In Nigeria ist die Scharia in zwölf nördlichen Bundesstaaten Grundlage der Legislative, der Exekutive und der Judikative. Die Wiedereinführung erfolgte zwischen 1999 und 2001 unter Berufung auf die in der nigerianischen Verfassung verankerte Religionsfreiheit und war mit einem Konflikt zwischen verschiedenen militanten Gruppen, Vertretern religiöser Gruppierungen und der Regierung Nigerias verbunden. Der Konflikt entzündete sich an der Forderung von muslimischer Seite, die Scharia als Hauptquelle der Gesetzgebung im gesamten Land einzuführen. Außer den zwölf nördlichen Staaten hat jedoch kein anderer Staat diese Forderung erfüllt.
Die Staaten, in der die Scharia eingeführt wurde
In folgenden 9 Bundesstaaten wurde die Scharia eingeführt:
- Zamfara (27. Januar 2000)
- Kano (21. Juni 2000)
- Sokoto
- Katsina
- Bauchi (Juni 2001)
- Borno
- Jigawa
- Kebbi
- Yobe
In folgenden Bundesstaaten gilt die Scharia für Gebiete mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung:
Hintergrund
Religionsgraphie Nigerias
Nach einer demografischen Schätzung Nigerias machen Muslime über 50 % der Bevölkerung aus. Sie leben überwiegend im nördlichen Teil des Landes. Die Mehrheit der nigerianischen Muslime sind Sunniten. Christen sind die zweitgrößte religiöse Gruppe und machen danach etwa 40 % der Bevölkerung aus. Sie herrschen in der Mitte und dem Süden des Landes vor, während Anhänger anderer Religionen ca. 10 % der Bevölkerung ausmachen. Allein das Pew Forum sieht die Christen mit 50,8 % als hauchdünne absolute Mehrheit.
Geschichte des Islamischen Rechts in Nordnigeria
Historischer Ausgangspunkt für den Scharia-Konflikt war die Außerkraftsetzung des Islamischen Rechts in Nordnigeria durch die Native Justice Ordinance von 1933 und den Penal Code von 1959, der bei der Entlassung Nigerias in die Unabhängigkeit 1960 in den nördlichen Landesteilen eingeführt wurde. Allein im personenstandsrechtlichen Bereich wurde das islamische Recht beibehalten. Die Einführung des Penal Codes, der auf säkularem Recht basierte, erfolgte in Reaktion auf die Sorgen der nicht-muslimischen Bevölkerung von Nordnigeria, die durch den Minorities Commission Report von 1956 größere Aufmerksamkeit erhalten hatten.
Schon seit den 1970er Jahren erhoben Islamisten Forderungen nach Wiedereinführung der Scharia, so unter anderem die Izala-Bewegung. Als eine Reaktion darauf führten ab 1999 neun Bundesstaaten mit muslimischer Mehrheit sowie Provinzen von drei Muslim-Staaten die Scharia als einen Hauptteil des Zivil- und Strafrechts ein.
Scharia-Praxis
Im Jahr 2002 fand die erste Hinrichtung eines Menschen unter der Scharia in Katsina statt; Human Rights Watch und Amnesty International verurteilten die Hinrichtung.
Im Jahr 2002 wurde Amina Lawal, eine alleinerziehende Mutter in Katsina, des Ehebruchs angeklagt und von einem bundesstaatlichen Scharia-Gericht wegen der „Empfängnis eines Kindes außerhalb der Ehe“ zum Tode durch Steinigung verurteilt. Der Vater wurde aus Mangel an Beweisen freigelassen. Das Urteil sorgte sowohl in Nigeria als auch im Westen für Empörung. Viele nationale und internationale NGOs und die nigerianische Bundesregierung wollten das Urteil annullieren. Im Jahr 2004 wurde das Urteil von einem Scharia-Berufungsgericht aufgehoben.
Scharia-Konflikt
Unruhen im Zusammenhang mit der Einführung der Scharia
Den Unruhen von 1999, 2000 und 2001 waren Ausschreitungen zwischen Christen und Muslimen in Jos über die Ernennung des muslimischen Politikers Alhaji Muktar Mohammed zum örtlichen Koordinator eines Bundesarmutsbekämpfungsprogramms vorausgegangen. Die Zusammenstöße begannen am 7. September und dauerten fast zwei Wochen. Sie endeten am 17. September. Über 1000 Menschen wurden im Rahmen der Konflikte getötet.
Einen Brennpunkt der Konflikte bildet die zentralnigerianische Provinz Plateau. 2001 kam es immer wieder zu Zusammenstößen, die mehr als 1000 Menschen das Leben gekostet haben. Erhard Kamphausen von der Missionsakademie der Universität Hamburg sprach von einer „geistlichen Kriegführung“ in muslimischen Kerngebieten. Auch der Nachrichtendienst State Security Service spielt eine Rolle in dem Konflikt. Bartholomäus Grill wies dagegen auf die zunehmende Missionstätigkeit fundamentalistischer Christen insbesondere im Norden des Landes hin, die die Spannungen ebenso erhöhten. Bislang sind 10.000 Opfer zu verzeichnen.
Auch gab es zahlreiche Unruhen über die Umsetzung der Scharia, die in erster Linie gegen nicht-muslimische Minderheiten implementiert wurde. Bei einem weiteren Aufruhr wurden im Oktober 2001 über 100 Personen in Kano State getötet.
Spätere gewalttätige Konflikte und Anschläge
Im Januar 2010 kamen bei Unruhen in der Provinzhauptstadt Jos, die sich am Bau einer Moschee entluden, mehrere hundert Menschen ums Leben.
Im März 2010 kam es erneut zu Ausschreitungen zwischen Angehörigen des Hirtenvolkes der Fulani (Muslime) gegen die Dorfbewohner der Berom (Christen) im Dorf Dogo Nahawa, bei denen über 500 Menschen starben. Bei einer Serie von Anschlägen auf christliche Kirchen wurden am ersten Weihnachtstag im Jahr 2011 mindestens 40 Menschen getötet und Dutzende weitere verletzt. Die islamistische Gruppe Boko Haram, die sich selbst als „nigerianische Taliban“ bezeichnet, bekannte sich zu den Anschlägen, die weltweit verurteilt wurden. Im Jahr 2011 wurde die Gruppe für mindestens 510 Morde verantwortlich gemacht. Die nigerianische Regierung bekräftigte ihre Entschlossenheit im Kampf gegen den Islamismus.
Bei mehreren Terroranschlägen der islamistischen Gruppe Boko Haram in Kano im Nordosten Nigerias auf mehrere Polizeistationen, Regierungsgebäude und eine Schule am 20. Januar 2012 starben 187 Menschen, 50 weitere wurden verletzt.
Siehe auch
Literatur
- Ramzi Ben Amara: „'We Introduced sharīʿa' – The Izala Movement in Nigeria as Initiator of sharīʿa-reimplementation in the North of the Country: Some Reflections“ in John A. Chesworth and Franz Kogelmann (Hrsg.): Sharia in Africa Today: Reactions and Responses. Brill, Leiden, 2014, S. 125–145.
- Chikas Danfulani: The Re-implementation of Sharia in Northern Nigeria and the Education of Muslim Women 1999–2007. Bayreuth, 2013. Digitalisat
- Hatem Elliesie, Isa Hayatu Chiroma: Islam, Islamic Law and Human Rights in the Nigerian Context. In: Hatem Elliesie (Hrsg.): Islam und Menschenrechte (Islam and Human Rights / الإسلام وحقوق الإنسان) Leipziger Beiträge zur Orientforschung, Band 26, Beiträge zum Islamischen Recht VII, Frankfurt am Main u. a. 2010, ISBN 978-3-631-57848-3, S. 155–171.
- Johannes Harnischfeger: Demokratisierung und Islamisches Recht: Der Scharia-Konflikt in Nigeria. Campus-Verlag. Frankfurt am Main 2006, ISBN 978-3-593-38009-4.
- Philip Ostien, Albert Dekker: Sharia and national law in Nigeria. In: Jan Michiel Otto (Hrsg.): Sharia Incorporated: A Comparative Overview of the Legal Systems of Twelve Muslim Countries in Past and Present. Leiden University Press, Leiden 2008, ISBN 978-90-8728-057-4, S. 553–612.
Weblinks
- Franz Kogelmann: Islamisches Recht und Scharia-Debatten in Nigeria
- BBC News Report
- Article on Nigerian riots
- Article on increasing rioting in Nigeria
- R. M. Blench, P. Daniel & Hassan, Umaru (2003): Access rights and conflict over common pool resources in three states in Nigeria. Report to Conflict Resolution Unit, World Bank –extracted section on Jos Plateau (PDF; 1,9 MB)
- Nkwocha, Stanley (1. Dezember 2008). Jos: Blood On Its Streets, Again (Memento vom 4. Dezember 2008 im Internet Archive), Leadership (Abuja)
- Telegraph.co.uk coverage of the riots
- Christian Science Monitor: Nigerian forces move in on Islamist radicals
- The Rise of a New Nigerian Militant Group stratfor.com
Einzelnachweise
- ↑ Ostien & Dekker, 575 (25)
- ↑ Länderinformation des Eidgenössischen Departments für Auswärtige Angelegenheiten
- ↑ World Factbook Nigeria (Memento des vom 29. März 2019 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- ↑ Fischer Weltalmanach 2009, S. 353.
- ↑ SPIEGEL Lexikon: Nigeria (Memento vom 19. September 2011 im Internet Archive)
- ↑ Vatikan über Nigeria (Memento vom 28. April 2016 im Internet Archive)
- ↑ Encyclopaedia of Islam (Artikel über Nigeria, VIII:19b, 50 % Muslime und 34 % Christen)
- ↑ Pew Forum: Global Christianity. A Report on the Size and Distribution of the World's Christian Population
- ↑ Vgl. Jonathan T. Reynolds: The Time of Politics (Zamanin Siyasa). Islam and the Politics of Legitimacy in Northern Nigeria 1950–1966. San Francisco u. a. 1999, S. 95 f.
- ↑ Vgl. Ousmane Kane: Muslim modernity in postcolonial Nigeria: a Study of the Society of Removal of Innovation and Reinstatement of Tradition. Leiden 2003, S. 93.
- ↑ Nigeria: First Execution under Sharia Condemned, Human Rights Watch, 8. Januar 2002.
- ↑ BBC News: Analysis: Behind Nigeria’s violence, 31. Oktober 2001.
- 1 2 Die Mähdrescher Gottes, Zeit Online vom 27. Mai 2004.
- ↑ Analysis: Behind Nigeria's violence
- ↑ Focus: Zusammenstöße zwischen Christen und Muslimen, 20. Januar 2010.
- ↑ Tagesschau – Unruhen in Nigeria – Mehr als 500 Tote nach Massaker in Christen-Dörfern (Memento vom 5. Februar 2012 im Internet Archive) (abgerufen am 8. März 2010)
- ↑ Terrorsekte Boko Haram: Christenjäger stürzen Nigeria ins Chaos – SPIEGEL ONLINE – Nachrichten – Politik. In: spiegel.de, Abgerufen am 21. Januar 2012.
- ↑ Nigeria's president visits city where bombings killed at least 157. In: CNN. 23. Januar 2012, abgerufen am 1. Juni 2019 (englisch).
- ↑ Konflikt der Religionen – Terroristen töten mehr als 120 Menschen in Nigeria. In: Der Spiegel. 21. Januar 2012, abgerufen am 21. Januar 2012.