen Verbot steht das Gebot, sich auf bestimmte Art und Weise zu verhalten. Damit beruht das Strafrecht allgemein auf dem Gedanken, dass jedermann zu einer bestimmten Verhaltensweise verpflichtet ist.

Im Strafrecht ist die Rechtspflicht auf ein bestimmtes Verhalten gerichtet und dem als Imperativ zu verstehenden gesetzlichen Tatbestand zu entnehmen („Du sollst nicht…“). Jeder hat die Pflicht, bestimmte Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu vermeiden. Den Tatbestand der Tötung (§ 222 StGB) hat der Täter verwirklicht, wenn er die Pflicht, den Tod anderer Menschen zu vermeiden, verletzt hat. Handelte er dagegen in Notwehr (§ 32 StGB), liegt keine Pflichtverletzung vor, weil die Pflicht, den Tod anderer zu vermeiden, in der Notwehrsituation begrenzt ist. Wo jedoch keine Pflicht besteht, etwas Bestimmtes zu tun, kann bloßes Nichtstun nicht strafbar sein.

Eine Pflichtenkollision liegt vor, wenn sich mindestens zwei gleich bedeutsame Pflichten gegenüber stehen. Der Verpflichtete muss sich in diesem Fall für eine der beiden Pflichten entscheiden, denn die Erfüllung einer Pflicht bedeutet die Verletzung anderer Pflichten. Nach den Grundsätzen der rechtfertigenden Pflichtenkollision handelt ein Täter nicht rechtswidrig, wenn er bei rangverschiedenen Pflichten die höherrangige auf Kosten der zweitrangigen Pflicht oder bei gleichwertigen Pflichten eine von beiden erfüllt. Denn der Normadressat kann nicht beide Handlungspflichten zugleich erfüllen. Wird beispielsweise bei der unterlassenen Hilfeleistung nach § 323c Abs. 1 StGB die Hilfeleistungspflicht temporär durch eine „andere wichtige Pflicht“ verdrängt, so lebt die Hilfeleistungspflicht erst bei Erfüllung der anderen Pflicht wieder auf.

Öffentliches Recht

Öffentliche Pflichten können auch der Staat und seine öffentliche Verwaltung untereinander oder gegenüber Bürgern haben. Das trifft insbesondere auf öffentliche Aufgaben zu, deren Erfüllung mit einer öffentlichen Pflicht verbunden ist. So besteht beispielsweise die Pflicht zur Zahlung des Beamtengehalts, zur Erstattung überzahlter Steuern oder zur Zahlung einer Enteignungsentschädigung (vermögensrechtliche Pflichten). Außerdem gibt es nicht-vermögensrechtliche öffentliche Pflichten wie die Zulassung öffentlicher Straßen und Wege zum Gemeingebrauch, die Durchführung von Wahlen oder die Erteilung von Erlaubnissen oder Genehmigungen unter bestimmten Voraussetzungen. Der Erlass von Verwaltungsakten begründet meist auch öffentliche Pflichten. Umgekehrt unterliegt der Bürger etwa einer Steuerpflicht, Beamte einer Dienstpflicht gegenüber ihrem Arbeitgeber.

Die Hilfe zum Lebensunterhalt im SGB XII statuiert durch den Vorrang der Selbsthilfe vor der öffentlichen Sozialhilfe eine Pflicht des Hilfesuchenden zu jeder zumutbaren Selbsthilfe (etwa § 2 Abs. 1 SGB XII). Dies bedeutet, dass nicht nur für jedermann die Verpflichtung besteht, unabhängig von Sozialhilfe zu leben bzw. wieder von ihr unabhängig zu werden, sondern auch die Verpflichtung, die erforderliche Sozialhilfe so niedrig wie möglich zu halten.

Rechtsfolgen

Im Falle der Pflichtverletzung drohen dem Normadressaten Sanktionen, denn der Gesetzgeber kann sein mit Pflichten versehenes zwingendes Recht glaubhaft nur durchsetzen, wenn bei Verstößen auch Rechtsfolgen drohen. Während im Zivilrecht meist der Schadensersatz gemäß § 280 BGB vorgesehen ist, drohen im Strafrecht Strafen (Geld- oder Gefängnisstrafen), im Sozialrecht drohen bei Pflichtverletzungen nach § 31 SGB II die in § 31a SGB II genannten Rechtsfolgen (beispielsweise Minderung des Arbeitslosengeld II).

Einzelnachweise

  1. Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten. 2. Teil, 1798, S. AA IV 379.
  2. Hans Kelsen: Werke: Veröffentlichte Schriften 1911. Band 2/Halbband 1, 1911, S. 435 f. (books.google.de).
  3. Hans Möller, Gerrit Winter, Ernst Bruck: Kommentar zum Versicherungsvertragsgesetz. 1988, S. 630 (books.google.de).
  4. Ludwig Enneccerus, Hans Carl Nipperdey: Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts. Band I, 1959, S. 443.
  5. Eike von Repgow: Des Sachsenspiegels 2. Theil. 1. Band, 1454, Art. 80, § 2.
  6. Ulrike Köbler: Werden, Wandel und Wesen des deutschen Privatrechtswortschatzes. 2010, S. 323 ff.
  7. Samuel von Pufendorf: De iure naturae et gentium libri VIII. 1672, S. 44
  8. Christian Thomasius: Fudamenta iuris naturae. 1705, S. 150
  9. Hans-Ludwig Schreiber: Der Begriff der Rechtspflicht: Quellenstudium zu seiner Geschichte. 1966, S. 149 f.
  10. Johann Gottlieb Fichte: Volk und Staat. 1796, S. 43.
  11. Preußische Akademie der Wissenschaften: Kants gesammelte Schriften. Band VI, 1907, S. 222.
  12. Preußische Akademie der Wissenschaften: Kants gesammelte Schriften. Band VI, 1907, S. 220.
  13. Julius Binder: Rechtsnorm und Rechtspflicht. 1912, S. 45.
  14. Anton Leist: Moral als Vertrag?: Beiträge zum moralischen Kontraktualismus. 2003, S. 46.
  15. Wolfgang Kersting: Wohlgeordnete Freiheit. 1984, S. 76.
  16. Jan Schapp: Über Freiheit und Recht. 2008, S. 57.
  17. Immanuel Kant: Vorlesung Moral-Mrongovius II. 1784/1785, S. 618.
  18. Alexander Hellgardt: Regulierung und Privatrecht. 2016, S. 342.
  19. Jürgen Schwabe: Grundkurs Staatsrecht. 1995, S. 10 (books.google.de).
  20. Claus Roxin: Täterschaft und Tatherrschaft. 1967, S. 354 Fn. 2
  21. Claus Roxin: Pflichtdelikte und Tatherrschaft. In: Roland Hefendehl, Tatjana Hörnle, Luís Greco (Hrsg.): Festschrift für Bernd Schünemann zum 70. Geburtstag am 1. November 2014. 2014, S. 522 (books.google.de).
  22. Stefan Arnold: Untreue im GmbH- und Aktienkonzern. 2006, S. 13 (books.google.de).
  23. Harro Otto: Grundkurs Strafrecht. 2004, S. 45 (books.google.de).
  24. Harro Otto: Grundkurs Strafrecht. 2004, S. 156.
  25. Johannes Wessels, Werner Beulke: Strafrecht, Allgemeiner Teil. 2009, S. 284 (books.google.de).
  26. Eberhard Schmidhäuser, JZ 1955, S. 437 f.
  27. Hans Peters: Lehrbuch der Verwaltung. 1949, S. 144 (books.google.de).
  28. Günter Püttner: Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis. Band 4, 1983, S. 345.

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