Seewurf (englisch jettison of cargo) ist in der Seeschifffahrt das Überbordwerfen von Schiffsladung von einem Seeschiff, um das Schiff, die Schiffsbesatzung, Passagiere und gegebenenfalls den Rest der Ladung zu retten.

Allgemeines

Die beim Seewurf über Bord gegangenen Gegenstände werden ebenfalls als Seewurf oder als Jetsam (Seewurfgut) bezeichnet. Es handelt sich dabei um eine spezielle Form von Treibgut, das bei seiner Strandung als Strandgut bezeichnet wird. Als Gegenstände kommen für den Seewurf insbesondere Handelswaren, Kolli, Schiffscontainer, Schiffsgeräte (Rettungsboote), Treibstoff oder Zubehör des Schiffs (Anker) in Betracht. Die wichtigsten Ursachen des Seewurfs sind Leck, Schlagseite oder Strandung, die das Schiff in Seenot bringen können. Eine Leichterung liegt dagegen vor, wenn ein anderes Schiff auf See die Ladung aus einem gefährdeten Schiff übernimmt.

Geschichte

Das Rhodische Seerecht galt als das erste und umfassendste Seerecht überhaupt, es war jedoch ungeschriebenes Gewohnheitsrecht. Das Recht des Seehandels ist auf das Rhodische Seerecht (lateinisch lex Rhodia) von Rhodos des 8. und 9. Jahrhunderts vor Christus zurückzuführen. Rhodos war dem Historiker Strabon (etwa 63 v. Chr. – nach 23 n. Chr.) zufolge wegen seiner gesetzlichen Ordnung und des Seewesens berühmt. So sprach Demosthenes vor 340 v. Chr. davon, dass ein Seedarlehen unter Abzug des Seewurfs zurückgezahlt werden kann, „den die Reisenden aufgrund eines gemeinsamen Beschlusses hinauswerfen“. Der Reeder konnte die Verluste wegen Seewurfs auf die Mitreisenden aufteilen. Ein geschriebenes rhodisches Gesetz über den Seewurf wird heute für wahrscheinlich gehalten.

Die Anordnung des rhodischen Gesetzes über die Schadensverteilung beim Seewurf (lateinisch jactus) war im römischen Recht dem Servius Sulpicius Rufus bekannt und er regte an, diesen Grundsatz beim Seefrachtvertrag in der Bona-fides-Klausel zu berücksichtigen. Erste Belege finden sich über das Rhodische Seerecht in den Digesten des römischen Corpus Iuris Civilis (528 – 534) von Justinian I. Hierin übernahmen die Römer vermutlich im 1. Jahrhundert v. Chr. unter Tiberius das Rhodische Seerecht als Lex Rhodia de iactu (deutsch „Rhodisches Gesetz über den Seewurf“). Das über Bord geworfene Gut blieb Eigentum des Seefahrers, da er es nicht aufgegeben hatte. Wer sich das gefundene Gut aneignete, machte sich des Diebstahls schuldig. In den von Iulius Paulus, Callistratus und Julianus beschriebenen Fällen des Seewurfs handelte es sich stets um durch Naturgewalten herbeigeführte Seenot. Im Streitfall klagte der durch Seewurf benachteiligte Befrachter (lateinisch locator) gegen den Verfrachter (lateinisch conductor) darauf, dass dieser beim begünstigten Befrachter den geschuldeten Schaden (lateinisch contributio) einforderte.

Den Seewurf behandeln die im 11. Jahrhundert erschienenen Basiliken im 3. Titel des 53. Buchs, wobei sie die Grundelemente der römischen Lehre aufgriffen. Das Seestatut von Marseille regelte 1255 ausdrücklich nur den Fall des Seewurfs von Schiff und Ladung und wich insofern vom römischen Recht ab, als es den Wert der geworfenen Güter nicht nach dem Einkaufspreis, sondern nach dem Verkaufspreis berechnete. Der Seewurf wird auch in den ältesten seerechtlichen Bestimmungen Hamburgs (1292) und Lübecks (1299) erwähnt, hier sprach man 1497 noch von „Werffung“. Als bekanntester und wichtigster Tatbestand der Großen Havarie Venedigs (italienisch avaria commune) im 15. Jahrhundert ist der Seewurf (italienisch getto) zu erwähnen, wo Versicherungspolicen den Geschädigten vom Seewurf freistellten (italienisch salvo di getto). Matthias von Inden hielt 1590 an der Akademie Altdorf als einer der ersten Rechtsprofessoren in Deutschland eine Vorlesung über Seehandelsrecht, in der er den Seewurf behandelte. Die Rigaer Statuten von 1672 setzten beim Seewurf die Seenot voraus. Bei den Juden fand der Schadensausgleich der über Bord geworfenen Ware nach deren Gewicht statt.

Das Preußische Seerecht vom Dezember 1727 behandelte den Seewurf von Gütern in Kapitel 8 Artikel 31 und entschied sich für eine Schadensverteilung zwischen Reeder und Eigentümern des Frachtguts. Das Allgemeine Preußische Landrecht (ALR) vom Juni 1794 bestimmte sogar die Reihenfolge der zu opfernden Gegenstände (II 8, §§ 1795 ff. ALR). Seewurf galt nur dann als zulässig, wenn Sturm, Seenot oder Piraterie („feindliche Verfolgung“) dies notwendig machten. Ein Befehl zum Seewurf führte zur Großen Havarie (§ 1796 ALR). Zu beginnen hatte der Seewurf mit den Waren auf Deck, dann Überlauf, gefolgt von Back und Schanz (§ 1800 ALR).

Art. 350 HGB der Königlich Preußischen Provinzen sah 1835 vor, dass jeder Verlust und jeder Schaden durch Unwetter, Schiffbruch, Stranden, Schiffsunfall, Seewurf, Feuer, Prisen, Plünderung u. a. durch den Versicherer zu tragen sei. Das ADHGB vom Mai 1861 regelte in Art. 702 ADHGB „alle vorsätzlich dem Schiff oder der Ladung zugefügten Schäden, die zum Zweck der Errettung aus einer gemeinsamen Gefahr dienen“ (große Haverei). Das im Januar 1900 in Kraft getretene Handelsgesetzbuch (HGB) umschrieb in § 706 Nr. 1 HGB den Seewurf, „wenn Waren, Schiffsteile oder Schiffsgerätschaften über Bord geworfen, Masten gekappt, Taue oder Segel weggeschnitten, Anker, Ankertaue oder Ankerketten geschlippt oder gekappt werden“ als Art der Großen Havarie.

Rechtsfragen

Voraussetzung für den Seewurf ist, dass das Seeschiff in Seenot geraten sein muss. Das Seehandelsrecht vom April 2013 umschreibt in § 588 Abs. 1 HGB den Seewurf, wenn die Ladung auf Anordnung des Kapitäns vorsätzlich beschädigt oder aufgeopfert wird. Seewurf ist ein Fall der Großen Havarie, das heißt der Schaden ist vom Reeder, Fracht­schuldner und Eigentümer der Ladung gemeinschaftlich zu tragen (§ 588 Abs. 1 HGB). Typischerweise sind für diesen Fall die York-Antwerpener Regeln (YAR) im Seefrachtvertrag, Seefrachtbrief oder Konnossement vereinbart. Seewurf von Ladung wird von den YAR nur dann als Große Havarie vergütet, wenn die Güter nach Handelsbrauch befördert worden sind. Demnach gehört der Seewurf von Decksladung nach den neuen YAR zur Großen Havarie, wenn das Verladen an Deck am Ladeplatz üblich ist.

Versicherung

Als heute versicherbare Seegefahren gelten vor allem Baratterie, Beschlagnahme, Diebstahl, Feuer, große Havarie, Kaperei, Meuterei, Prisen, Schiffbruch, Seeblockade, Seeräuberei, Seewurf, Strandung oder Wassereinbruch. Die Seewurf-Versicherung ist eine Transport- und Haftpflichtversicherung. Versicherungsrechtlich erfasst § 130 Abs. 3 VVG lediglich die Schäden aus „Seewurf“ der großen Haverei in der Binnenschifffahrt, die jedoch auf die Seegefahren der Seeschifffahrt nicht anwendbar sind (§ 209 VVG). Die Schäden aus Seewurf in der Seeschifffahrt werden in der Dispache verrechnet.

Einzelnachweise

  1. RGZ 89, 285
  2. Georg Schaps, Seehandelsrecht, 1978, S. 1141
  3. Georg Schaps, Seehandelsrecht, 1978, S. 1142 f.
  4. Meno Pöhls, Darstellung des gemeinen deutschen und des Hamburgischen Handelsrechts für Juristen und Kaufleute, Band 3: Seerecht, 1830, S. 7 ff.
  5. William Tetley, The General Maritime Law – The Lex Maritima, 1994, S. 109
  6. Strabon, 14, 2, 4
  7. Demosthenes, 35.10-13
  8. Diphilos, Zographos Fr. 32
  9. Bernd-Rüdiger Kern/Elmar Wadl/Klaus-Peter Schroede/Christian Katzenmeier (Hrsg.), Humaniora: Medizin - Recht – Geschichte, 2006, S. 263
  10. Bernhard Windscheid/Theodor Kipp, Lehrbuch des Pandektenrechts, Band 2, 1906, S. 768
  11. Andreas Maurer, Lex Maritima: Grundzüge eines transnationalen Seehandelsrechts, 2012, S. 8
  12. Digesten, 14, 2.2, 2.4, 2.6
  13. Iole Fargnoli/Stefan Rebenich/Christoph Krampe (Hrsg.), Das Vermächtnis der Römer: Römisches Recht und Europa, Römisches Recht auf hoher See, 2012, S. 123
  14. Dēmētrēs G. Letsios/Johannes Koder/Aliki Kiantou-Pambouki, Nomos Rhodiōn nautikos: Untersuchungen zu Seerecht und Handelsschifffahrt in Byzanz, 1996, S. 224
  15. Klaus Wolter, Die Schiffrechte der Hansestädte Lübeck und Hamburg, 1975, S. 120
  16. Karin Nehlsen-Von Stryk, Die Venezianische Seeversicherung im 15. Jahrhundert, 1986, S. 168
  17. Matthias Indenius: De iuribus mercatorum, nec non exertitorum, item de iure emporii sive grenarii ac de lege Rhodia de iactu (= Über die Rechte der Kaufleute sowie der Schiffsreeder, ebenso über das Stapel- und Kranrecht und das „Rhodische Gesetz“ über den Seewurf). Nürnberg 1590 (verschollen); Zusammenfassung bei Felix Joseph von Lipowsky: Geschichte der Schulen in Baiern. Giel, München 1825, S. 246–249 (Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek München).
  18. Jean Marie Pardessus, Collection de lois maritimes, Band 3, 1824, S. 515 ff.
  19. Lazarus Goldschmidt, Der Babylonische Talmud, Band 7, 1981, S. 409
  20. Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten, Band 3, 1794, S. 611 ff.
  21. Arthur Curti, Englands Privat- und Handelsrecht - Zweiter Band: Handelsrecht, 1927, S. 188
  22. Jörg Freiherr Frank von Fürstenwerth/Alfons Weiss, VersicherungsAlphabet (VA), 2001, S. 580

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