Mizrachim, auch Mizrachen oder in eingedeutschter Schreibung Misrachim (hebräisch מִזְרָחִים, Plural von Mizrachi, deutsch Orientale), in Israel auch als Adot ha-Mizrach (Gemeinden des Ostens, des Orients) bezeichnet, ist der gebräuchliche hebräische Name für aus Asien und Afrika und besonders aus dem Nahen Osten stammende jüdische Bevölkerungsgruppen oder Personen, der sich inzwischen auch in anderssprachigen Literaturen durchsetzt.

Zu den Mizrachim zählen insbesondere die Juden der arabischen Welt und anderer muslimischer Länder wie die persischen, bucharischen, kurdischen Juden sowie die indischen Juden, die Bergjuden aus dem Kaukasus und die Juden aus Georgien. Zuweilen werden die Mizrachim fälschlich als Sepharden bezeichnet, da sich Jahrhunderte lang sephardische mit orientalisch-jüdischen Siedlungsräumen überschnitten.

Bezeichnung und Herkunft

Die Bezeichnung „Mizrachim“ entspringt dem israelischen Sprachgebrauch. Vor der Errichtung des Staates Israel wurde sie in diesem Sinne, also für die orientalischen Juden, nicht verwendet, sondern war eine Selbstbezeichnung der Misrachi-Aktivisten, einer 1902 in Wilna von Isaac Jacob Reines gegründeten religiös-zionistischen Bewegung. Das israelische Zentralbüro für Statistik definiert Mizrachim weitreichender als „aus Asien und Afrika stammende“ Jüdinnen und Juden.

Viele Mizrachim identifizieren sich mit ihrem Geburtsland bzw. dem ihrer Vorfahren und nennen sich entsprechend; so die irakischen, marokkanischen, persischen Juden. In Israel nennen sie sich oft schlicht Irakis, Marokkaner, Perser etc. Hingegen ist die Bezeichnung als arabische Juden weniger gebräuchlich, und „jüdische Araber“ kommt fast gar nicht vor.

Sprache

Viele arabische Mizrachi-Gemeinden sprachen judäo-arabische Mundarten, wie das heute noch als Zweitsprache vorkommende Moghrabi der marokkanischen Juden. Andere Mundarten der Mizrachim sind Judäo-Persisch, Judäo-Georgisch, Judäo-Tadschikisch (Bucharisch), Judäo-Berberisch, Juhuri und Judäo-Aramäisch.

Die meisten der zahlreichen bedeutenden philosophischen, religiösen und literarischen Werke der Mizrachim im Mittelalter wurden auf Arabisch (mit einem an die arabische Phonetik angepassten hebräischen Alphabet) verfasst.

Je nach dem Grad ihrer Assimilation und Integration in die seit dem 19. Jahrhundert neu entstehenden Stadtviertel (außerhalb der traditionellen Judenviertel) und sozialen Schichten und damit in die nicht jüdischen Milieus der Umgebung sprachen sie auch die arabischen Mundarten der Bevölkerungsmehrheit bzw. Hocharabisch, Türkisch, Persisch etc. und mitunter, aufgrund der europäischen Präsenz in der Kolonialzeit, der Rolle des Französischen als internationale Bildungssprache und der Schulgründungen der Alliance Israélite Universelle auch Französisch und Englisch.

Auch das Hebräische spielte eine gewisse Rolle im Schrifttum und der Synagoge.

Geschichte nach 1948

Die meisten Mizrachim verließen ihre muslimisch dominierten Geburtsländer nach der Ausrufung des Staates Israel. Zionistische Abgesandte hatten zudem im Vorfeld durch gezielte Werbung, hebräische Sprachkurse und Ähnliches bei den Mizrachim die nur schwach ausgeprägte Bereitschaft gestärkt, die Heimat zu verlassen und sich dem zionistischen Projekt anzuschließen. Auswanderung z. B. aus dem Irak erfolgte eher nach Großbritannien, Indien, Persien, Südafrika etc. Doch antijüdische Maßnahmen arabischer Regierungen in den 1950er und 1960er Jahren, z. B. die Vertreibung von 25.000 Juden aus Ägypten in der Suez-Krise 1956, machten zahlreiche Mizrachim zu Flüchtlingen, von denen die meisten eine unkomplizierte Zuflucht in Israel fanden. Im Irak hatten illegale zionistische Gruppen sich 1949 so weit organisiert, dass es gelang, monatlich rund 1000 Juden ins Ausland zu schmuggeln. In der Hoffnung, den Abfluss von Vermögenswerten aus dem Land zu stoppen, erließ die irakische Regierung im März 1950 ein Gesetz, das die Registrierung zur Emigration vorübergehend genehmigte. Nach anfänglichem Zögern beschloss die israelische Regierung, eine Luftbrücke einzurichten, über die in wenigen Monaten rund 100.000 Personen über den Iran und Zypern nach Israel ausgeflogen wurden. Die Bereitschaft zur Auswanderung wuchs aufgrund von Unruhen und mehreren Bombenanschlägen (u. a. auf die Masuda-Schemtob-Synagoge). Die Vermögen der Emigranten wurden eingefroren.

Algerische Juden besaßen dagegen seit dem Décret Crémieux von 1870 die französische Staatsbürgerschaft, weshalb die meisten von ihnen infolge des Algerienkrieges ins französische Mutterland zogen. Nach den Pogromen von Oujda und Jerada begannen marokkanische Juden 1948 ihr Land zu verlassen; die Mehrheit zog jedoch erst in den 1960er Jahren nach Frankreich, Kanada und Israel. Auch Tausende Juden aus Syrien und Ägypten leben heute in den Vereinigten Staaten.

Im Jahr 2012 lebten noch mehr als 40.000 Mizrachim in Gemeinden der nicht-arabischen muslimischen Welt, hauptsächlich im Iran, aber auch in Usbekistan, Aserbaidschan und der Türkei. Von den in der arabischen Welt Verbliebenen leben mehr als 5.000 in Marokko und weniger als 2.000 in Tunesien, in anderen Ländern jeweils weniger als 100. Gegenwärtig ist eine Auswanderung hauptsächlich nach Israel und in die USA zu verzeichnen. Die Angaben über die Situation der iranischen Juden sind widersprüchlich, da die islamisch ausgerichtete Regierung des Iran Christen und Juden als Angehörige einer „Buchreligion“ toleriert, diese aber auch als ideologische Gegner einschätzt. Während einheimische Juden von einem weitgehend friedlichen Miteinander der Religionen berichten, weisen israelische Quellen auf gelegentliche antisemitische Übergriffe hin.

In den arabischen Ländern, 1948–2008

Im Jahr 1948 existierten jüdische Gemeinden noch in der gesamten arabischen Welt. Die gesamte jüdische Bevölkerung umfasste etwa 758.000 bis 881.000 Personen (siehe Tabelle). Heute sind es weniger als 8.600. In einigen arabischen Staaten, wie etwa Libyen, gibt es praktisch keine Juden mehr; in anderen Ländern verbleiben noch einige Hundert.

Jüdische Bevölkerung der arabischen Länder: 1948, 1972, 2000 und 2008
Land oder Gebiet jüdische
Bevölkerung
1948
jüdische
Bevölkerung
1972
jüdische
Bevölkerung
2001
jüdische
Bevölkerung
2008
Aden 8.000 ~0 ~0
Algerien 140.000 1.000 ~0 ~0
Bahrain zwischen 550 und 600 36 etwa 50
Ägypten zwischen 75.000 und 80,000 500 ~100 100 im Jahr 2006
Irak zwischen 135.000 und 140.000 500 ~200 weniger als 100
7 bis 12 in Baghdad
Libanon zwischen 5.000 und 20.000 2.000 < 150 zwischen 20 und 40, ausschließlich in Beirut
Libyen zwischen 35.000 und 38.000 50 0 0
Marokko zwischen 250.000 und 265.000 31.000 5.230 3.000 im Jahr 2006
Mandatsgebiet Palästina (jordanischer Teil) 10.000 0 (West Bank neu besiedelt) 0 (West Bank neu besiedelt) 0 (West Bank neu besiedelt)
Sudan 350 ~0 ~0
Syrien zwischen 15.000 und 30.000 4.000 ~100 100 im Jahr 2006
Tunesien zwischen 50.000 und 105.000 8.000 ~1.000 geschätzte 1.100 im Jahr 2006
Jemen zwischen 45.000 und 55.000 500 zwischen 400 und 600 zwischen 330 und 350
Insgesamt zwischen 758.350 und 881.350 weniger als 7.300 weniger als 6.400

Mizrachim im heutigen Israel

Seit ihrer Ankunft in Israel war die kulturelle Kluft zwischen Mizrachim und aschkenasischen Juden hinsichtlich Brauchtum, Gewohnheiten, Sprache etc., unübersehbar und teilweise unüberbrückbar. Die aus Nordafrika kommenden Juden sprachen arabische Dialekte, die Muttersprache der iranischstämmigen war Persisch, die Bagdad-Juden aus China sprachen Englisch, die Gruzinim Georgisch, weitere Sprachen waren Tadschikisch, Juhuri sowie zahlreiche weitere Sprachen je nach Herkunftsland. Teilweise sprechen israelische Mizrachim heute noch hauptsächlich diese Sprachen. Vor der Auswanderung sahen zahlreiche Mizrachim Hebräisch nur als Gebetssprache.

Die Mizrachim wurden anfangs in armselige, eilig errichtete Zeltstädte einquartiert und später zum Städtebau abkommandiert. Die Ansiedlung in Moschawim (Landwirtschaftskooperativen) scheiterte im Wesentlichen, da zahlreiche Mizrachim Handwerker und Kaufleute ohne landwirtschaftliche Erfahrung waren.

Die Mizrachim unterschieden sich in hohem Grad von den Aschkenasim, was die Assimilation in die israelische Gesellschaft zu einem schwierigen und jahrzehntelangen Prozess machte. Soziologen haben zahlreiche Faktoren ausgemacht, die die Integration beeinträchtigten, darunter der Ausbildungsgrad vor der Ankunft im Land und das Vorhandensein bzw. Fehlen von einer beruflichen Klasse innerhalb der Gemeinschaft, aber auch Rassismus vonseiten des aschkenasischen Establishments. Dagegen bildete sich 1971 die Bewegung der Black Panthers, deren Gründer der zweiten Generation angehörten. Generell tendierten die Mizrachim dazu, sich vom aschkenasischen politischen Establishment der Arbeitspartei abzuwenden und stattdessen der nationalistischen und konservativen Likud zuzusprechen.

1977 wurden Vertreter der Organisation auf der kommunistischen Liste Demokratische Front für Frieden und Gleichheit in die Knesset gewählt. Jedoch haben die verbreiteten Mischehen von Aschkenasim und Mizrachim in Israel sowie der allgemeine Gebrauch des Hebräischen so nachhaltig unter der jungen Generation gewirkt, dass Neuankömmlinge wie etwa äthiopische und aus dem postsowjetischen Raum stammende Juden die Mizrachim inzwischen für einen Teil des israelischen Establishments halten.

Wohl lag 2004 das Durchschnittseinkommen der Aschkenasim um 36 Prozent höher als das der Mizrachim, aber dieser Unterschied wird mit der Vermischung der Gruppierungen geringer.

Die religiöse Schas-Partei in Israel versteht sich insbesondere auch als Wahrerin der sephardischen Glaubensausprägung. Neben den Aschkenasim stellen die Sepharden in Israel einen eigenen Oberrabbiner.

Siehe auch

Literatur

  • Orit Bashkin: Impossible Exodus Iraqi Jews in Israel. Stanford University Press, Redwood 2017, ISBN 978-0-8047-9585-2.
  • Yfaat Weiss: Wadi Salib. In: Dan Diner (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK). Band 6: Ta–Z. Metzler, Stuttgart/Weimar 2015, ISBN 978-3-476-02506-7, S. 315–319.
  • Omar Kamil: Die Wüstengeneration. Die „arabischen Juden“ in der zionistischen Ideologie von den Anfängen bis in die 1950er Jahre. In: Klaus-Gerd Giesen (Hrsg.): Ideologien in der Weltpolitik. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004, S. 211–226 (Vorschau).
  • Ella Shohat: The Invention of the Mizrahim. In: Journal of Palestine Studies. Band 29, 1999, Nr. 1, S. 5–20, doi:10.2307/2676427, JSTOR:2676427.
  • Maurice M. Roumani: The Silent Refugees: Jews from Arab Countries. Mediterranean Quarterly 14 (2003), S. 41–77, doi:10.1215/10474552-14-3-41.
  • Georges Bensoussan: Die Juden der arabischen Welt. Die verbotene Frage. Einleitung Stephan Grigat. Übersetzung Jürgen Schröder. Hentrich & Hentrich, Berlin 2019, ISBN 978-3-95565-327-9.

Einzelnachweise

  1. Meir Amor, Chen Bram: Misrachim. In: Dan Diner (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK). Band 4. J. B. Metzler, Stuttgart/Weimar 2013, ISBN 978-3-476-02504-3, S. 200204.
  2. Zvi Ben-Dor Benite: Zwischen Ost und West - Die Mizrachim. Rosa-Luxemburg-Stiftung Israel, 9. Oktober 2016, abgerufen am 17. Februar 2017.
  3. Sergio Della Pergola: World Jewish Population, 2012. In: Arnold Dashefsky, Ira Sheskin (Hrsg.): Current Jewish Population Reports. Nr. 7, 2013, S. 61, doi:10.1007/978-94-007-5204-7_6 (Studie zum Download bei der Berman Jewish DataBank [PDF; abgerufen am 3. Januar 2017]).
  4. Jews in Islamic Countries: Iran. In: Jewish Virtual Library. American-Israeli Cooperative Enterprise, 2014, abgerufen am 3. Januar 2017.
  5. Jacqueline Shields: Jewish Refugees from Arab Countries. Jewish Virtual Library, abgerufen am 22. Mai 2006.
  6. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Aryeh L. Avneri: The claim of dispossession: Jewish land-settlement and the Arabs, 1878-1948. Yad Tabenkin Institute, 1984, ISBN 0-87855-964-7, S. 276.
  7. 1 2 3 4 5 6 7 8 The Encyclopedia of World History, Sixth Edition, Peter N. Stearns (general editor), © 2001 The Houghton Mifflin Company, 2001, S. 966. (Englisch)
  8. 1 2 3 Leon Shapiro, World Jewish Population, 1972 Estimates. American Jewish Year Book vol. 73 (1973), S. 522–529. (englisch)
  9. The Virtual Jewish History Tour - Bahrain. Abgerufen am 5. Dezember 2011. (englisch)
  10. Bahrain Names Jewish Ambassador, BBC News, 29. Mai 2008 (englisch)
  11. Jewish Virtual Library (englisch)
  12. Jerusalem Post (Memento des Originals vom 13. Juli 2011 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. (französisch)
  13. Baghdad's last rabbi to leave Iraq (Memento des Originals vom 6. Oktober 2006 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis., Haaretz (englisch)
  14. Baghdad Jews Have Become a Fearful Few, The New York Times (englisch)
  15. David Van Biema: The Last Jews of Baghdad In: Time, 27. Juli 2007. Abgerufen am 5. Dezember 2011. (englisch)
  16. Jews of Lebanon. Abgerufen am 5. Dezember 2011. (englisch)
  17. Haaretz.com
  18. Yemenite Jews {Note: On November 1, 2009, The Wall Street Journal reports in June 2009 that an estimated 350 Jews were left—of whom by October 2009–60 had immigrated to the United States and 100 were considering to leave}
  19. 1 2 Henrietta Singer, Sara Neuman et al.: 70 Jahre Israel in 70 Plakaten. Verlag Hermann Schmidt, Mainz 2018, ISBN 978-3-87439-906-7, S. 162–165.
  20. Ran Greensteint: Colonialism, Apartheid and the native Question: The case of Israel / Palestine. In: Racism After Apartheid. Vishwas Satgar, 2019, S. 87, abgerufen am 23. Juli 2022.
  21. מרכז אדוה. (PDF) In: Adva-Center. 2005, archiviert vom Original am 17. Dezember 2005; abgerufen am 25. Mai 2017 (hebräisch).
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