Desktop-Messie

Ein Desktop-Messie ist ein Mensch, der seine Probleme in der realen Welt in die virtuelle Welt auslagert, also ein Mensch wie Du und Ich. Aus psychotherapeutischer Sicht liegt die Symptomatik eines Desktop-Messies an dem Punkt, an dem Desorganisationsproblem und die Entdeckung ungeahnter neuer Möglichkeiten der elektronischen Massenmedien zusammenkommen. Die Folge ist ein Vollsauen des Computerbildschirms mit unnötigem Schund und ungenutzten Datenfragmenten, die in den vier virtuellen Ecken vor sich hin schimmeln. Weil sich viele Desktop-Messies für ihr Problem schämen, ziehen sie sich zurück, drehen ihren Kollegen die Computerbildschirme weg oder gehen nur noch unter einer Decke an ihren Arbeitsplatz. Eine Folge davon sind die sogenannten Betriebssystemnomaden, die irgendwann aus Scham den Anbieter wechseln und ihre blockierten und verunstalteten Desktops an Microsoft, Apple und Co. zurückschicken.

Ein Desktop-Messie wie er sich seiner Umwelt zeigen muss.

Das entgegengesetzte Extrem zum Desktop-Messie ist der CCleaner, der im Leistungswahn nie richtig auf seinem Computer angekommen ist und versucht, zur Effizienzsteigerung alles zu löschen, was sich ohne die totale Zerstörung des Betriebssystems löschen lässt. Dadurch arbeitet er unter stündlicher Anwendung seiner Recovery-CD, die mitunter nur noch völlig abgeschleift und müde durch sein Laufwerk surrt. Manche CCleaner versuchen ihr Problem auch auf anderen Wegen zu kanalisieren, was dem Messie leider nicht möglich ist. Ohne Hilfe sind schon viele solcher Fälle abgestürzt, oder schlimmer noch, irgendwann tot in ihrer Wohnung aufgefunden worden, einsam und angefressen von der Legion an süßen Katzenbildern, die sie in einem ihrer Desktopordner gehortet hatten.

Wohnung eines Desktop-Messies

Die Wohnung eines Desktop-Messies ist karg und spartanisch eingerichtet. Meistens enthält sie einen Gartenstuhl, eine Ablage für bestellte Schnellimbisse, eine Spüle, die Waschbecken, Dusche und Toilette gleichermaßen ist, und einige Erinnerungen an traumatische Jugenderlebnisse. Viele dieser Einrichtungsgegenstände sind in der Weite des nur vom Computermonitor erleuchteten Zimmers allenfalls intuitiv auffindbar. Alles im unmittelbaren Umfeld ist darauf ausgerichtet, schneller Downloads und Programme zu installieren und den Drang nach bunten Icons auf der Arbeitsoberfläche zu stillen.

In einigen Fällen kommen Messiesyndrome auch in den besten Familien vor. Hier sollten Mitbewohner auf die Rückzugsräume des Betroffenen achten und regelmäßig die dunklen Ecken des Hobbykellers auf die Anzeichen eines Desktop-Messie-Verhaltens, wie verstaubte Schachteln von abgelaufenen Antivirenprogrammen, untersuchen. Soweit dies möglich ist, hilft es, sich zum Abbau von Spannungen über die virtuellen Aktivitäten des Desktop-Messies klar zu werden, z.B. über einen Blick in seine Browserverlaufliste (so vorhanden). Auf plötzliche Veränderungen ihres Umfelds, z.B. durch Licht und bunte Gardinen, reagieren Desktop-Messies u.U. gereizt.

Desktop eines Desktop-Messies

Der Desktop eines Desktop-Messies hat alle ursprünglichen Funktionen, die mit Übersichtlichkeit und Arbeitsorganisation zu tun haben, verloren. Datenhygienische Zustände sind nicht mehr auszumachen, wohl aber befindet sich bereits beim Starten des Desktops wenigstens eine Maus dort.

Extremform eines fortgeschrittenen Stadiums

Von der Start-Schaltfläche, die Windows zur Vorbeugung in neueren Systemen abgeschafft hat (hier muss man immer erst wischen), hat sich der Messie zu den lebensnotwendigen Anwendungen Wege freigeschoben, abseits derer er unumgänglich in dichten Datenhecken steckenbleiben würde.

Bestimmte Desktop-Messies versuchen auch im Chaos noch kreativ zu werden und gruppieren ihre Desktopsymbole zu ganzen Landschaften, die dann wie ein undurchdringbares Kneuel aufeinanderliegen, für den Außenstehenden gänzlich undurchschaubar. Der Messie schafft sich damit eine innere Logik, wenn er von den hohen Pdf-Bergen am nördlichen Bildschirmrand regelmäßig durch Anwendungs- und Word-Dokument-Flüsse zu seinem Arbeitsplatz im Ordnerland pilgert. Es gibt ihm nicht zuletzt ein Gefühl der Kontrolle über eine ganz eigene Welt.

Älteste Dokumente auf Desktops von Hardcore-Messies stammen noch aus DOS-Zeiten, die sie, mittels Diskette auf CD überspielt, bei eBay gekauft haben, um ihren Inhalt sicher zu verwahren. Ansonsten findet sich eine große Bandbreite von Daten, über alte Telefonrechnungen, unfertige Buchprojekte, die in einer schwierigen Lebensphase begonnen wurden, bis hin zu abgelaufenen Testversionen irgendwelcher Shareware, die der Betroffene auf Grund kluger Ratschläge in dubiosen Online-Foren aufgeschwatzt bekommen hat. Des Weiteren werden zwischen "neuesten Projekten" immer wieder lustige Tondokumente von rülpsenden Pferden oder Bildmaterial aus dem letzten Sommerurlaub entfernter Verwandter, je nach Neigung auch völlig fremder Personen, abgelegt. Voraussetzung für einen Messi-Desktop ist, dass all diese Dokumente mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nie wieder zu etwas Nutze sein werden, noch jemals nützlich waren oder wieder benutzt werden.

Die Krankheit

Ursachen

Ein scheuer Desktop-Messie versteckt sich vor seinen virtuellen Problemen.

Weil Desktop-Messietum als eine psychische Nebenstörung des Messiesyndroms gilt, greift die moderne Psychotherapie in der Diagnose auf die Ursachen gewöhnlichen Messietums zurück. Nicht zu verwechseln ist sie mit Ermüdungserscheinungen z.B. durch Altersschwäche. Viele Motherboards haben im Alter keine Angehörigen mehr, die sie supporten, obwohl sie da meist schon per se pflegebedürftig sind. Oftmals erlebt man es hier, dass die Benutzer schon ähnlich alt sind, wie ihr Motherboard und sich mit dem Artillerie-Suchsystem an die Geschwindigkeit ihres überfrachteten Rechners gewöhnt haben. Als Folge davon kann ein sog. CDS, chronischer Datenstau, entstehen, der meist Anzeichen simpler Überforderung aufzeigt. Bei langjährigen Erkrankungen kann ein Burnout des Prozessors hinzukommen. Andere Ursachen für Ermüdungen können eine Viruserkrankung des Systems oder Erschöpfung durch häusliche Gewalt über den Anwender sein. Als tatsächliche Ursachen für Desktop-Messietum gelten hingegen:

  • Soziale Verlustängste: Desktop-Messies mit Empathieproblemen haben oft das Gefühl, sich durch altes Datenmaterial an Gefühle oder angenehme Gedanken erinnern zu können, z.B. an die Vorfreude eines zweistündigen Downloads für einen 1 MB großen Pdf-Flyer mit einem 56K-Modem von 2003. Diese Freudenmomente versucht der Messie in seinem unmittelbaren Arbeitsumfeld festzuhalten, weil sie der emotionale Stützpfeiler für weitere virtuelle Aktivitäten sind. Ab und an zieht sich der Desktop-Messie zurück und schwelgt in seinen Datenhorden wie beim Besuch eines guten alten Freundes. Alte Rechnungen, die sich über seinen Zahlungseingang freuen, Ablehnungen von Bewerbungsschreiben, die seinen interessanten Werdegang loben oder sonstige wärmende Worte geben ihm das emotionale Rüstzeug zur Alltagsbewältigung.
  • Traumatische Erlebnisse Ältere Nutzer werden sich noch an die große Milleniumsangst der Cyberpropheten erinnern: Appleprodukte würden die Menschheit versklaven und das Ende des EDV-Systems wie es die Welt kennt, sollte bevorstehen. Gott sei Dank ist nur die Hälfte dieser Prophezeiung eingetreten, doch im Laufe eines virtuellen Lebens können viele schlimme Dinge geschehen. Gerade, wenn es sich dabei um Verluste handelt, z.B. wenn der Chef das Surfen auf Pornoseiten während der Arbeitszeit verbietet oder man trotz mehrfacher Warnhinweise auf "Formatieren" unter Festplatteneigenschaften geklickt hat, sitzt der Schock tief. Nach dem unrettbaren Verlust von Daten wird vielen Messies der unmittelbare Übergang zur Neuinitialisierung und Neuinstallation des Systems zu viel, ganz zu schweigen von einem Neuanfang. Einige sitzen nächtelang vor dem nackten Desktop und weinen. Findet in dieser Phase kein Auffangen durch Freunde, Verwandte oder Provider statt, beginnen einfache Anwender, jede Möglichkeit auf Datenbereinigung aus ihrem Lebensumfeld zu verbannen und sich jede Seite und jede Funktion jedes Programms auf ihrem Rechner auszudrucken, inklusive des gesamten Internets. Sie bekommen das ungute Gefühl, dass nur das wirklich da ist, was sie unmittelbar sehen können. Psychologen sprechen hier von unbewältigter Nachtrauerarbeit.
  • Geiz und Faulheit: Wer kennt sie nicht, diese Kollegen, die zu Jubiläen und Feiertagen den mitgebrachten Kuchen reindrehen, aber zu eigenen Feierlichkeiten maximal ein Glas Salzstangen hinstellen? Diese zwischenmenschlichen Charakterzüge sind wegweisend für viele Desktop-Messies, besonders wenn der eine Zug den anderen prädeterminiert. Schlechte Menschen, die zu faul sind, um etwas Zeit in die Ordnung ihres Arbeitsplatzes zu investieren, begründen das damit, dass all das, was sie horten, im tiefsten Innern nützlich sei. Genauso wie der fingernagelgroße Bleistift auf dem Schreibtisch oder der halbe Schokoriegel in der Schublade, der mittlerweile schon zum Familienerbstück geworden ist, wird auch für die vielen wichtigen Dateien auf dem Desktop der Tag kommen, an dem sie noch einmal ihre heilsame Wirkkraft für die Menschheit entfalten können. Gerade geizige Desktop-Messies sehen sich damit in der Pflicht, eine möglichst große Vielfalt von Dateien auf ihren Arbeitsoberflächen zusammenzutragen.

Verlaufsformen

Rien ne va plus. Sogar die Symbolleiste wurde mitgenutzt.

Wer Desktop-Messies im Alltag beobachtet, wird schnell feststellen, dass sie sich stark zurückziehen und einen gewissen Einschätzungsverlust beim Bewerten virtueller Kommunikation zeigen. Wenn ein Kollege/Mitbewohner/Angehöriger z.B. erzählt, dass er von einem nigerianischen Prinzen nach seiner Kreditkartennummer gefragt wurde und dass er sie ihm zwar nicht hätte geben wollen, aber die Mail wegen des großen Interesses an seiner Person noch ein wenig behalten wolle, könnte schon erhöhte Wachsamkeit angebracht sein.

Die Störung nimmt relativ offen ihren Verlauf, sodass gerade in der Anfangsphase noch typische Verlaufsformen auszumachen sind, bevor sich das Symptom differenzierter darstellt. Meistens beginnt es relativ harmlos damit, dass Betroffene ihren Papierkorb löschen, was sie mit Verlustängsten durch versehentliches Verschieben begründen. Dann fällt wie durch einen wundersamen Zufall die Rasterfunktion der Desktopansicht aus, der Betroffene beginnt, erste Dokumente übereinander zu schieben und bisherige Zwischenräume mit Dateien aus dem "Temporäre Dateien"-Ordner zu stopfen.

Danach nimmt das Syndrom ganz unterschiedliche Verlaufsformen. Viele Desktop-Messies beginnen plötzlich, nach dem täglichen Download ihre Dateien und Programme nicht mehr zu archivieren. Nach Sinn oder Kompatibilität von Installationen fragen sie nicht mehr, schließlich treiben sie sich auf Computer-Chat-Foren herum, um zu erkunden, bei welchen Downloads vor unerwünschter Adware gewarnt wird. Die laden sie dann gezielt herunter. Einige Messies beginnen ausgedehnte Recherchen auf Nonsens-Blogs, um sich Druckversionen des dort ausgestellten viralen Materials zu beschaffen. Sobald der Desktop voll ist, legen sie überquellende Ordner ohne Namen an, in denen sie nach kurzer Zeit auch die Übersicht verlieren.

Schauen Kollegen oder Bekannte vorbei, geraten Desktop-Messies in Verlegenheit und werfen schnell einen Bildschirmschoner über den schlimmsten Datenschmutz. Nach drei bis vier Gelegenheiten ziehen sie sich vollkommen zurück und kommen auch einfachen virtuellen Verpflichtungen, wie Herunterfahren oder Updates Installieren, nicht mehr nach. Besonders schwere Verlaufsfälle entfernen die "Delete"- und die "Backspace"-Taste von ihrer Tastatur, es folgen Einschränkungen der Arbeitsleistung, schließlich Apathie und Archivierungslosigkeit.

Therapie

Große Bildschirme können Vereinzeln helfen.

Wie bei jedem Messie-Fall könnte man einfach darauf bestehen, dass Vera Int-Veen vorbeikommt, das einpackt, was noch im Kühlschrank ist, und die Bude leerräumt. Doch bei Desktop-Messies ist das leider nicht möglich. Beharrliche Einwirkung kann hingegen leicht in ihr Gegenteil umschlagen und gefährliche Formen annehmen. Im Jahr 2012 zeigte eine erhöhte Selbstmordrate unter Langzeitbetriebssystemern an, dass auch leichter Spott nicht zielführend ist.

Als zielführend haben sich einmal die Früherkennung und zum anderen die psychologische Beratung von Messies erwiesen. Wichtig ist, dass Desktop-Messies bereits in einer frühen Phase der Störung lernen, was sie für Schweine sind und was sie ihrem Betriebssystem mit ihrem Verhalten antun. Mit der Hilfe ist eine langsame Integration des Betroffenen in sein virtuelles Umfeld verbunden. Alternative Lebensmodelle können diskutiert werden, z.B. die Auslagerung des virtuellen Messietums in das reale Leben. Zu diesem Zwecke sollten ein große Zahl alter Raviolidosen und Katzen bereitstehen. Psychologische Betreuung hat auch während solcher Integrationsmaßnahmen zu erfolgen.

Manche Psychologen schwören auf Cybercoaching, eine Art peinliches Cheerleading, das dem Desktop-Messie beim Aufräumen anfeuert und jeden noch so unwichtigen Fortschritt bejubelt. In Windows heißt dieses Cybercoaching Remoteunterstützung (aber bitte nicht von einem nigerianischen Prinzen).

Literatur

  • Gates B., Wenn Windows dein Feind wird, Medina Bald.
  • Kabel P., Ordnung muss rein, Klartext Verlag, Essen 2004.
  • Lobo S., Mein Leben als Remoteunterstützer. Eindrücke von anderen Rechnern, Zu allem eine Meinung Verlag, Berlin 2008.
  • Mischa P., Meine Verarsche von Sascha Lobo als Remoteunterstützer. Eine Enthüllungsstudie, Berlin 2009.

Selbsthilfe

  • Jauler J., Leidfaden für den Umgang mit verstopften Rechnern, Hamburg 2010.
  • am Mittag V., Vom Desktop zurück ins Leben. Wie ich in 8 Wochen 6 Dateien archiviert habe, Köln 2010.

Siehe auch

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