Der Artikel Jesiden in Deutschland behandelt die Geschichte und soziale Situation der nach Deutschland eingewanderten Jesiden. Jesiden kamen zuerst in größeren Gruppen in den 1960er Jahren im Rahmen der Anwerbung türkischer Arbeitskräfte nach Deutschland. Ihre Verfolgung und Unterdrückung als ethnisch-religiöse Minderheit, die von vielen als angebliche Teufelsanbeter diffamiert wird, führte ab den 1980er Jahren zu einer großen Fluchtwelle aus der Türkei, dem Irak und aus Syrien. Jesiden sind vor allem in den Bundesländern Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen vertreten. Die Anzahl der Jesiden in Deutschland wird auf 100.000 bis 200.000 geschätzt, aber mangels einer amtlichen Statistik ist eine genauere Angabe nicht möglich. In der europäischen Diaspora haben sich ihre religiösen und sozialen Normen zum Teil gewandelt.

Geschichte der Einwanderung

Einwanderung aus der Türkei

Durch die Anwerbepolitik der Bundesrepublik Deutschland konnte eine Vielzahl der türkischen Jesiden Anfang 1964 als Gastarbeiter aus der Türkei in die Bundesrepublik einwandern. Um einreisen zu können, mussten die Gastarbeiter vollkommen gesund und alphabetisiert sein. So waren es zunächst hauptsächlich junge Männer, die entweder eine fünfjährige Schulbildung absolviert hatten oder während ihres Militärdienstes halbwegs Lesen und Schreiben gelernt hatten. Wahrscheinlich führten wirtschaftliche Interessen die ersten Jesiden nach Deutschland. Erst nach einem Anwerbestopp für Gastarbeiter am 23. November 1973 durch die Bundesregierung kamen weitere Jesiden durch die Familienzusammenführung oder über das Asylverfahren nach Deutschland. Nach dem dritten Militärputsch in der Türkei von 1980 trieb zunehmende Unterdrückung Jesiden zur Flucht nach Deutschland.

Die ersten Jesiden aus der Türkei arbeiteten in ihrer Heimat hauptsächlich in der Landwirtschaft. Generell stammten die meisten Jesiden aus sehr einfachen sozialen Verhältnissen und waren nicht sehr gebildet. Die jesidischen Mädchen und Frauen waren überwiegend Analphabetinnen, weil ihre Familien, aus Angst vor Belästigungen oder Entführungen, sie nicht zur Schule schickten. Daher wies die erste Generation bis Ende der 1980er Jahre noch ein sehr niedriges Bildungsniveau auf. Erst mit der zweiten Generation wurden die Bildungsmöglichkeiten in Deutschland auch von Jesiden genutzt. Für den Großteil der in Deutschland lebenden Jesiden ist eine qualifizierte Ausbildung ihrer Kinder heute sehr wichtig, weil sie ihnen unter anderem eine Integration in die deutsche Gesellschaft sowie Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt ermöglicht.

Einwanderung aus Syrien

Syrische Jesiden bilden die zweitgrößte Gruppe der in Deutschland lebenden Jesiden. Ihre Einwanderung erfolgte vor allem im Zeitraum zwischen 1980 und 1990. In Syrien, wo sie hauptsächlich in Afrin und in der Provinz al-Hasaka angesiedelt waren, wurden sie nicht als religiöse Gemeinschaft anerkannt. Bei einer Volkszählung 1962 in al-Hasaka wurde 120.000 Kurden, darunter Sunniten und Jesiden, die syrische Staatsbürgerschaft entzogen; sie wurden zu Ausländern erklärt. Bis 2006 waren mehr als 300.000 Kurden staatenlos.

Nach Halil Savucu, dem Gründungsmitglied des Zentralrates der Yeziden in Deutschland (ZYD), wurden ihnen bestimmte Rechte wie z. B. das Wahlrecht, Besitz- und Eigentumsrechte oder das Recht auf Ausreise vorenthalten. Zudem schreibt er, dass jesidische Kinder, im Gegensatz zu christlichen Schülern, zum Islamunterricht an Schulen gezwungen wurden.

Einwanderung aus dem Irak

Saddam Hussein

Im Irak erlitten Jesiden durch das Baath-Regime unter Saddam Hussein in den 1970er Jahren zunehmende Unterdrückung und Diskriminierung. Das Ziel des damaligen Diktators war es, alle Jesiden und Kurden im Irak zwangsweise zu arabisieren. Während der Anfal-Operation gegen die Kurden wurden viele Jesiden aus ihren Dörfern zwangsvertrieben und in Camps umgesiedelt. In den späten 1980er und frühen 1990er Jahren flohen viele Jesiden nach Europa.

Nach dem Ende des Baath-Regimes

Im Gegensatz zur Türkei oder Syrien erkennt der Irak auf dem Papier das Jesidentum an. Seit 2007 allerdings fordern einige konservative Islamgelehrte (ʿUlamā') den Kampf gegen die „ungläubigen“ Jesiden. 2007 wurden in den Dörfern Til Ezer und Siba Scheich Khidir im Nordirak ca. 500 Jesiden von islamischen Fundamentalisten getötet.

Besonders nach dem zweiten Irakkrieg im Jahr 2003 und ab 2009 flohen vermehrt Jesiden aus dem Irak nach Deutschland. Aber vor allem nach Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs 2011 sowie dem Völkermord an den Jesiden durch die Terrororganisation des Islamischen Staates vom 3. August 2014 stieg die Zahl der Jesiden in Deutschland.

Einwanderung aus anderen Ländern

Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 siedelten auch Jesiden aus den ehemaligen GUS-Staaten Armenien und Georgien sowie Russland und Ukraine in die Bundesrepublik um.

Anerkennung und asylrechtliche Einordnung in Deutschland

1982 erwirkte der mit den Gegebenheiten vor Ort vertraute Orientalist Gernot Wießner der Universität Göttingen mit einem Gutachten beim Verwaltungsgericht Stade die asylrechtliche Anerkennung der Jesiden als Flüchtlinge. 1993 hat sich dieser Status vor dem Oberverwaltungsgericht Lüneburg allgemein durchgesetzt, nachdem bereits am 30. Juni 1992 das deutsche Bundesverfassungsgericht entschieden hatte, den Jesiden dauerhaft Asyl zu gewähren. Allerdings hatte dieses Urteil nur für diejenigen Asylverfahren Auswirkungen, die zum Zeitpunkt des Urteils noch nicht rechtskräftig abgeschlossen waren.

1989 bereitete auf politischer Ebene Herbert Schnoor als Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen den Weg für ein Bleiberecht der Jesiden. Er war zuvor in die Türkei gereist, um sich persönlich von der Unterdrückung und Diskriminierung der Jesiden zu überzeugen. Auch die Gesellschaft für bedrohte Völker, bei der Wießner Beiratsmitglied war, hat sich als Menschenrechtsorganisation für die Jesiden eingesetzt.

Seit den 1990er Jahren gelten Jesiden in Deutschland wegen ihrer Religion als gruppenverfolgt und sind daher asylrechtlich anerkannt. Bis vor Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges verfügten syrische Jesiden nur über eine Duldung, die keinen rechtlich legalen Aufenthaltsstatus darstellte. Aufgrund der politischen Situation und der Gefahr durch den Islamischen Staat im Irak werden Jesiden aktuell nicht aus der Bundesrepublik abgeschoben.

Anzahl und Verbreitung

Über die genaue Anzahl der in Deutschland lebenden Jesiden gibt es keine gesicherten Informationen. Der Zentralrat der Êzîden in Deutschland (ZÊD) schätzt ihre Zahl auf 190.000, der Politikwissenschaftler und ZÊD-Gründungsvorsitzende Irfan Ortac gibt sie mit 200.000 an. Der Religionswissenschaftliche Medien- und Informationsdienst (REMID) gibt ihre Anzahl seit 2015 unverändert mit etwa 100.000 Jesiden an, weist aber darauf hin, dass ihre Anzahl durch Einwanderung inzwischen zugenommen hat und nach Selbsteinschätzung der Jesiden höher liegt.

Die Jesiden haben sich vor allem im südlichen Niedersachsen und im nördlichen Nordrhein-Westfalen niedergelassen. Sie bilden in dieser Region häufig größere Gemeinden, so in Bad Zwischenahn, Hannover, Oldenburg, Kalkar, Celle, Landkreis Celle, Bielefeld, Halle (Westf.), Wilhelmshaven, Emmerich am Rhein, Rees, Köln und Kleve und zunehmend in Mecklenburg-Vorpommern. Aber auch in Gießen, Frankfurt am Main, Berlin und im süddeutschen Raum leben Jesiden.

Jesidische Gemeinden und Vereinigungen

Anfang der 1990er Jahre gründeten die Jesiden Kulturvereine und Gemeinden in Deutschland. Diese Vereine sind ein Ort für religiöse Feste, interreligiöse Dialoge mit anderen Glaubensgemeinschaften und Jesiden anderer Herkunftsländer. Darüber hinaus werden die Räumlichkeiten auch für die rituelle Waschung der verstorbenen Jesiden genutzt. Auch werden verschiedene Bildungsprogramme und Diskussionsveranstaltungen über die jesidische Religion, Tradition, Kultur und Geschichte angeboten, um das Jesidentum transparenter und verständlicher zu machen. Zudem publizieren einige Gemeinden auch ihre eigenen Zeitschriften auf deutsch, kurdisch oder arabisch wie z. B. „Dengê Ezîdiyan“, „Roj“, „Lalish“ oder „Qandîl“.

Eines der wichtigsten Ziele der Vereine ist es, Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene über ihre Kultur und Religion sowie die damit verbundenen Normen und Werte aufzuklären, denn Eltern finden oft keine passenden Antworten auf die religiösen Fragen ihrer Kinder. Außerdem versuchen die Kulturvereine zu verdeutlichen, wie sie ihre Religion und ihre jesidische Identität mit den europäischen Werten in Einklang bringen können. Die Föderation der Ezidischen Vereine in Deutschland ist die größte Organisation mit mehr als 15 Mitgliedsvereinen, in denen vor allem türkischstämmige Jesiden zusammenkommen.

Um die persönliche Auseinandersetzung mit der eigenen Religion zu fördern, fordern viele Jesiden die Verschriftlichung ihrer religiösen Lehren und kulturellen Riten. Zum einen soll dadurch das Jesidentum verständlicher werden und zum anderen hilft eine präsentable Theologie dabei, die eigene Religiosität und das damit verbundene Handeln zu legitimieren. 2007 wurde der Zentralrat der Yeziden in Deutschland (ZYD) gegründet, der sich die „Förderung und Pflege religiöser und kultureller Aufgaben der jesidischen Gemeinden“ und „die Vertretung der gemeinsamen politischen Interessen der jesidischen Gemeinschaft“ zum Ziel gesetzt hatte. Er ging 2017 im neugegründeten Zentralrat der Êzîden in Deutschland (ZÊD) auf.

Mitte 2009 gründete sich in Hannover aus dem Vorläufer Ezidisches Colloqium die Ezidische Akademie (EA) als Bildungseinrichtung. 2011 entstand die Gesellschaft für Christlich-Ezidische Zusammenarbeit in Wissenschaft und Forschung. 2012 wurde die Gesellschaft Ezidischer AkademikerInnen (GEA) mit Sitz in Essen gegründet, der weltweit größte jesidische Akademikerverband, wobei ein „zentrales Ziel des Vereins die grenzüberschreitende und interdisziplinäre wissenschaftliche Zusammenarbeit“ und die „Erforschung der Eziden und des Ezidentum“ ist.

Bestattung und Grabkultur

Jesiden werden zusammen mit Angehörigen ihrer eigenen Religion beerdigt. Dabei sind einige Bräuche und Traditionen in Deutschland ohne Modifikationen nicht möglich. So ist beispielsweise die Bestattung am Tag des Todes, wie im Nahen Osten unter Jesiden üblich, schwer durchzuführen. Traditionell wird zum Beispiel der Verstorbene mit dem Gesicht nach Osten (Sonnenaufgang) beerdigt und sein Sarg direkt nach der Predigt in der Friedhofskapelle und am Grab dreimal hochgehoben. Das Hauptsymbol auf den Gräbern in Deutschland ist eine Sonne.

Auf verschiedenen deutschen Kommunalfriedhöfen gibt es mittlerweile spezielle Gräberfelder für verstorbene Jesiden. 1990 wurde auf dem Neuen Friedhof in Wesel das erste jesidische Gräberfeld errichtet. Obwohl in Celle die meisten Jesiden leben, haben sie dort kein eigenes Gräberfeld. Das größte Feld mit rund 200 Gräbern liegt in Hannover-Lahe. Weitere jesidische Gräberfelder befinden sich auf:

Soziale Veränderungen in der Diaspora-Situation

Stellung der Frau

In den Herkunftsländern waren jesidische Frauen gegenüber Männern nicht gleichgestellt. Diese Ungleichbehandlung ist vermutlich nicht religiös motiviert, sondern vielmehr in der traditionellen und orientalisch-patriarchalischen Kultur ihrer Heimatregionen begründet. Laut Savucu verweigern überwiegend Frauen der dritten und vierten Generation in Deutschland die in früheren Generationen üblichen Geschlechterrollen. Sie sind mit einer individualistischen Kultur sowie verschiedenen Bildungsmöglichkeiten aufgewachsen und leben daher mehr nach deutsch-europäischen als nach jesidischen Normen. Je länger Jesiden in Deutschland leben, wie beispielsweise die bereits in den 1970er Jahren eingewanderten Gastarbeiter, desto mehr orientieren sie sich an dem westlichen Modell der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Anders sieht es hingegen bei denjenigen Jesiden aus, die erst kürzlich aufgrund der Kriege im Irak und in Syrien nach Deutschland geflohen sind. Diese sind noch stark von ihrem patriarchalischen Modell geprägt. Auch das äußere Erscheinungsbild der jesidischen Frau hat sich in der europäischen Diaspora gewandelt. So trägt sie zum Beispiel ihre Haare offen oder lässt sie schneiden. Nach jesidischem Brauch lässt eine Frau ihre Haare nicht schneiden, außer im Falle eines Trauerfalles, erklärt Savucu.

Die Ethnologin Bânu Yalkut-Breddermann schreibt über die Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern:

„In der Migration hat sich die traditionelle Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern teilweise umgekehrt. Die Frauen hatten in der Diaspora in vielen Fällen bessere Chancen, Lohn und Arbeit zu finden (zumeist als Putzfrauen). Daher mußten ihre Männer zu Hause bleiben und sich um die Kinder kümmern. Die neue Arbeitsteilung von Frauen und Männern bewirkt eine zunehmende Beteiligung der Frauen an den Diskussionen, die auch die religiösen Fragen betreffen.“

Bânu Yalkut-Breddermann

Heiratsvorschriften

Durch die strikten Heiratsvorschriften des jesidischen Glaubens und die modernen Einflüsse in der Diaspora entstehen zunehmend starke Spannungen, insbesondere zwischen jungen Frauen und den älteren Familienmitgliedern. Der traditionelle Brautpreis, der vor der Hochzeit durch die Familie des Mannes zu entrichten ist, beträgt in den deutschen Diasporagemeinden bis zu 70.000 Euro. In Deutschland wird der Erhebung eines Brautpreises durch die Familie der Braut die rechtliche Anerkennung insoweit versagt, als weder die Eheschließung von der Zahlung eines Brautpreises abhängig gemacht werden kann, noch ein solcher Brautpreis ein Trennungshindernis bildet. Auch bleibt Klagen auf nachträgliche Zahlung des Brautpreises oder auf Rückzahlung desselben bei gescheiterter Ehe wegen Verstoßes gegen die guten Sitten in der Regel der Erfolg versagt.

Ein wichtiges Thema ist auch das strikte Endogamiegebot, welches Jesiden verpflichtet, nur innerhalb ihrer Religionsgemeinschaft und innerhalb ihrer religiösen Kaste zu heiraten. Auch wenn heutzutage einige deutsche Jesiden diese Bräuche mittlerweile ablehnen, sind sie für den Großteil der jesidischen Gemeinde in der Diaspora noch sehr wichtig, um als Volksgruppe weiter existieren zu können, betonte das weltliche Oberhaupt der Jesiden Mir Tahsin Saied Beg in einem Interview.

Auch in Deutschland kam es unter Jesiden zu Fällen von Zwangsheirat (bei beiden Geschlechtern). Der Anteil von Jesidinnen an allen Frauen, die sich aufgrund einer bevorstehenden Zwangsheirat an Beratungseinrichtungen wandten, lag in einer Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bei 9,5 %. Oberhaupt Mir Tahsin Saied Beg kritisiert die Zwangsehe:

„Auch wenn die Zwangsheirat zur Seltenheit geworden ist, ist diese selbst bei Einzelfällen abzulehnen. Ich kann es nicht nachvollziehen. Esidische Jugendliche sollten stets aus Liebe zueinander heiraten, einen normale Ehe führen und somit einen esidischen Haushalt gründen. Zwangsehen haben keine Aussicht auf eine langfristige und glückliche Ehe, weshalb sie zum Scheitern verurteilt ist. Es ist absolut nicht akzeptabel.“

Mir Tahsin Saied Beg

Öffentlich wurden Fälle von Blutrache zwischen verfeindeten Großfamilien sowie mutmaßliche Ehrenmorde; so wurde die Tötung der Jesidin Arzu Özmen im erstinstanzlichen Strafurteil gegen fünf ihrer Geschwister ausdrücklich als „Ehrenmord“ bezeichnet.

Ehescheidungen

Ehescheidungen gelten bei Jesiden als Sünde. Seit den 1990er Jahren aber nimmt die Scheidungsrate auch bei ihnen zu. Viele dieser Ehen wurden oft nicht nach staatlichem Recht, sondern nur nach jesidischem Ritus abgeschlossen. Diese Eheform wird bei europäischen Jesiden immer weniger praktiziert.

Rolle der jesidischen Geistlichen

Im Jesidentum sind die geistlichen Würdenträger für die Auslegung der mündlich überlieferten religiösen Texte zuständig. Jedoch leben heute einige von ihnen nicht mehr in Deutschland oder in den Herkunftsländern der Jesiden und könnten somit, zumindest nach Sicht einiger deutscher Jesiden, ihren religiösen Pflichten nicht mehr nachkommen. Dagegen ermöglicht Bildung sowie die Sozialisation in Deutschland den Jesiden, sich mit ihrer Religion und ihrer jesidischen Identität kritisch und reflektiert auseinanderzusetzen. Laut Savucu haben sich mittlerweile die meisten Würdenträger komplett aus der jesidischen Gemeinschaft zurückgezogen.

Körperkultur und Kleidung

Nach alter jesidischer Gepflogenheit gilt der Oberlippenbart als Zeichen besonderer Frömmigkeit, Ehre und Männlichkeit. Heute hingegen pflegen jesidische Studenten und Jugendliche in Deutschland diesen Brauch kaum noch. Ein weiteres Element der religiösen Tradition ist das Nicht-Tragen eines bestimmten blauen Farbtons, besonders in der Kleidung. Dieses Tabu hängt mit der Naturliebe der jesidischen Gesellschaft zusammen, bei der die Farbe Blau den Himmel symbolisiert. Demnach drückt das Meiden dieser Farbe den Respekt vor Gott aus. An diesen Brauch halten sich heutzutage die meisten Jesiden weder in Deutschland noch in Kurdistan.

Zukunft des Jesidentums

Nach Angabe von Kreyenbroek identifizieren sich jüngere Jesiden heute mehr mit europäischen Werten und Denkweisen und betrachten das traditionelle Religionsverständnis als einschränkend und veraltet. Daher wenden sie sich immer mehr von ihrem jesidischen Glauben ab. Vielmehr streben sie ein individualistisch geprägtes Leben an. Diese Einstellung führt dazu, dass besonders die ältere Generation der Jesiden befürchtet, ihre Religion, Tradition und Kultur durch die gesellschaftlichen und modernen Einflüsse in Deutschland dauerhaft zu verlieren. Für die Zukunft wünscht sich Mir Tahsin Saied Beg, dass das Jesidentum in der Diaspora reformiert und die kurdische Sprache auch im Exil weiter gesprochen wird. Dadurch soll ein Identitätsverlust in Deutschland vermieden werden.

Auseinandersetzung mit Islamisten

Im August 2014 kam es in Herford (Nordrhein-Westfalen) zu Auseinandersetzungen zwischen Jesiden und Islamisten. Anlass war eine Plakataktion für eine Protestdemonstration hier lebender Jesiden gegen die Verfolgung durch die IS-Terrorgruppe im Irak. Die beiden Gruppen traten nach einer ersten spontanen Auseinandersetzung bewaffnet und zu Hunderten auf und mussten durch mehrere Hundertschaften der Polizei getrennt werden.

Bekannte Jesiden in Deutschland

Literatur

  • Andreas Ackermann: Yeziden in Deutschland. Von der Minderheit zur Diaspora in Paideuma – Mitteilungen zur Kulturkunde. Band 49, 2003, (PDF-Datei; 417 kB; 18 Seiten (Memento vom 27. September 2007 im Internet Archive)).
  • Bânu Yalkut-Breddermann: Der Wandel der yezidischen Religion in der Diaspora. In: Gerdien Jonker (Hrsg.): Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei in Deutschland (= Zentrum Moderner Orient: Studien. Band 11). Das Arabische Buch, Berlin 1999, ISBN 3-86093-227-6, S. 51–63 (PDF-Datei; 177 kB; 11 Seiten (Memento vom 5. Oktober 2011 im Internet Archive)).
  • Celalettin Kartal: Yeziden in Deutschland – Einwanderungsgeschichte, Veränderungen und Integrationsprobleme. In: Kritische Justiz, Band 40 (2007), Nr. 3.
  • Gernot Wießner: „…in das tötende Licht einer fremden Welt gewandert“. Geschichte und Religion der Yezidi. In: Robin Schneider (Hrsg.): Die kurdischen Yezidi. Ein Volk auf dem Weg in den Untergang (= Pogrom. Band 110). Gesellschaft für bedrohte Völker, Göttingen 1984, ISBN 3-922197-14-0, S. 31–46 (PDF-Datei; 300 kB; 13 Seiten (Memento vom 27. September 2007 im Internet Archive)).
  • Halil Savucu: Yeziden in Deutschland. Eine Religionsgemeinschaft zwischen Tradition, Integration und Assimilation (Band 9). Tectum Verlag, Marburg 2016, ISBN 978-3-8288-3813-0.
  • Irene Dulz: Die Yeziden im Irak. Zwischen „Modelldorf“ und Flucht. (= Studien zur Zeitgeschichte des Nahen Ostens und Nordafrikas. Band 8). Lit, Münster u. a. 2001, ISBN 3-8258-5704-2 (Leseprobe in der Google-Buchsuche).
  • Martin Affolderbach, Ralf Geisler: Die Yeziden. (= EZW-Texte. Nr. 192). Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, Berlin 2007 (PDF-Datei; 536 kB; 40 Seiten auf ekd.de).
  • Maureen Lynch, Perveen Ali: Buried alive. Stateless Kurds in Syria. In: Refugees International, 2006.
  • Philip G. Kreyenbroek: Yezidism in Europe. Different Generations speak about their Religions. Wiesbaden 2009, ISSN 0340-6334.
  • Robert Langer, Raoul Monika, Michael Ursinus: Migration und Ritualtransfer. Religiöse Praxis der Aleviten, Jesiden und Nusairier zwischen Vorderem Orient und Westeuropa. Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-631-52426-9.
  • Sefik Tagay, Serhat Ortac: Die Eziden und das Ezidentum – Geschichte und Gegenwart einer vom Untergang bedrohten Religion. Landeszentrale für politische Bildung, Hamburg 2016, ISBN 978-3-946246-03-9.
  • Telim Tolan: Religion und Leben. In: Erhard Franz (Hrsg.): Yeziden. Eine alte Religionsgemeinschaft zwischen Tradition und Moderne. Beiträge der Tagung vom 10.–11. Oktober 2003 in Celle. Deutsches Orient-Institut, Hamburg 2004, ISBN 3-89173-085-3.
  • Udo Tworuschka, Helga B. Gundlach: Die Yezidi. In: Michael Klöcker, Udo Tworuschka (Hrsg.): Handbuch der Religionen. Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften in Deutschland. Loseblattwerk in sieben Bändern. Band 5: Islam. Olzog, Landsberg / München 2006, Kapitel 6: Weitere kleinere Religionen, ISBN 3-7892-9900-6.
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Wiktionary: Jeside – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Jesiden in Norddeutschland. Die zweite Heimat, Jean-Philipp Baeck, taz, 16. August 2014
  2. Savucu: Yeziden in Deutschland. 2016, S. 85 f.
  3. 1 2 Tagay: Die Eziden und das Ezidentum. 2016, S. 96.
  4. Kreyenbroek: Yezidism in Europe. 2009, S. 43.
  5. 1 2 Kreyenbroek: Yezidism in Europe. 2009, S. 42.
  6. Buried alive. Refugees international. S. 1.
  7. Savucu: Yeziden in Deutschland. 2016, S. 89 f.
  8. Savucu: Yeziden in Deutschland. 2016, S. 91.
  9. Savucu: Yeziden in Deutschland. 2016, S. 92.
  10. Zeit Online: Tod der kleinen Völker. http://www.zeit.de/2007/35/Tod_der_kleinen_Voelker [28.07.2017].
  11. Ute Winsemann: Zuzug irakischer Flüchtlinge: Bürgermeister mahnt Konzept an. In: Weser Kurier. 1. Januar 2010, abgerufen am 25. August 2014.
  12. Artikel: PZ-Interview mit der Soziologin Miriam Geoghegan über die Lebensgewohnheiten der yezidischen Flüchtlinge aus dem Irak. (Memento des Originals vom 3. September 2014 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. In: Pforzheimer Zeitung. 19. Juli 2011, abgerufen am 25. August 2014.
  13. Ludger Osterkamp: Gütersloh: Hilfe für Jesiden gesichert – Stadt verlängert ihr Förderprojekt, Integration gilt als geglückt. In: Neue Westfälische. 18. Januar 2012, abgerufen am 25. August 2014.
  14. Tagay: Die Eziden und das Ezidentum. 2016, S. 93.
  15. Savucu: Yeziden in Deutschland. 2016, S. 88 f.
  16. Tagay: Die Eziden und das Ezidentum. 2016, S. 94. Berichte über die Reise von Schnoor und Wießner in der Festschrift für Hans Engel, Der Herr schafft Gerechtigkeit und Recht, Wuppertal 2000, S. 49ff und 59 ff.
  17. 1 2 Yalkut-Breddermann: Der Wandel der yezidischen Religion in der Diaspora. 1999, S. 51.
  18. Savucu: Yeziden in Deutschland. 2016, S. 93.
  19. vgl. Jesiden in Deutschland - Abschied von Afrin In: Deutschlandfunk, 26. März 2018.
  20. Jesiden in Deutschland organisieren sich. In Deutschlandfunk, 26. Januar 2017.
  21. Mitgliederzahlen: Yeziden REMID
  22. Tagay: Die Eziden und das Ezidentum. 2016, S. 30.
  23. Tagay: Die Eziden und das Ezidentum. 2016, S. 138.
  24. Affolderbach/Geisler: Die Yeziden. 2001, S. 27.
  25. Affolderbach/Geisler: Die Yeziden. 2001, S. 27.
  26. Tagay: Die Eziden und das Ezidentum. 2016, S. 138 ff.
  27. Tagay: Die Eziden und das Ezidentum. 2016, S. 141.
  28. Selbstverständnis, Ziele und Aufgaben. In: yeziden.de, 31. August 2016.
  29. Lutz Brade: Die Ezidische Akademie. Rückblick – Ausblick. (Memento des Originals vom 4. Dezember 2014 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. In: Ezidische-akademie.de. Selbstdarstellung, abgerufen am 30. November 2014.
  30. Gründung d. christlich-ezidischen Gesellschaft. (Memento vom 4. September 2013 im Internet Archive). In: ezidische-gemeinde.de. Ezidische Gemeinde Hessen e. V., 2011.
  31. Gründung „ein Schritt zur Freundschaft“ – Verein „Christlich-Ezidische Gesellschaft für Zusammenarbeit in Forschung und Wissenschaft“ ins Leben gerufen. In: Kreisanzeiger. 26. Februar 2011 (online (Memento vom 3. März 2011 im Internet Archive) im Internet Archive).
  32. Tagay: Die Eziden und das Ezidentum. 2016, S. 139 f.
  33. Homepage: gea-ev.net. Gesellschaft Ezidischer AkademikerInnen (GEA), abgerufen am 25. August 2014.
  34. Langer: Migration und Ritualtransfer. 2005, S. 257 f.
  35. Langer: Migration und Ritualtransfer. 2005, S. 254 f.
  36. Langer: Migration und Ritualtransfer. 2005, S. 255 f.
  37. Kartal: Yeziden in Deutschland. 2007, S. 247.
  38. Savucu: Yeziden in Deutschland. 2016, S. 234.
  39. Philip G. Kreyenbroek u. a.: Yezidism in Europe. Different Generations Speak About Their Religion (= Göttinger Orientforschungen: Iranica. Band 5). Harrassowitz, Wiesbaden 2009, ISBN 978-3-447-06060-8, S. 46–48 (englisch).
  40. Oberlandesgericht Hamm: Urteil vom 13. Januar 2011 – I–18 U 88/10. In: dejure.org. Abgerufen am 23. November 2014.
  41. Dulz: Die Yeziden im Irak. 2001, S. 91.
  42. 1 2 3 Jesiden in Deutschland-Interview mit dem Oberhaupt Mîr Tahsîn Beg. In: Religionen im Gespräch, [26. Januar 2017].
  43. Thomas Mirbach, Torsten Schaak, Katrin Triebl: Zwangsverheiratung in Deutschland. Anzahl und Analyse von Beratungsfällen. In: bmfsfj.de, 28. März 2011, S. 34–35 (PDF; 1,6 MB).
  44. Landgericht Detmold: Urteil vom 16. Mai 2012 · Az. 4 Ks-31 Js 1086/11-10/12 Rn. 222. In: openjur.de. Abgerufen am 28. November 2014.
  45. Kartal: Yeziden in Deutschland. 2007, S. 249.
  46. Savucu: Yeziden in Deutschland. 2016, S. 195 f.
  47. Savucu: Yeziden in Deutschland. 2016, S. 203f.
  48. Savucu: Yeziden in Deutschland. 2016, S. 204.
  49. Kreyenbroek: Yezidism in Europe. 2009, S. 44.
  50. Tagay: Die Eziden und das Ezidentum. 2016, S. 147.
  51. Yalkut-Breddermann: Der Wandel der yezidischen Religion in der Diaspora. 1999, S. 60.
  52. Angriff auf Jesiden – Polizei-Großeinsatz in Herford. In: Spiegel Online. [7. August 2014].
  53. GZSZ-Star sorgt sich um Verwandte im Irak! In: Bunte, [20. August 2014].
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