Roger Willemsen

Roger Willemsen (* 15. August 1955 in Bonn † 7. Februar 2016 in Wentorf bei Hamburg) ist ein beliebter deutscher Publizist, Intellektueller, Bundestagsbloßsteller, Mann den man fragen kann und seit 2016 auch Toter aus Westdeutschland. Seine Fähigkeit, Gesprächspartnern in der Regel zehn Schritte voraus zu sein, erlaubte es ihm, Leuten die schlimmsten Beleidigungen mitten ins Gesicht zu lächeln, während die noch dabei waren, seine Begrüßung geistig zu verarbeiten. In seiner Paraderolle als kritischer Journalist betrieb er Woche um Woche Realsatire mit der deutschen Medienlandschaft, traute sich aber auch mal Pipi-Kacka-Themen anzusprechen und Til Schweiger zu berichtigen, wodurch er genug Sympathiepunkte sammelte, damit ihn der Rundfunkrat nicht von den öffentlich-rechtlichen Sendeplätzen warf. Aus Angst, etwas dummes zu machen, hob ihn das deutsche Feuilleton nach seinem Tod im Jahre 2016 in die höchsten Höhen des TV-Olymps und machte ihn zum Vater der Literaturkritik und zum Lehrer Marcel Reich-Ranickis. Roger Willemsen dürfte das sicher gefallen haben. Vermutlich wird er, sobald er weiß, wie man aus dem Jenseits publiziert, auch noch ein Buch darüber schreiben, das Christine Westermann dann vor laufenden Kameras im ZDF nicht verstehen kann.

Roger Willemsen, Passbild mit 12 Jahren

Jugend

Roger Willemsen wuchs in Bonn auf, was schon schlimm genug wäre, wenn seine Eltern nicht beide Sachverständige in der Kunstszene gewesen wären. Willemsen war ein mittleres Kind und brachte praktisch alle Voraussetzungen für ein unmittelbar verstandesbasiertes Rebellentum mit. In seiner Schulklasse machte er sich regelmäßig unbeliebt damit, während der Aufsätze über die schönsten Ferienerlebnisse aufzustehen und seine Mitschüler in theatralischer Pose zu beschuldigen, damit Hegel zu redigieren. Zuweilen korrigierte er die Aussprache der Lehrer bei Diktaten. Auch in seiner Freizeit ließ er gern den Intellektuellen raushängen, bis sein Lehrer Angst hatte, weiter in die Schule zu kommen, weil er nicht mehr kopfüber aus dem Fenster baumeln wollte.

Für seinen leicht abschätzigen Habitus und dafür, dass er mit 6 Jahren bereits das Gesicht eines 40jährigen Langzeitstudenten besaß, hatten ihn anfangs die Schulhofschläger auf dem Schirm, die Willemsen regelmäßig in den Schulranzen kackten, sein Taschengeld nahmen und seine probiotischen Joghurts klauten. Willemsen wurde jedoch nicht lange von diesen Barbaren belästigt, deren unterschwellige Aggressionen er solange mit ihrem sozial schwachen Elternhaus in Verbindung brachte, bis sie vor ihm auf dem Boden saßen und bitterlich weinten. Dann nahm er ihnen sein gesamtes Taschengeld mit hypothekarischer Schuldverschreibung, Zins und Zinseszins wieder ab und kaufte sich davon Ratgeber über Schulmobbing, die er allesamt in einschlägigen Fachzeitschriften rezensierte.

Mit 10 1/2 machte Willemsen sein Abitur, um nicht aufs Gymnasium gehen zu müssen und seine Zeit lieber damit zu verbringen, brüskierte Leserbriefe an große deutsche Tageszeitungen zu schreiben und sich über die dortigen Journalisten aufzuregen. Um sich etwas zu beweisen, holte er seinen Abschluss mit 18 nochmal nach, diesmal saß er aber bereits in der Landeskommission, die die Fragen für seinen Abiturtest zusammenstellte.

Endjugend

Roger Willemsen studierte als Heranwachsender mit Absicht alles, worin man keinen Beruf findet, um die entsprechenden Studienfächer aufzuwerten. In seiner Studienzeit las er als einziger deutscher Intellektueller Robert Musil zweimal komplett durch, während er nebenher noch eine vollständige wissenschaftliche Abhandlung über die sozialpsychologischen Implikationen der Serie Friends in der postmodernen Gesellschaft schrieb. Das alles schaffte er in einer Semesterpause, in der er als Nachtwächter in Bibliotheken und Museen ständig vor dem Kofferfernseher hing. Oftmals eignete sich Willemsen dort sogar Wissen an, ohne zu bezahlen und nahm es mit nach Hause.

Unmittelbar nach dem Studium gab er seine Dissertation ab, die er mit zwölf Jahren nebenher begonnen hatte und verreiste von den Stipendiengeldern anschließend drei Jahre nach London, wo er als Korrespondent arbeitete und wiederum in andere Länder verreiste, um dort Journalisten zu zeigen, wie sie ihre Arbeit zu machen haben. Sein Engagement zeichneten einfallslose deutsche Universitätsdekane mit einer Veränderung der Studienordnung und späterer Berufsprofile aus, nach denen nun Auslandsaufenthalte und Trinken in französischen Studentenheimen ein dringendes Muss für die intellektuelle Weitsicht der heranwachsenden Bildungselite wurde.

Lesen und in die Menge zeigen, zwei Sachen, die Roger Willemsen praktisch erfunden hat

Willemsen indes dachte nach der Promotion über Selbstmord nach und schrieb schließlich auch ein Buch darüber, eigentlich aber nur, um die westentaschenpsychologischen Selbstmordratgeber aufs Korn zu nehmen und seine Kritik darauf in die aktuelle Literaturtheorie einzubringen. Er wollte es erst "Die Leiden des jungen Roger" nennen, ließ aber dann davon ab, als er merkte, dass in einer zunehmend viraler werdenden Welt sogar bei Selbstmördern das Interesse an der Fachliteratur über Selbstmord immer stärker zurückging. Willemsen war jedoch so vernünftig, seine eigenen Forschungsfelder nie an sich auszuprobieren. Er wäre nicht durch Selbstmord der stumpfen Realität entflohen, nach eigenen Angaben höchstens durch Opium.

Nicht mehr Jugend

Apropos Realitätsflucht. Willemsen merkte Anfang der 90er Jahre, dass er sein aufklärerisches Erziehungsrebellentum auf Dauer nur auf einem gewissen Niveau halten konnte, wenn er genug Menschen mit dem, worüber er nachdachte ratlos machte und entdeckte das Fernsehen für sich.

Selbst die grintigsten Talkgäste brachte Willemsen zum Zuhören

Natürlich war er als Intellektueller schnell berauscht von den Möglichkeiten dieses Mediums und rutschte in die Untiefen der Pay-TV-Talkshow B-Prominenz ab, dessen unrühmliches Ende ein Techtelmechtel mit Sandra Maischberger war. Aber Roger fing sich wieder und begann in seiner Redesendung auf Premiere endlich auch mal mit den Menschen zu talken, die sonst niemand einladen wollte, z.B. international gesuchte Terroristen, mit denen er über Ökumene sprach, Brandstifter, die er über den Beginn der Grillsaison in deutschen Gesamtgemeinden aufklärte oder freizügige Fleischereifachangestellte, die er zu Sodomie interviewte - und zu Nekrophilie. Willemsen war mit seiner Sendung, lange bevor sie eine Woche wurde, bereits der bessere Markus Lanz. Der hätte den Terroristen nach dem Wetter gefragt, den Brandstifter mit dem Fleischergesellen verwechselt und anschließend mit einer unbeteiligten vierten Person über ein Buch zu einem völlig abstrusen Thema gesprochen, das diese nicht geschrieben und er nicht gelesen hätte. Anders als Lanz bemühte sich Willemsen hingegen nicht, seine leicht überhebliche Verachtung der Interviewgäste zu kaschieren. Er ließ jedem Gast die Zeit, sich selbst zu präsentieren, um dann nach kurzer Analyse sein labiles Selbstwertgefühl zu zertrümmern. Der Gast fing mit Sympathiepunkten im zweistelligen Minusbereich an und konnte sich zur Null steigern, wenn es gut lief. Wenn dann wieder einer weinend vor ihm auf dem Boden lag, genehmigte sich Roger aus dessen Brieftaschen einen kleinen Taschengeldvorschuss auf sein Moderatorengehalt.

Mit Willemsens Woche spezialisierte sich Willemsen dann darauf, Desiderate des deutschen Feuilletons zu füllen. So war ihm vor seinem bekannten Focus-Interview aufgefallen, das zwar jeder den Fokus als jämmerliches Medium der Buntekonkurrenzpresse verachtete, aber bisher eigentlich kein Grund dafür bestand. Den lieferte Willemsen, als er mit einer stoischen Ruhe vor dem Focus-Chefredakteur Artikel aus dem Spiegel über verfälschte Darstellungen im Focus verifizierte. Ernüchert von so viel Sachlichkeit mussten deutsche Printmedien ihre Umsatzzahlen fortan allein von Willemsens Wohlwollen abhängig machen. Dazu musste Willemsen nicht mal sprechen: die Neun Live-Redaktion starrte er mit einem verständnislosen Blick durch ein Fenster im Konferenzsaal in die Pleite.

Entropie

Willemsen (links) ließ zum Schluss andere Leute, wie diese 1,80 m große Frau, seine Reden halten

Auf Willemsens recht erfolgreiche Wochen folgte ein ganzes Fass voller Genitiv-Formate wie Willemsens wichtige Leute, Willemsens Wichtigtuerei, Willemsens weißblaue Geschichten, Willemsens Wanderfalkenzuchtstation und Willemsens Wurstsalat, schließlich Willemsen wills wissen und wie der Willemsen so der Gast - von und mit Roger Willemsen. Dafür, dass Willemsen in der deutschen TV-Landschaft alles richtig machte, prägte er sogar einen eigenen Begriff: Alles Roger. Tauchte Willemsen in einer anderen Fernsehsendung auf, ließ er es sich aus gewohnheitsmäßiger Masche nicht nehmen, seine Mitgäste oder den Moderator schüchtern zu korrigieren und im Zweifel auch selbst die Sendung durch exzessives Umherwerfen mit bedrohlicher Hochsprache zu übernehmen, während vor allem die junge Generation von Talkshowgästen gebannt und nickend an seinen Lippen hing und sich überlegte, in welchem Weltbild-Shop sie ihr nächstes Fachwörterbuch kaufen sollte. Irgendwann war Willemsen so meta, dass er mit Reich-Ranicki nicht mehr über Literatur sprach, sondern über Helmut Karasek.

Willemsen fungierte zunehmend als intellektueller Motor für die Twittergeneration unter den Late Night-Talkern, die aus den Friseur- und Metzger-Azubis des ehemaligen VIVA-Stabs hervorgingen und nun etwas pesudowissenschaftlichen Nährstoff für ihre TV-Abstiegskarriere suchten. Von Kuttner bis Böhmermann bumste sich Willemsen mit flotten Aphorismen über die scheinwerfergegerbten Trapeze der Indie-Hochglanzformate, um unter einer Horde verstandesmäßiger Schnellhefter den Universalgelehrten zu mimen.

Willemsen hatte auch ein offenes Ohr für den kleinen Mann.

Doch das wurde ihm bald fad und da Willemsens Wöchnerin noch auf sich warten ließ, widmete er sich immer stärker einem lohnenden massentauglichen Feld der Forschung: der Alltagsphilosophie, Sozialwissenschaften genannt. Darin suchte sich Willemsen über viele Monate eines der banalsten und alltäglichsten, aber auch stumpfesten Forschungsobjekte dews Landes aus: den Bundestag. Durch ethnologisch-soziologische Kaleidoskope, mit denen er auch den letzten Popel in der Nase eines Mecklenburger CDU-Abgeordneten analysieren konnte, machte Willemsen die Debatten im deutschen Bundestag zu etwas, was sie vor und nach ihm nicht waren: intellektuell anspruchsvoll. Um der Gefahr zuvorzukommen, dass 61,8 Millionen seinem Beispiel folgen und dabei erschreckt und ernüchtert zu der Erkenntnis gelangen, dass die Demokratie abzuschaffen sei, schrieb Willemsen ein auflagenstarkes Buch über seine verkrafteten Erfahrungen und verkaufte sie geschickt als Satire.

Indes beteiligte sich Roger auch an vielen wohltätigen Stiftungen und Organisationen, buk eigenhändig 20.000 Unzen Brot für die Welt, finanzierte das Ebolahelferhelfer-Projekt Helfen steckt an mit und unterstützte bis zu seinem Tod den Bund des deutschen Dauerwellenerhalts, dessen wesentlicher Träger er selbst war.

Tod

Im Februar 2016 fiel Roger Willemsen beim Gehirnjoggen in einen Teich und wurde von einem Krebs getötet. Die Kommission zum Schutz gefährlicher Krusten- und Schalentiere zeigte sich entsetzt - schon wieder. Nicht nur, weil er wesentlich weniger arrogant war als Harald Lesch machte ihn das ZDF unmittelbar nach seinem Tod zum Lieblingsintellektuellen des deutschen Bildungsfernsehens. Hält man sich allerdings Alternativen wie Dennis Scheck oder Maxim Biller vor Augen, so war es auch nur zu verständlich einer Leiche hier den Vorzug zu geben. Plötzlich wimmelte es in den Reihen der Bildungsmittelschicht von heimlichen Bewunderern, die den Genius Willemsens in Bausch und Bogen lobten, weil er irgendwas gemacht hatte und bekannt war und das Fernsehen über ihn berichtete, dass er klug gewesen sei. Bald schon dürften erste Roger Willemsen-Hausaufgabenhefte gedruckt werden, die ersten Roger Willemsen-Gesamtschulen entstehen und Grundschulkinder Roger Willemsen-Fleißsticker auf ihre Schulaufgaben geklebt bekommen. Vielleicht wird eines Tages sogar ein Gebäckstück nach ihm benannt - das Rogerbrot.

Roger Willemsen dürfte diese Fehlentwicklungen mit süffisantem Wohlwollen betrachten, zumindest so lange, bis er wieder ins Diesseits zurückkehrt entwerder, weil er seinen Tod nicht annimmt oder weil er Gott schlüssig auseinandergesetzt hat, warum es eigentlich gar keinen Himmel geben kann.

Dinge, die Roger Willemsen glücklicherweise noch gesagt hat

  • „Die Assoziation ist: Wurst gleich Frau
  • Klaus Kinski war ein Mann, der, glaube ich, eine narzistische Störung hatte“
  • „'68 sind Sie in die FDP gegangen und die Studenten auf die Straße“ (zum Focus-Chefredakteur Markstrom, nachdem er ihm eine Filmszene über sexuelle Belästigung junger Frauen gezeigt hatte, in der Markstrom mitgespielt hatte)
  • D„as ist ein Kernzeichen des männlichen Charakters. Er geht in die Zelle und seufzt, das ist die einzige Sitaution in der Männer wirklich existentiell transzendentale Obdachlosigkeit empfinden“ [...] „Das hat nichts mit Verdauung zu tun, - sie seufzen.“
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