Ruth Johnson Colvin (* 16. Dezember 1916 in Chicago, Illinois als Ruth Johnson), mitunter auch kürzer Ruth J. Colvin oder Ruth Colvin, ist eine US-amerikanische Aktivistin gegen Analphabetismus und Autorin. Für ihr ehrenamtliches Engagement erhielt sie 2006 die Presidential Medal of Freedom.

Leben und Wirken

Geboren 1916 in Chicago, war Johnson das älteste von fünf Geschwistern. Ihr Vater starb bereits im Alter von 38 Jahren. Sie selbst machte zunächst 1936 am Thornton Junior College in Harvey einen Associate Degree in Betriebswirtschaftslehre, danach ging sie an das Moser Business College in Chicago und an die Northwestern University in Evanston, wo sie ebenfalls Betriebswirtschaftslehre studierte. Dort lernte sie auch ihren Ehemann Robert „Bob“ Colvin kennen, einen späteren Verkaufsleiter und Unternehmensmanager in der Chemieindustrie. Nach der Hochzeit 1940 ließen die beiden sich zunächst für kurze Zeit in Seattle im Bundesstaat Washington nieder, ehe sie noch im selben Jahr nach Syracuse in den Bundesstaat New York zogen. An der örtlichen Syracuse University machte Colvin 1959 einen Abschluss in Betriebswirtschaftslehre.

1961 las sie in einem Zeitungsartikel über die hohe Analphabetenquote in ihrer Heimat; laut Zensus waren 1960 knapp 11.000 der etwa 423.000 Einwohner des Onondaga County funktionale Analphabeten. Colvin beschloss dagegen vorzugehen. Mit Hilfe einiger Experten der Syracuse University entwickelte sie in den folgenden Monaten Methoden, Materialien und Programme, um Alphabetisierungskurse anbieten zu können. Die Kooperation mit ihrer Alma Mater blieb in den nächsten Jahrzehnten bestehen. Colvin stellte die Perspektive der Lerner in den Mittelpunkt und versuchte, sie auch in die Gestaltung der Kursinhalte einzubinden. So plädierte sie dafür, möglichst viele Sprachbeispiele aus dem Alltagsleben der Lerner zu nehmen, also anhand vertrauter Sätze das Schreiben und Lesen zu vermitteln. Von vornherein versuchte sie, für ihre Kurse weitere Tutoren auszubilden. Des Weiteren betonte sie, wie wichtig es sei, Personen aus den lokalen Gemeinden als Tutoren zu gewinnen. Auch einige Absolventen der Alphabetisierungskurse konnte Colvin später als Tutoren gewinnen. Keimzelle der praktischen Alphabetisierungsarbeit war zu Beginn die lokale Syracuser Ortsgruppe der Church Women United. Zunächst wollte sich Colvin nur auf ihre Heimatstadt konzentrieren, ihre Arbeit weitete sich aber nach und nach immer mehr aus.

Zwei Jahre später übernahm ein eigens eingerichtetes Komitee der Church Women United im Bundesstaat New York die organisatorische Verantwortung auf bundesstaatlicher Ebene. 1967 wurde Colvins Projekt schließlich mit der Gründung von Literacy Volunteers formalisiert. 1972 wandelte sie ihre Organisation in die US-weite Literacy Volunteers of America um, während die örtliche und regionale Arbeit unter dem Namen LiteracyCNY („CNY“ für Central New York) fortgesetzt wurde. Zusätzlich war sie Mitbegründerin der National Coalition for Literacy, einer gesamtstaatlichen Lobbyorganisation zur Unterstützung der Alphabetisierung. Später expandierte die Organisation auch ins Ausland. Gemeinsam mit ihrem Ehemann gab sie in 60 verschiedenen Ländern Alphabetisierungskurse; von 1978 bis 2001 verbrachten die beiden dazu jedes Jahr drei Monate im Ausland. Dort arbeitete sie unter anderem an Alphabetisierungskursen in lokalen Sprachen und beriet entsprechende Freiwilligenorganisationen bei ihrer Arbeit. Diese Reisen führten sie unter anderem nach Madagaskar, Papua-Neuguinea, Guatemala und Somalia.

2002 schloss sich ihre Organisation mit der Laubach Literacy International zu ProLiteracy zusammen. ProLiteracy gründete 2010 in Syracuse das Ruth J. Colvin Center als Forschungs- und Entwicklungszentrum für Alphabetisierung. 2018 besuchten über 100.000 Personen Kurse von ProLiteracy. Sowohl bei LiteraryCNY als auch bei ProLiterary ist Colvin Ehrenmitglied des Board of Directors. Sie schrieb mehrere Bücher über Alphabetisierung; ihre Methodik- und Materialhandbücher Tutor und I Speak English gelten als Standardwerke für Alphabetisierungskurse oder Fremdsprachenunterricht in Englisch.

Colvin, Mitglied einer presbyterianischen Kirche, war über 73 Jahre mit ihrem Ehemann verheiratet, bis er 2014 im Alter von 99 Jahren starb. Sie waren Eltern zweier Kinder und hatten sechs Enkelkinder und mehrere Urenkel. Zu ihrem 100. Geburtstag 2016 gratulierte ihr auf Betreiben des Sycracuser Abgeordneten John Katko unter anderem das Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten. Katko würdigte die Verdienste von Colvin, die „tausenden Personen“ das Lesen beigebracht und mit ihrer Arbeit das Fundament für zahlreiche weitere Alphabetisierungskurse gelegt habe. 2020 veröffentlichte sie mit 103 Jahren ihre Autobiografie. Eine Sammlung von Unterlagen und Dokumenten von Colvin ist unter dem Namen Ruth Colvin Papers Teil der Bibliothek der Syracuse University.

Auszeichnungen

Colvin erhielt mindestens zehn Ehrendoktortitel. Nicht alle dieser Ehrendoktorwürden lassen sich einer Universität zuordnen; die nachfolgende Liste ist in dieser Hinsicht also unvollständig und umfasst nur zuzuordnende Ehrendoktorwürden.

Werke (Auswahl)

  • mit Jane H. Root: Tutor: Techniques Used in the Teaching of Reading. a Handbook for Teaching Basic Reading to Adults and Teenagers. Follett Publishing Company, Westchester 1972, OCLC 967602474.
  • I Speak English: A Tutor’s Guide to Teaching Conversational English. Literacy Volunteers of America, Syracuse 1976, OCLC 425829739.
  • Off the Beaten Path: Stories of People Around the World. Syracuse University Press, Syracuse 2011, ISBN 978-0-8156-0993-3.
  • My Travels Through Life, Love, and Literacy – a Memoir: A Journey Over 100 Years in the Making. New Readers Press, Syracuse 2020, ISBN 978-0-88336-053-8.
Commons: Ruth Johnson Colvin – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. 1 2 3 4 5 6 7 8 Zharia Jeffries: Full of life at 103: CNY literacy pioneer Ruth Colvin pens her 12th book. syracuse.com, 13. September 2020, abgerufen am 10. Dezember 2022 (englisch).
  2. 1 2 3 Le Moyne Selects ProLiteracy Founder Ruth Colvin as 2018 Commencement Speaker. In: lemoyne.edu. Le Moyne College, 14. Februar 2018, abgerufen am 10. Dezember 2022 (englisch).
  3. 1 2 Jo Fredell Higgins: Ruth Colvin’s objective: Teach literacy worldwide. In: thevoice.us. The Voice, 29. September 2020, abgerufen am 10. Dezember 2022 (englisch).
  4. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 Ruth Johnson Colvin. In: nysenate.gov. Senat von New York, 11. Mai 2016, abgerufen am 10. Dezember 2022 (englisch).
  5. 1 2 David Marc: High Honors. In: Syracuse University Magazine. Band 24, Nr. 1, 2007, S. 22–23 (syr.edu).
  6. Ruth Johnson Colvin. In: wisconsinliteracy.org. Wisconsin Literacy, abgerufen am 10. Dezember 2022 (englisch).
  7. 1 2 3 Ruth J. Colvin. (Nicht mehr online verfügbar.) In: proliteracy.org. ProLiteracy, archiviert vom Original am 21. Juli 2011; abgerufen am 10. Dezember 2022 (englisch).
  8. Ruth Colvin. In: womenofthehall.org. National Women’s Hall of Fame, abgerufen am 10. Dezember 2022 (englisch).
  9. 1 2 Ruth Colvin Papers. In: library.syracuse.edu. Syracuse University Libraries, abgerufen am 10. Dezember 2022 (englisch).
  10. 1 2 Tammy DiDomenico: Reading Rainbow. (Nicht mehr online verfügbar.) In: syracusenewtimes.com. Syracuse New Times, 7. März 2012, archiviert vom Original am 3. Februar 2013; abgerufen am 10. Dezember 2022 (englisch).
  11. An Inspired Workplace. In: proliteracy.org. ProLiteracy, abgerufen am 10. Dezember 2022 (englisch).
  12. Recognizing the 100th Birthday of Ruth Johnson Colvin. In: govinfo.gov. U.S. Government Publishing Office, abgerufen am 10. Dezember 2022 (englisch).
  13. 1 2 3 Literacy Pioneer Ruth Colvin Turns 100, Receives Tolley Medal. In: soe.syr.edu. Syracuse University School of Education, 12. Dezember 2016, abgerufen am 10. Dezember 2022 (englisch).
  14. President Bush honors literacy pioneer with Medal of Freedom. (Nicht mehr online verfügbar.) In: hws.edu. Hobart and William Smith Colleges, 21. Dezember 2006, archiviert vom Original am 25. Oktober 2021; abgerufen am 10. Dezember 2022 (englisch).
  15. Commencement, from the horse's mouth. In: skidmore.edu. Skidmore College, 2008, abgerufen am 10. Dezember 2022 (englisch).
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