Kleinstadtpunk

Der Kleinstadtpunk wird oft belächelt, da ihm angeblich das unerlässliche, urbane Flair fehlt. Die Stadtpunks sind oft verstört, wenn Kleinstadtpunks in die Stadt kommen, denn der Kleinstadtpunk schafft es zuweilen, ein ganzes Punkleben in nur zwei Tagen durchzuziehen (plus zwei Übernachtungen auf einer Aldi-Laderampe.)
Assel- und Öttingerpunks mit großstädtischer Sozialisation erkennen oft nicht das harte Leben des Kleinstadtpunks. Er/Sie/Es ist Punk, in einem komplizierten, sozialen Geflecht, das für Außenstehende nicht nachvollziehbar ist; bei ihm gehen Anfeindung und Unverständnis bis in die tiefsten Schichten des Privatlebens. Nicht selten sogar bis in das eigene Jugendzimmer...

Die Herkunft des Kleinstadtpunks

Die drei Haupt-Verlaufsformen sind absolut prägend für den weiteren Werdegang des Kleinstadtpunks. Deshalb wird dem großstädtischen Leser zum besseren Verständnis empfohlen, wenigstens mal eine Landurlaub zu machen. Ohne eigene Erfahrung könnte dieser Text nahezu unverständlich sein.

Verlaufsformen

Kleinstadtpunks und eine Küstlerin auf der Jugend-Disco einer evangelischen Kirchengruppe.

Der mittelständische aber streetweise Gymnasiast

Er hat in der Kleinstadt an sich nichts zu suchen, seine Eltern haben ihn nur dort hin geschleppt, da sie dachten, auf dem Land lässt es sich gut leben. Sie sind zwar Lehrer, haben es aber nicht geschafft, sich auf dem Land entsprechend zu integrieren. Durch eine mehr oder weniger weltoffene Erziehung wurde er von Kindesbeinen an zu einer gewissen Renitenz erzogen (- aber bitte in Maßen und nur nicht auffallen!).
Sein Horizont lässt ihn auch die weiterführenden Wahrheiten des Punkertums begreifen. Er beendet seine Karriere meistens an der Uni, im Zuge eines Studiums der Sozialpädagogik, der Politik oder im AStA. Er bleibt dem sozial nicht integrierten Paria sein Leben lang treu, zumindest im Geiste.
Leider kommt es immer wieder vor, dass er von allem später nichts mehr hören will und lieber eine kleine Familie gründet, in der Punk selber nicht erwünscht ist.

Der sozial nicht integrierte Paria

Viel Platz, aber wenige Möglichkeiten für Punk.

Seine Herkunft ist meist nicht klassenspezifisch. Symptomatisch sind oft tragische Vorkommnisse im Familienbereich, für die er selbst nichts kann, z. B. der Vater hat die Firma versoffen, die Mutter war vor fünfundzwanzig Jahren mit mehreren Männern nacheinander/gleichzeitig hinter der Turnhalle, der ältere Bruder ist schwul usw. Die Anlässe für Ressentiments der Landbevölkerung sind hier mannigfaltig und führen dazu, dass der Paria lange Jahre und Jahrzehnte verbissen an seinen Idealen festhält, was ihn oft zwar in die große Stadt, manchmal aber auch auf die große Straße abwandern lässt.
Sein Selbsthass und seine Abneigung gegen Institutionen führen ihn an exotische Orte wie Grenzcamps, Junkybuden oder den Knast. Oft wird, nach seiner Flucht aus dem Kaff, eine Legende der Stadt-Punks aus ihm, und durch seine volkstümliche Art bekommt er viele ungewaschene Punkmädchen.

Der illoyale Bauern-, Polizisten- oder Bürgermeistersohn

Der Poser ist von Anfang an das große Problem des ländlichen Punk, denn er steht zwischen allen ländlich-gesellschaftlichen Stühlen und kann einfach nicht richtig Punk sein. Man erkennt ihn an seinem Fake-Iro, der sich auf der Heimfahrt vom Punkkonzert in der Zug-Toilette schnell zur Mittelscheitelfrisur umbauen lässt. Er beneidet den Paria für seine Punkmöglichkeiten; vor dem Gymnasiasten wird er später kriechen (sobald der einen akademischen Grad erreicht hat). Er ist für den Rest seines Lebens unglücklich, weil es ihm so peinlich ist, dass er früher mal Punk gespielt hat und hat mit dreißig meist solche Ausmaße angenommen, dass man ihn gar nicht mehr erkennt. Er beendet seinen Punk oftmals als Maurer mit Rückenleiden oder geschieden oder - schlimmstenfalls - als geschiedener Maurer mit Rückenleiden.

Erste Punkversuche

Die ersten Gehversuche des Kleinstadtpunks sind eher Äußerungen der eigenen pubertären Lebenskraft statt Produkte eines Infragestellens der ländlichen Strukturen. Es geht um Randale, Saufen und Grölen. Bestrebungen zur Anarchie kann man hier nicht unterstellen (was übrigens für die übrige Punkszene auch zutrifft).

Inspirationsquellen

Da es auf dem Land keine Punkboutiquen gibt, muss man sich sein Outfit oft selbst basteln!

Der Kleinstadtpunk muss sich erst mal vom in ländlichen Kreisen vorgeschriebenen Metal befreien, um zum Punk zu werden. Hier ist die ländliche Metalszene selten mit der urbanen Form zu vergleichen, z. B. herrschen hier Kurzhaarfrisuren und Ausländerwitze vor. Erste Inspirationen erhält er durch seltsame Bandnamen und Aufnäher in Metal-untypischer Optik, die er im EMP-Katalog findet.
Bisher benutzte Metalschlachtrufe wie UAAAARGGHHHHH, For God your Soul for me your Flesh oder I'm on a Highway to Hell werden durch neue Parolen wie Nein, Kirche nein!, A.C.A.B. oder einfach nur Nazis raus! ersetzt. Zu Hause zerstört der Kleinstadtpunk nun sein Zimmer und spielt solange Punk, bis er eine Tracht Prügel oder ein verständnisvolles Gespräch bekommt. Je nachdem. Ging es im Metal größtenteils um Atomkrieg, Tod, Zerstörung, apokalyptische Endzeitvisionen und Saufen, hält der Punk nun völlig neue Botschaften bereit. Hier wird, neben den im Metal transportierten Inhalten, zum Rumsiffen, Rumhängen, Dagegensein und Alles-Scheiße-Finden aufgerufen. Im Klang der Bandnamen der neu entdeckten Musikgruppen wird die Verschiebung der Begriffe deutlich:
Inhalte wie „Morbider Engel“, „Schlächter“, „Judas Priester“ oder einfach „Tod“ werden zu „Geschlechtsverkehr Pistolen“, „Die Ausgebeuteten“, „Die Süchtigen“ oder „Schleim“. „Motörkopf“ wird in das neue System übernommen. „Terrorisierer“ und „Napalm Tod“ bleiben auf Grund des Akkordmangels weitestgehend erhalten.

Das erste Konzert

Brutstätte des Kleinstadtpunk: Der alte Hobbyraum

„Vor Ort“-Erfahrungen macht der Kleinstadtpunk in der nächsten Kreisstadt. Er hat schon vom großen Punkertreff gehört, dem sogenannten Autonomen Zentrum. Erste Punkzüge beschränken sich aber auf den Kauf von Stahlkappenboots mit Balkeneinzug und einem Schoppen, den man durch die Stadt trägt, bis er warm und einem dann übel wird.
Am nächsten Samstag glüht man vor mit Weizenbier und Orangenlikör aus Vaters Keller, um dann mit weiteren Schoppen bewaffnet durch den Stadtwald zum Bahnhof zu asseln. Schon im Zug wird dann der erste Punk gemacht, so dass man auf halber Strecke rausfliegt. Während der Wartezeit auf den nächsten Zug wird die örtliche Unterführung mit Parolen beschmiert.
Angekommen, macht man sich auf den Weg zum AZ, dort zeigt der angetrunkene Kleinstadtpunk schlagartig seine Abgehfähigkeit. Da ihm die elementarsten Regeln im AZ (kein Hardalk am Konsti - nicht Moshen) fremd sind, fällt er schnell auf. Beim Pogen tritt er alle zusammen, beschmiert Wände und brüllt Sieg Heil als Zeichen absoluter Anarchie.
Beim Stagediving fängt ihn keiner auf oder der Sänger haut ihm in die Fresse, worauf hin der Kleinstadtpunk nur noch wilder abgeht, bis man ihn vor die Tür schiebt. Nun rennt er noch bis zum Morgengrauen durch die Stadt, schmiert, grölt und wirft Glasflaschen und Mülleimer auf die Straße, bis der erste Zug fährt.

Gefahren im Alltag

Im alltäglichen Punkleben muss der Kleinstadtpunk von Anfang an einige Hürden nehmen. Konflikte mit Andersdenkenden, familiäre Zerwürfnisse und Hausverbot im Friseursalon sind da nur als leichteste zu nennen und manchmal kommt es zu brenzligen Situationen.

  • Wenn beim Schützenfest-Bierabend die ersten Biere „zufällig“ in die Richtung des Punks umkippen, macht der Kleinstadtpunk gerne noch einen Witz über Kurzhaarfrisuren und Bierbäuche...
  • Teile des Familiensitzes, an denen der Vater jahrelang getüftelt hat, eignen sich nicht für Parolen wie: Scheiß Spießer! Obwohl solche Aktionen ein ungeahntes Konfliktpotential bieten.
  • Sollte sich der Kleinstadtpunk mit der Tochter des Bürgermeisters einlassen, wird er beim Heckenpinkeln auf dem Freibad-All-Nighter von zwei stämmigen Herren zum „Gespräch“ gebeten.
Ein Kleinstadtpunkpaar am Waldrand.
Ständige Konfrontation mit dem kleinstädtischen Moloch verstärkt den Punk.
  • Nachdem der DJ auf der Schuldisco um halb zwei endlich, endlich die Misfits auflegt, treten die Punks alle zusammen - leider befinden sich um diese Uhrzeit nur noch die halbe Maurer-Lehrwerkstatt (viehisch besoffen), die örtlichen Lans (vollgekokst) und der Zehnerjahrgang des Gymnasiums (beides) auf der Tanzfläche der Grillhütte.

Durch solche Geschehnisse, die für den Punk zum üblichen Spaß gehören, sieht er sich zusätzlich dauernden humoristischen Verballhornungen der Landbevölkerung ausgesetzt. Hierbei fehlt es oft völlig am Verständnis für Punk, so dass der Kleinstadtpunk die Spießer inzwischen nur noch dumme Bauern nennt, was die Härte des Spotts ebenfalls zunehmen lässt:

  • Hey du, was isssn mit deimm Kopp? Haste Ratten im Bett gehabbt.
  • Bei dir hammse doch die Nachgeburt uffgezoche.
  • ...aus diesen Gründen, kann ihr "Sohn" nicht mehr im Tor der SG. stehen.
  • Du gehörrst gschlacht, du Drecksack.
  • Komm ma her du, du sprichst mir jetzt nach, du Punkersau: Punker sinn dreckige Schweine! Punker sinn der Abschaum der Stadt! Was, du willst net?...
  • Gumma, der scheiß Bombeleecher.

Je nachdem, wie der Kleinstadtpunk diese schwere Phase erlebt, drückt sich die Stärke seines Punks aus. Dies wird bald zu asymmetrischen Entwicklungen der einzelnen Punks führen.

Loyalitätstest

Irgendwann ist es dann so weit und die Kleinstadtpunks wollen den verhassten Bauern endgültig zeigen, wer der Punk im Haus ist. Hier bieten sich einige Klassiker an, auf die gerne zurückgegriffen wird: Die Punker befüllen den Übungsweiher der DLRG mit 200 kg Waschpulver, eine Rallye mit einer Zehnerschlange Einkaufswagen endet auf dem Parkplatz des örtlichen VW- und Porsche-Händlers oder man uriniert sonntags nachmittags in die Gesangbücher der katholischen Kirche und bestückt die Anzeigetafeln für die Lieder zur Abendmesse mit 666. Wenn dazu noch der Müllcontainer der Stadthalle in Flammen aufgeht, wird es ernst für die Punks, besonders wenn auf allen Fenstern der Schule Anarchie-Zeichen zu finden sind.

Der Punk auf dem Prüfstein

Natürlich kommt man sofort auf die Übeltäter und vom Porsche-Händler, der DLRG usw. wird die Polizei eingeschaltet. Hier haben die Kleinstadtpunks nun endlich die langerwartete Möglichkeit, die volle Repression des Staates zu spüren.
Der Paria wird der Polizei sagen, dass sie ihn mal könne, garniert mit Bemerkungen wie „Faschistenpack“ oder „Verdammter Scherge, du bist doch nur ein Sklave“, während der Gymnasiast alles als eine gefakte Aktion der Skins aus den umliegenden Dörfern erklärt. Der Poser schwitzt in der Zwischenzeit, verschärft dadurch, dass er seinen Iro nicht mehr früh genug mittelscheiteln konnte, wofür er regelmäßige Schläge mit der flachen Hand auf den Hinterkopf seitens seines Vaters einstecken muss. In seiner Bauernschläue weiß er genau, dass es den Paria treffen muss, den er eh nie leiden konnte. Die Lehrereltern des Gymnasiasten braucht man ja noch und man muss sich mit ihnen gut stellen. Zudem weiß er, dass der Paria niemals jemanden verraten würde, nicht mal ihn.
Über die Zukunft des Gymnasiasten wird am nächsten Wochenende zwischen einem befreundeten Anwalt und dem Amtsrichter beim Lions-Club-Frühstück entschieden. Und der Punk macht noch groß Karriere im Abijahrgang als antifaschistischer Non-Konformist. Der Paria bekommt eine Geldstrafe von 700 Euro, die er bei der katholischen Kirche in Form von Sozialstunden abarbeitet und spricht den Richter versehentlich noch mit Herr Freissler an. Nach der Verhandlung lauern ihm die Faschos auf, wegen des „Nazis Raus“ auf dem Kriegerdenkmal. Der Poser muss ab jetzt wieder regelmäßig mit dem Vater zum Dämmerschoppen des Angelvereins und ansonsten die Fresse halten und froh sein, dass der Onkel beim Regierungspräsidium ist. Er wird zum ekligsten aller Blohburschen.

Schlusswort

Egal, wie die einzelnen Punks auch ihr weiteres Leben angehen werden, zu Weihnachten, zur Kirmes und zum 1. Mai findet man sich wieder ein im alten Städtchen - zum Besuch bei Verwandten, um mal zu schauen was die Zuhausegebliebenen so machen und um sich den alten Schwartenmagen mal wieder schmecken zu lassen.
Ehrenhandel und weltanschauliche Differenzen sind erst mal beigelegt - man schwelgt in Erinnerungen an die gute Zeit und ist nach ein paar Tagen auch froh, wenn man wieder raus kommt.

Musik der Kleinstadtpunks

Legendäre Kleinstadtpunkbands Songs und Schlachtrufe
Die Tierärzte
  • Straße kehren
  • Immer in die Gülle rein
  • Lé Fladen
P3 Kolben
  • Zündapp-Gang
  • Eisgekühlter Rallyekrümmer
  • Zehn kleine Jäger-Hochstände
Stadtwärts
  • Gesangverein, SA, SS
  • Amok-Oma
  • Nein, Kirchengruppe, nein
Tote Hose
  • Rock n' Roll Landfrau
  • Stadtplatz muss sterben
  • Tina is a Busbank-Hocker
Die Goldenen Patronen
  • Im Dorfkrug
  • Porsche, Händler, Hallo Amtsgericht
  • Am Tag als Bauer Anders starb
De Wäsch
  • Kleinstadt Calling
  • Rockin the Kuhstall
  • I fought the Bloh
Kirchengruppe
  • Mähgiganten gegen Rasenmäher
  • Wochenendticket
  • Pretty Waldrand
Kaff Cocks
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