Klassifikation nach ICD-10
G93.3 Chronisches Fatigue-Syndrom [Chronic fatigue syndrome]
  • Chronisches Fatigue-Syndrom bei Immundysfunktion
  • Myalgische Enzephalomyelitis
  • Postvirales (chronisches) Müdigkeitssyndrom
ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Das chronische Erschöpfungssyndrom oder Chronische Fatigue-Syndrom (englisch chronic fatigue syndrome, abgekürzt CFS), auch Myalgische Enzephalomyelitis (ME) oder ME/CFS, ist eine chronische Erkrankung, die als Leitsymptom eine außergewöhnlich schnelle körperliche und geistige Erschöpfbarkeit aufweist und in extremen Fällen bis zu einer weitreichenden Behinderung und Pflegebedürftigkeit führen kann. Trotz ungeklärter Ursachen und Entstehungsmechanismen ist das Syndrom international als eigenständiges Krankheitsbild anerkannt. Die Forschung konnte jedoch in der Summe bisher keine belastbaren Ergebnisse erbringen, die für die Existenz des CFS als eigenständiges Krankheitsbild oder für ein einheitliches Entstehungsmodell sprechen. Es gibt keinen diagnostischen Test, der das Vorliegen von ME/CFS nachweisen könnte.

Bisher wurden Fehlregulationen des Nervensystems, des Immunsystems oder des Hormonsystems vermutet. Da die Ursachen der Krankheit unklar sind, ist nur eine an den einzelnen Patienten angepasste, unterstützende Behandlung der Symptome möglich.

Schätzungen zur Häufigkeit deuten auf über 3 % bei selbst berichteter und unter 1 % bei ärztlich erfasster Krankheit hin. Die wirtschaftlichen Verluste wurden für die USA für den Zeitraum 2004–2005 auf 51 Milliarden US-Dollar jährlich geschätzt. Der Pschyrembel beziffert die Prävalenz mit 0,2–0,4 %, ca. 300.000 Betroffene in Deutschland, ein Verhältnis 2:1 von Frauen zu Männern, und ein mittleres Erkrankungsalter 29–35 Jahre mit zunehmender Prävalenz bei Kindern.

Definitionen

Die Bezeichnung benigne myalgische Enzephalomyelitis wurde erstmals 1955 benutzt anlässlich eines Ausbruchs einer neuartigen Krankheit unter den Angestellten des Royal Free Hospital in London. 1959 übernahm der damals in New York tätige britische Arzt und spätere Chief Medical Officer Großbritanniens Ernest Donald Acheson die Bezeichnung, nachdem er 14 ähnliche, in verschiedenen Ländern dokumentierte Epidemien untersucht hatte, die er zunächst für eine Infektionskrankheit hielt.

1988 sprach sich eine Expertengruppe im Auftrag der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) für die neutralere Bezeichnung Chronic Fatigue Syndrome (CFS) aus und definierte Haupt- und Nebensymptome. Eine Revision dieser Definitionen erschien 1994. Sie hat neben dem Hauptsymptom – der anderweitig trotz gründlicher Untersuchung nicht erklärbaren Erschöpfung über mindestens sechs Monate – noch acht Nebensymptome, von denen mindestens vier vorhanden sein sollen. Sie war die Grundlage für die Mehrzahl der nachfolgenden Studien zum CFS.

Eine von der kanadischen Gesundheitsbehörde Health Canada 2003 eingesetzte Expertengruppe forderte für eine Definition Erschöpfung, Schlafstörungen, Schmerzen, mindestens zwei neurologische oder kognitive Störungen und mindestens ein vegetatives, neuroendokrines oder immunologisches Symptom über mindestens sechs Monate. 2011 wurde eine Weiterentwicklung als International Consensus Criteria (deutsch: Internationale Konsenskriterien) veröffentlicht. Das Hauptsymptom sei post-exertional neuroimmune exhaustion (PENE, deutsch etwa „neuroimmunologische Erschöpfung nach Anstrengung“), definiert als schnelle körperliche oder kognitive Erschöpfung nach Anstrengungen, mit auf über 24 Stunden verlängerter Erholung, die den Patienten an mindestens 50 % seiner normalen Aktivität hindert. Die zahlreichen möglichen Begleitsymptome werden nun in drei Haupt- und zwölf Untergruppen geordnet. Es müssen Symptome aus mindestens sechs dieser Untergruppen vorliegen. Die Mindestdauer von sechs Monaten wird nicht mehr gefordert.

2012 wurde von der International Association for Chronic Fatigue Syndrome/Myalgic Encephalomyelitis (IACFS/ME) der ME/CFS: Primer for Clinical Practitioners veröffentlicht, der auch Diagnosekriterien enthält. Das Dokument ist umfangreicher als die anderen genannten. Es wird eine ausgiebige Ausschlussdiagnostik aller Krankheiten gefordert, die mit Müdigkeit, Schlafstörungen, Schmerzen und neurokognitiven Fehlfunktionen einhergehen.

Das US-amerikanische Institute of Medicine (IOM) hat 2015 den Bericht Beyond Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome herausgegeben. Die Diagnosekriterien sind im Wesentlichen eine Kürzung der obengenannten Internationalen Konsenskriterien. Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das CFS gleichzeitig mit anderen Erkrankungen auftreten kann.

Die Vielzahl an inkonsistenten, von Expertenpanels erstellten Definitionsversuchen zeigt die Schwierigkeit, eine Krankheit zu fassen, die zwar viele endokrine, immunologische, infektbezogene, muskuläre und neurologische Abnormalitäten kennt, für die es aber keine bekannte Ursache und keine direkten, spezifischen Testverfahren zum Nachweis gibt, sondern nur indirekte, auf Einzelsymptome bezogene. Für keine dieser Kriteriensammlungen wurden Richtigkeit oder Präzision bestätigt (validiert).

Verbreitung

Eine größere Studie von 1999 über Erwachsene in Chicago verglich die Vorkommen nach ethnischen, Alters-, Bildungs- und Einkommensgruppen. Am häufigsten erkranken Personen im Alter zwischen 30 und 45 Jahren, Frauen dreimal so häufig wie Männer.

Die Zahlen sind abhängig von den verwendeten Definitionen. Das Robert Koch-Institut (RKI) wertete 14 Studien (2005–2011) aus und gelangte zu der durchschnittlichen Häufigkeit von 3,28 % bei selbst berichteter und 0,76 % bei ärztlich erfasster Krankheit.

Eine kleine Anfrage von Abgeordneten der Partei Die Linke 2013 ergab, dass in Deutschland bis dato keine Betroffenenzahlen erhoben wurden.

2015 wurden für die USA Schätzungen zwischen 836.000 und 2,5 Millionen Erkrankten angegeben. Geschätzte 84–91 % der Fälle seien nicht diagnostiziert gewesen.

In Deutschland „leben [im Jahr 2016] geschätzt 300.000–400.000 Patienten mit CFS, bei einer hohen Dunkelziffer (nicht gestellte Diagnose)“.

Eine norwegische Studie zeigte eine zweigipfelige Häufung der Diagnose nach Alter der Betroffenen. Am stärksten diagnostiziert wurde CFS in den Altersgruppen 10–19 und 30–39 Jahre. Diese Beobachtung wurde sowohl bei Daten von Frauen als auch bei denen von Männern gemacht, wobei der Effekt bei Frauen stärker ausgeprägt war. Als mögliche Ursache wurde eine erhöhte Anfälligkeit (Disposition) in diesen Altersgruppen genannt.

Wirtschaftliche Folgen

Auf der Grundlage von Daten einer Querschnittsstudie von 1997 in Wichita, Kansas (USA), wurden die Verluste durch CFS auf 20.000 US-Dollar pro Erkrankten und Jahr geschätzt, wobei im Durchschnitt etwa die Hälfte der normalen Arbeitsleistung sowohl im Haushalt als auch am Arbeitsplatz dem Verlust entsprach. Die geographische Auswahl war getroffen worden, da sie in vielfacher Hinsicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung der USA war. Auf die USA hochgerechnet wurde der Verlust auf über 9 Milliarden US-Dollar jährlich geschätzt.

Eine andere Querschnittsstudie von 2004 bis 2005 in städtischen und ländlichen Bereichen um Atlanta und Macon, Georgia (USA), ermittelte durchschnittliche medizinische Kosten durch CFS pro Erkrankten und Jahr von 3.286 US-Dollar und einen Einkommensverlust von 8.554 US-Dollar. Auf die USA hochgerechnet wurden die medizinischen Kosten auf 14 Milliarden und die Einkommensverluste auf 37 Milliarden US-Dollar jährlich geschätzt. Zu Abweichungen der Kansas-Studie wurde unter anderem auf unterschiedliche Daten zur Verbreitung der Krankheit verwiesen.

Ursachen

Eine genaue Ursache der Erkrankung ist bisher ungeklärt. Es werden virologische, immunologische, autonom-neurologische, umweltmedizinische und psychiatrisch-psychologische Hypothesen diskutiert. Das europäische Netzwerk für ME/CFS (EUROMENE) und das Center of Disease Control and Prevention (CDC) betrachten ME/CFS als eine systemische Erkrankung mit Fehlregulationen unter anderem des Nervensystems, des Immunsystems und des zellulären Energiestoffwechsels. Bei vielen von ME/CFS betroffenen Patienten wird eine zeitliche Nähe zu einer durchgemachten (meist viralen) Infektionserkrankung beschrieben. Besonders häufig wird hier das durch das Epstein-Barr-Virus (EBV) ausgelöste Pfeiffersche Drüsenfieber genannt, aber auch andere Herpesviren und u. a. auch Influenzaviren und SARS-CoV-1. Seit der COVID-19-Pandemie gibt es auch Hinweise für eine mögliche Auslösung durch SARS-CoV-2. In zwei Studien erfüllte eine Minderheit der an sog. Long COVID leidenden Patienten die Diagnosekriterien für ME/CFS. Bei infektions-getriggerter ME/CFS gibt es Hinweise auf eine Rolle von Autoantikörpern, die unter Belastung zunimmt.

Grundsätzlich müssen ME/CFS-Patienten in Bezug auf Ätiologie, Pathogenese und Prognose als eine heterogene Gruppe verstanden werden.

Symptome

Leitsymptome des chronischen Erschöpfungssyndroms sind:

  • eine deutlich schnellere Erschöpfbarkeit durch körperliche, intellektuelle oder psycho-soziale Belastung als vor der Erkrankung
  • sowie eine lang anhaltende Entkräftung nach Belastung.

Auch minimale Belastungen (wie Aktivitäten im Alltagsleben oder einfache gedankliche Aufgaben) können entkräftend sein. Die Entkräftung kann sofort nach der Aktivität auftreten oder verzögert erst nach Stunden oder Tagen. Die Erholungsphase nach körperlicher Belastung ist verlängert. Sie beträgt oft 24 Stunden, kann aber auch Tage oder Wochen dauern. Erschöpfung und Erschöpfbarkeit sind nicht Folge ungewöhnlicher Anstrengungen und verbessern sich durch Ausruhen nicht wesentlich. Trotz schwerer Erschöpfung bestehen oft Ein- und Durchschlafstörungen.

Daneben bestehen oft neurokognitive Beeinträchtigungen, die belastungsabhängig sein können: z. B. Schwierigkeiten mit der Informationsverarbeitung, verlangsamtes Denken, Beeinträchtigung der Konzentration, Bewusstseinstrübung, Verwirrung oder Desorientierung, kognitive Überlastung, Schwierigkeiten Entscheidungen zu treffen, verlangsamte Sprache, Dyslexie, Wortfindungsschwierigkeiten, Schwierigkeiten mit dem Kurzzeitgedächtnis.

Häufig beobachtet wurde eine gestörte Orthostase-Reaktion, die bei Gesunden dafür sorgt, dass das Herz-Kreislauf-System auch in aufrechter Stellung einwandfrei funktioniert.

Aufgrund der sich wechselseitig beeinflussenden Fehlregulationen des Nervensystems, des Immunsystems und des hormonellen (endokrinen) Systems kann eine Vielzahl von sehr unterschiedlichen weiteren Symptomen auftreten.

Biologische Reaktionen auf körperliche Belastung

Die normalen biologischen Reaktionen auf körperliche Anstrengungen sind in vielfacher Hinsicht gestört. Hierzu zählen unter anderem: kein belebender Effekt; höhere Schmerzempfindlichkeit; herabgesetzte Blutversorgung im Gehirn; niedrigere maximale Herzfrequenz; beeinträchtigte Sauerstoffversorgung der Muskeln.

Immunsystem

Eine Auswertung von 23 gezielten Einzelstudien zu diesem Themenkomplex im Jahr 2014 zeigte deutliche Hinweise darauf, dass bei CFS-Patienten im Unterschied zu gesunden Vergleichspersonen mehrere Abweichungen in der Reaktion des Immunsystems auf Anstrengungen vorlagen.

In einer Studie, die auf zwei großen Multicenter-Kohortenstudien zum chronischen Erschöpfungssyndrom beruht, konnte gezeigt werden, dass nach Krankheitsbeginn sowohl proinflammatorische (entzündungsfördernde) als auch antiinflammatorische (entzündungshemmende) Zytokine aktiviert werden. Das Zusammenspiel der Zytokine ist gestört. Erhöhte Level wurden bei Interleukinen (IL-1a, IL-8, IL-12p40, IL-17A, IL-1RA, IL-4, IL-13), bei TNF-alpha sowie bei Interferon-γ gefunden. Verminderte Werte zeigten sich bei dem CD-Antigen CD40 und dem Platelet Derived Growth Factor BB. Diese Veränderungen zeigen sich nur innerhalb der ersten drei Jahre, so dass sich dadurch Früh- und Spätstadien der Erkrankung unterscheiden lassen.

Gehirnscans

Mit Hilfe von bildgebenden Verfahren (Gehirnscans) wurden sowohl mögliche anatomische als auch mögliche funktionelle Abweichungen bei ME durch den Vergleich von Gruppendaten von Patienten und Vergleichspersonen untersucht.

Eine Entsprechung (Korrelation) zwischen der Stärke einer Abweichung und der Schwere der Krankheit wurde mehrfach festgestellt. Es gab sogar Anzeichen dafür, dass sich vermindertes Gehirnvolumen im Zuge erfolgreicher Therapie wieder in Richtung Normalisierung veränderte. Da begleitende Erkrankungen, wie etwa Depression, jedoch bekanntermaßen zusammen mit denselben oder ähnlichen Abweichungen in Gehirnscans auftreten, konnten bislang keine für CFS charakteristischen Besonderheiten bei Gehirnabbildungen gefunden werden.

In einer systematischen Übersichtsarbeit von 2015 wurden 39 Gehirnscan-Studien von 1992 bis 2015 mit CFS-Patienten und Vergleichsgruppen aufgelistet. Abweichungen der Durchschnittswerte der CFS-Gruppe wurden insgesamt in vielen Gehirnregionen registriert. Die Ergebnisse der Studien waren jedoch derart breit gestreut und uneinheitlich, dass es nicht möglich war, auch nur eine Abweichung zu finden, die als kennzeichnend für CFS betrachtet werden konnte.

Diagnose

Die Diagnose des CFS erfolgt in erster Linie über die klinischen Symptome. Im ICD-10 wird die Diagnose unter G93.3 geführt, im ICD-11 unter 8E49 als Postvirales Fatigue-Syndrom (synonym mit Myalgischer Enzephalomyelitis (ME)).

Differenzialdiagnostisch muss eine Vielzahl somatischer (z. B. chronische Infektionskrankheiten, multiple Sklerose, endokrinologische Störungen) und psychischer (z. B. Burn-out) bzw. psychosomatischer Erkrankungen beachtet werden, durch die eine Müdigkeits-Symptomatik auch ausgelöst werden kann. Unter allen Ursachen ungewohnter Müdigkeit ist die CFS-Diagnose selten. Es gibt zudem Überschneidungen mit der Depression und somatoformen Störungen. Auch die angewandten Behandlungsansätze (Antidepressiva – allerdings kontrovers, Psychotherapie, Bewegungstherapie) überlappen sich. Eine systematische Übersichtsarbeit von 2017 ergab im Fazit, dass es in der Summe bisher keine belastbare Evidenz für die Existenz des CFS als eigenständiges Krankheitsbild noch für ein einheitliches Entstehungsmodell gebe.

Symptombasierte Diagnoseschemata

Kriterienkatalog von 2011

Carruthers und andere haben 2011 ihre als Internationale Konsenskriterien (ICC) bezeichneten Diagnosekriterien veröffentlicht und dabei die als Kanadisches Konsensdokument von 2003 bezeichneten Diagnosekriterien überarbeitet und aktualisiert.

Zwingend notwendiges Hauptsymptom sei die „neuroimmunologische Erschöpfung nach Anstrengung“ (englisch: post-exertional neuroimmune exhaustion, PENE). Dazu werden mindestens sieben Nebensymptome gefordert, die in Gruppen geordnet sind:

  1. neurologische Beeinträchtigungen (mindestens je ein Symptom aus drei der folgenden vier Kategorien)
    1. neurokognitive Beeinträchtigungen, z. B. Informationsverarbeitung oder Kurzzeitgedächtnis
    2. Schmerzen: Kopfschmerzen, Schmerzen in Muskeln, Sehnen, Gelenken, Bauch- oder Brustraum
    3. Schlafstörungen: gestörte Schlafmuster, nicht erholsamer Schlaf
    4. neurosensorische Wahrnehmungs- oder Bewegungsstörungen
  2. immunologische, gastrointestinale oder urogenitale Beeinträchtigungen (mindestens je ein Symptom aus drei der folgenden fünf Kategorien)
    1. grippeähnliche Symptome, chronisch oder wiederholt, durch Belastung aktiviert oder verstärkt
    2. Anfälligkeit für virale Infektionen, verlängerte Erholungsphasen
    3. gastrointestinale Beschwerden
    4. urogenitale Beschwerden
    5. Unverträglichkeit von Nahrungsmitteln, Medikamenten, Gerüchen oder Chemikalien
  3. Beeinträchtigungen von Energieproduktion/-transport (mindestens ein Symptom)
    1. kardiovaskulär, z. B. orthostatische Intoleranz
    2. atmungsbezogen
    3. Verlust der Thermostabilität (Kältegefühl, Hitzewallungen etc.)
    4. Intoleranz gegenüber Temperaturextremen

Diagnose-Schema von 2015

Anfang 2015 stellte das Institute of Medicine ein Diagnose-Schema zur Diskussion, nach dem die folgenden drei Symptome vorliegen müssen:

  1. Eine erhebliche Beeinträchtigung der Fähigkeiten, sich in beruflichen, schulischen, sozialen und persönlichen Bereichen so zu betätigen wie vor der Erkrankung, die länger als sechs Monate anhält und von einer Erschöpfung begleitet wird, die oft schwerwiegend ist, neu ist oder einen konkreten Beginn hatte (nicht lebenslang besteht). Die Erschöpfung ist nicht die Folge starker Anstrengungen und verbessert sich durch Ausruhen nicht wesentlich.
  2. Zustandsverschlechterung nach Belastung (post-exertional malaise, kurz: PEM)
  3. Nicht erholsamer Schlaf

Zusätzlich muss mindestens eines der beiden folgenden Symptome vorliegen:

  1. Kognitive Beeinträchtigung
  2. Orthostatische Intoleranz, also Schwierigkeiten, längere Zeit in aufrechter Stellung zu verharren.

Schweregrade

Für die Diagnose des chronischen Erschöpfungssyndroms muss die Schwere der Symptome zu einer beträchtlichen Verminderung des Aktivitätsniveaus des Erkrankten führen, gemessen am subjektiven früheren Aktivitätsniveau. Die Diagnose chronisches Erschöpfungssyndrom ist zu stellen, wenn das Aktivitätsniveau im Durchschnitt 50 % oder weniger beträgt. Mindestens 25 % der Erkrankten können wenigstens einmal in ihrem Leben ihre Wohnung nicht verlassen oder sind gar bettlägerig.

Im genannten Kriterienkatalog von 2011 wird die Krankheit in vier Stufen eingeteilt:

  1. Leicht: eine etwa 50-prozentige Verminderung des Aktivitätsniveaus
  2. Moderat: meist ans Haus gefesselt
  3. Schwer: meist ans Bett gefesselt
  4. Sehr schwer: vollständig ans Bett gefesselt und bei grundlegenden Tätigkeiten auf Hilfe angewiesen.

Therapie

Es existiert bislang keine ursächliche Behandlung gegen ME/CFS. Deshalb wird eine an den Patienten angepasste, unterstützende Behandlung der Symptome empfohlen. Besonderes Augenmerk liegt hier auf dem „Pacing“, einer Form des Energiemanagements, mit dem erarbeitet wird, was eine Person in welcher Intensität und Dauer unter welchen Umständen leisten kann. Bewältigungsstrategien aus der kognitiven Verhaltenstherapie können unterstützend zur Anwendung kommen, um den Leidensdruck zu mindern.

Das britische National Institute for Health and Care Excellence (NICE) schreibt in seiner ME/CFS-Behandlungsleitlinie für den National Health Service (NHS) – in Übereinstimmung mit dem Stand der Forschung –, dass Ärzte ME/CFS-Patienten keine Therapie basierend auf physischen Aktivitäten oder Übungen, z. B. ein angepasstes Ausdauertraining (engl. Graded Exercise Therapy (GET), auch Aktivierungstherapie genannt), empfehlen sollten, da sie bei einigen Personen zu einer Überlastung und Verschlimmerung führen könnte. Programme physischer Aktivitäten sollten nur dann in Betracht gezogen werden, wenn die Betroffenen bereit sind, ihre physischen Aktivitäten über ihre alltäglichen Aktivitäten hinaus zu erweitern, oder wenn sie es wünschen, dass physische Aktivitäten Teil ihrer Behandlung werden.

Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) berichtete im Mai 2023 über Kosten-Nutzen-Bewertungen von Therapien für Patienten mit leichtem bis moderatem ME/CFS-Schweregrad. Für Patienten mit höherem ME/CFS-Schweregrad lagen keine geeigneten Studiendaten vor. Kurz- bis mittelfristige positive Effekte wurden für die kognitive Verhaltenstherapie (CBT) festgestellt. Für die Aktivierungstherapie (GET) war keine verlässliche Abwägung von Nutzen und Schaden im Vergleich zur fachärztlichen Standardversorgung möglich: Zwar hätten Studien kleine Vorteile der GET aufgezeigt, doch könne das Risiko schwerwiegender Nebenwirkungen der GET nicht abschließend beurteilt werden.

Verlauf und Prognose

Der Verlauf der unbehandelten Krankheit wurde in einer Auswertung von 14 Studien untersucht, die 1991–1999 erschienen waren. Hierbei wurden Erstuntersuchungen mit Nachfolgeuntersuchungen nach mehreren Jahren verglichen. Quer über alle Studien betrug die vollständige Erholung 0–31 % (Median 5 %) und die teilweise Erholung 8–63 % (Median 39,5 %). Eine Rückkehr ins Berufsleben zum Zeitpunkt der Nachfolgeuntersuchung lag bei den drei Studien, die diese Frage untersucht hatten, bei 8–30 %.

Kontroverse über die Bezeichnung der Krankheit

Die Bezeichnung der Krankheit ist seit der erstmaligen Beschreibung in den 1950er Jahren umstritten, wobei sich die Begriffe „chronisches Erschöpfungssyndrom“ (CFS) und „myalgische Enzephalomyelitis“ (ME) weitgehend durchgesetzt haben.

Die ursprüngliche Bezeichnung benigne myalgische Enzephalomyelitis von 1955 (siehe oben) wurde gewählt, weil man eine ähnliche Infektion vermutete wie bei der Kinderlähmung (Poliomyelitis), jedoch ohne Lähmung – daher der Zusatz benigne (gutartig). Die später geläufigere Bezeichnung „chronisches Erschöpfungssyndrom“ zielt auf die Betonung der die Krankheitssymptomatik prägenden Erschöpfung ab.

Die Verwendung dieser Begriffe wird jedoch nach wie vor kritisiert. Seit den 1990er Jahren wurde wiederholt darauf verwiesen, dass die Bezeichnung Enzephalomyelitis falsch und irreführend sei, weil eine Entzündung von Gehirn und Rückenmark nie nachgewiesen wurde. Auch in einer in der Fachpresse und den Medien vielbeachteten Stellungnahme des Institute of Medicine (IOM) aus dem Jahr 2015 wurde dieser Kritikpunkt vorgebracht:

„The committee deemed the term “myalgic encephalomyelitis,” although commonly endorsed by patients and advocates, to be inappropriate because of the general lack of evidence of brain inflammation in ME/CFS patients, …“

„Das Komitee erachtete den Begriff „myalgische Enzephalomyelitis“, obwohl allgemein von Patienten und Befürwortern unterstützt, als unangemessen, da es allgemein keine Hinweise auf eine Hirnentzündung bei ME/CFS-Patienten gibt, …“

Zudem zitierte der IOM-Bericht auch Kritik an der Bezeichnung „chronisches Erschöpfungssyndrom“. Der Begriff sei aus der Sicht mancher Patienten verharmlosend, führe oft zu Stigmatisierung und verdeutliche nicht ausreichend, dass es sich um eine tatsächliche Krankheit handle. Die Autoren stimmten der Auffassung zu, dass die Bezeichnung oft diesen Effekt habe und nicht weiter verwendet werden sollte. Stattdessen wurde die neue Bezeichnung Systemic Exertion Intolerance Disease (deutsch: Systemische Belastungsintoleranz-Erkrankung) kurz SEID, vorgeschlagen, die seitdem oft zusätzlich verwendet wird, die etablierten Begriffe aber nicht abgelöst hat. Im ICD-10 wurde die Bezeichnung im Januar 2023 geändert und lautet seitdem Chronisches Fatigue Syndrom.

Zusatzbelastung durch ärztliches Unverständnis

Aufgrund der unklaren und umstrittenen Definitionen der Krankheit sind viele Ärzte nicht oder nicht ausreichend ausgebildet, sie zu erkennen. Deshalb klagen Patienten seit Jahrzehnten nicht nur über enorme Schwierigkeiten, überhaupt eine richtige Diagnose zu bekommen, sondern auch über Misstrauen, Vorwürfe und Herabwürdigung von Seiten mancher Ärzte. Als Folge hiervon wurden viele Patienten oft über Jahre von den Einrichtungen der Gesundheitssysteme mehr oder weniger ausgeschlossen, organisierten sich und veröffentlichten heftige Vorwürfe und Debatten im Internet. Dies führte so weit, dass die Konflikte von Seiten der Medizinsoziologie sogar schon als institutionalisierte und kostspielige Kämpfe eingestuft wurden: “The result is the maintenance of these very expensive struggles for all involved.”

Öffentliche Kampagnen

Internationaler ME/CFS-Tag

Seit 1995 findet am 12. Mai jedes Jahres in vielen Ländern der Welt der „International ME/CFS/CFIDS Awareness Day“ statt. Das Datum erinnert an den Geburtstag der englischen Krankenschwester und Statistikerin Florence Nightingale. Sie litt seit ihrem 35. Lebensjahr an einer CFS-artigen Erkrankung, durch die sie 50 Jahre ihres Lebens oftmals ans Bett gefesselt war.

Spark!

In den Jahren 2006 und 2007 führten die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) in den USA eine Medien- und Aufklärungskampagne unter dem Namen Spark! (deutsch: ‚Funke‘) durch. Das Ziel war, sowohl die Öffentlichkeit als auch Angehörige des Gesundheits- und Rechtswesens über das chronische Erschöpfungssyndrom zu informieren und auf die Schwere der unsichtbaren Erkrankung und Probleme der Erkrankten aufmerksam zu machen.

Mediale Verarbeitung

Filme

  • I Remember Me, Dokumentarfilm von Kim A. Snyder über das gesellschaftliche Unverständnis der Erkrankung, USA 2000, Youtube
  • Der müde Stürmer, von Tom Theunissen über den am chronischen Erschöpfungssyndrom erkrankten Fußballprofi Olaf Bodden aus der ZDF-Reihe 37 Grad, Deutschland 2000, Youtube
  • Voices from the Shadows, von Josh Biggs und Natalie Boulton über den teilweise skandalösen Umgang mit schwer am chronischen Erschöpfungssyndrom Erkrankten, Großbritannien 2011, Internetauftritt
  • Forgotten Plague, von Ryan Prior und Nicole Castillo, USA 2015, Internetauftritt
  • Unrest, von Jennifer Brea, USA/Dänemark/Großbritannien 2017, Internetauftritt
  • Perversely Dark, ein Film über zwei schwer vom CFS betroffene junge Menschen von Pål Winsents (Norwegen 2014), Vimeo (Passwort: fenomen)
  • LEFT OUT - ME/CFS Documentary, Norwegen 2020, Youtube
  • Arte-Dokumentation „Die rätselhafte Krankheit – Leben mit ME/CFS“, 2021

Bücher

Podcasts

Siehe auch

Literatur

Leitlinien

Forschungsübersichten

  • Carolina X. Sandler, Andrew R. Lloyd: Chronic fatigue syndrome: progress and possibilities. In: The Medical Journal of Australia. Band 212, Nr. 9, Mai 2020, S. 428–433, doi:10.5694/mja2.50553, PMID 32248536 (englisch).
  • Lucinda Bateman et al.: Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome: Essentials of Diagnosis and Management. In: Mayo Clinic Proceedings. Band 96, Nr. 11, November 2021, S. 2861–2878, doi:10.1016/j.mayocp.2021.07.004, PMID 34454716 (englisch).
  • Lorenzo Lorusso, Giovanni Ricevuti: Special Issue "Chronic Fatigue Syndrome/Myalgic Encephalomyelitis: Diagnosis and Treatment". In: Journal of Clinical Medicine. Band 11, Nr. 15, 4. August 2022, S. 4563, doi:10.3390/jcm11154563, PMID 35956178, PMC 9369998 (freier Volltext) (englisch).
  • Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (Hrsg.): Myalgische Enzephalomyelitis / Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS) – Aktueller Kenntnisstand. 17. April 2023 (iqwig.de [PDF; 2,8 MB]).
  • Carmen Scheibenbogen et al.: Fighting Post-COVID and ME/CFS - development of curative therapies. In: Frontiers in Medicine. Band 10, 2023, S. 1194754, doi:10.3389/fmed.2023.1194754, PMID 37396922 (englisch).

Einführungen

  • Committee on the Diagnostic Criteria for Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome, Board on the Health of Select Populations, Institute of Medicine: Beyond Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome: Redefining an Illness (= The National Academies Collection: Reports funded by National Institutes of Health). National Academies Press (US), Washington (DC) 2015, PMID 25695122 (englisch).
  • Alexandra Martin: Chronische Erschöpfung und chronisches Erschöpfungssyndrom. In: Winfried Rief, Peter Henningsen: Psychosomatik und Verhaltensmedizin, Schattauer, Stuttgart 2015, ISBN 978-3-7945-3045-8, S. 676–690, Vorschau Google Books (abgerufen am 24. Oktober 2016).
  • Carmen Scheibenbogen et al.:Chronisches Fatigue-Syndrom: Heutige Vorstellung zur Pathogenese, Diagnostik und Therapie. In: tägliche praxis – Die Zeitschrift für Allgemeinmedizin, Heft 55, 2014, S. 567–574, PDF (abgerufen am 25. Oktober 2016).
  • Stefan Oetzel: Einfach nur fix und fertig. Deutsche Apotheker Zeitung; Nr. 11, 16. März 2023, S. 32–39
Commons: Myalgische Enzephalomyelitis (ME) – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. CFS is now accepted as a valid disease in its own right,“ in: J. R. Kerr, P. Christian, A. Hodgetts, P. R. Langford, L. D. Devanur, R. Petty, B. Burke, L. I. Sinclair, S. C. Richards, J. Montgomery, C. R. McDermott, T. J. Harrison, P. Kellam, D. J. Nutt, S. T. Holgate: Current research priorities in chronic fatigue syndrome/myalgic encephalomyelitis: disease mechanisms, a diagnostic test and specific treatments. In: Journal of clinical pathology. Band 60, Nummer 2, Februar 2007, S. 113–116, doi:10.1136/jcp.2006.042374. PMID 16935968, PMC 1860619 (freier Volltext) (Review).
  2. The World Health Organization classifies myalgic encephalomyelitis as a disease of the central nervous system (G93.3.).“ In: U.S. Department of Health & Human Services: International Association for Chronic Fatigue Syndrome/Myalgic Encephalomyelitis: Chronic fatigue syndrome/myalgic encephalomyelitis. A primer for clinical practitioners (Memento vom 22. Oktober 2016 im Internet Archive), 2012, PDF (Memento des Originals vom 9. Februar 2015 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. (abgerufen am 7. August 2017).
  3. 1 2 3 Jens D. Rollnik: Chronic Fatigue Syndrome: A Critical Review. In: Fortschritte der Neurologie Psychiatrie. Band 85, Nr. 02. Thieme, New York 2017, S. 79–85, doi:10.1055/s-0042-121259 (thieme-connect.de [PDF]).
  4. 1 2 3 4 5 Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin DEGAM (Hrsg.): S3-Leitlinie AWMF-Register-Nr. 053-002 DEGAM-Leitlinie Nr. 2, Kap. 5.7 Myalgische Enzephalomyelitis (oder Enzephalopathie)/ Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS). Berlin November 2022, S. 5569.
  5. Pschyrembel Online. Abgerufen am 6. Mai 2022.
  6. The Medical Staff Of The Royal Free Hospital: An Outbreak of Encephalomyelitis in the Royal Free Hospital Group, London, in 1955. In: Dr. Melvin Ramsay (Hrsg.): British Medical Journal. Band 2, Nr. 5050, 19. Oktober 1957, ISSN 0007-1447, S. 895–904, PMID 13472002, PMC 1962472 (freier Volltext) (englisch).
  7. 1 2 W. Wojcik, D. Armstrong, R. Kanaan: Chronic fatigue syndrome: labels, meanings and consequences. In: Journal of psychosomatic research. Band 70, Nummer 6, Juni 2011, S. 500–504, doi:10.1016/j.jpsychores.2011.02.002. PMID 21624573, PDF (abgerufen am 29. Oktober 2016).
  8. E. D. Acheson: The clinical syndrome variously called benign myalgic encephalomyelitis, Iceland disease and epidemic neuromyasthenia. In: The American Journal of Medicine. Band 26, Nummer 4, April 1959, S. 569–595. PMID 13637100, PDF (Memento des Originals vom 4. August 2016 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. (abgerufen am 29. Oktober 2016).
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